Russlands Reaktionen auf die westlichen Abwehrsysteme – oder Abschreckung als harte Währung im Weltneuordnungskrieg

Russlands Reaktionen auf die westlichen Abwehrsysteme – oder Abschreckung als harte Währung im Weltneuordnungskrieg

Russlands Reaktionen auf die westlichen Abwehrsysteme – oder Abschreckung als harte Währung im Weltneuordnungskrieg

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Politik ist mehr als aktuelle tagespolitische Debatten und Entscheidungen. Diese sind nicht selten Ergebnisse vorausgegangener Ereignisse. Diese Ereignisse können Jahrzehnte zuvor stattgefunden haben. In diesem Kontext sind auch die Vorstellung neuester russischer Großwaffensysteme wie Poseidon, Burewestnik, Kinshal, Oreschnik, Zircon und Awangard zu verstehen. Von Alexander Neu.

Im Jahre 1972, mitten im Kalten Krieg 1.0, trat der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missile – ein Vertrag zur Regelung von Raketenabwehrsystemen) zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA in Kraft. Dieser Vertrag regelte die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen für beide Supermächte. Er war zeitlich nicht begrenzt, jedoch einseitig kündbar. Auf den ersten Blick mag es befremdlich wirken, dass es einen Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, also einen Vertrag über ein vornehmlich defensives Waffensystem gibt. Die Erklärung für diesen auf den ersten Blick seltsam anmutenden Ansatz ergibt sich durch die Wahrung der Nuklear-„Strategischen Stabilität“. Es sollten nur wenige Raketenabwehrsysteme zur Bekämpfung strategischer ballistischer Trägersysteme – hier ICBMs (Strategische Interkontinentalraketen) entwickelt und in Dienst gestellt werden. Man einigte sich darauf, dass entweder ein ICBMs-Stationierungsraum jeweils in den USA und in der UdSSR oder die jeweilige Hauptstadt – Washington und Moskau – von ABM-Systemen geschützt werden sollten. Die übrigen großen Territorien jenseits dieser punktuellen Schutzräume sollten offen, also der Gefahr eines effektiven Nuklearschlages ausgesetzt bleiben.

Dieser auf den ersten Blick absurd anmutende Ansatz ist mit der Doktrin der „mutual assured destruction“ (MAD-Doktrin) zu erklären: die gegenseitig gesicherte Vernichtung beider nuklearer Supermächte angesichts der nuklearen Zweitschlagsfähigkeit, der Vergeltungsfähigkeit, des angegriffenen Staates. Sie war und ist immer noch oder vielleicht sogar wieder (Stichwort neue russische Großwaffensysteme) tatsächlich ein Stabilitätsmechanismus – pervers, aber in der nuklearen Logik wirksam. Die Abschreckung scheint unter realpolitischer Perspektive nach wie vor die härteste Währung zu sein – scheitert die Diplomatie, so ist die nukleare Abschreckung die letzte Schutzmauer zur Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates. Hätte Jugoslawien über Atomwaffen verfügt, bestünde der Staat wahrscheinlich immer noch in den Grenzen seiner Gründung – zumindest aber hätte die NATO das Land 1999 nicht angegriffen. Nachdem der Kalte Krieg ab 1989/91 eine kurze Pause einlegte, der US-geführte Westen den Ost-West-Konflikt für sich entschied, der Warschauer Pakt aufgelöst und die Sowjetunion in Trümmern lag, sah man in den USA nicht mehr die Notwendigkeit, das ABM-Vertragswerk aufrechtzuerhalten. Das neue Ziel war es, die USA möglichst umfassend unverletzbar zu machen, um ihre Globaldominanz ohne Risiko für die USA selbst militärisch ausbauen und sichern zu können. Dafür mussten dann irgendwelche drittrangigen „Schurkenstaaten“ („rogue states“) als Argument herhalten. Hier kamen argumentativ die Terroranschläge vom 11. September 2001 der Bush-Administration durchaus gelegen. Sie dienten als Beweis, dass es neue Bedrohungen gebe, denen man etwas entgegensetzen müsse, und der ABM-Vertrag entsprechende sichernde Maßnahmen behindere.

Zunächst kündigten die USA unilateral den ABM-Vertrag 2001, der 2002 dann endete. Damit hatte Washington eines der wichtigsten Rüstungskontrollabkommen vernunftwidrig und getrieben durch die eigene Hybris aufgekündigt. Warum noch „Strategische Stabilität“, wo doch der Hauptgegner weg ist? Die absolute Handlungsfreiheit wurde zur Handlungsmaxime des US-geführten Westens während der kurzen Periode der unipolaren Weltordnung.

Die USA begannen alsbald mit der Entwicklung von Abwehrsystemen. Sie beharrten darauf, dass diese auch in den europäischen NATO-Staaten aufgebaut werden müssten. Zunächst zauderten einige europäische NATO-Staaten – auch in Deutschland gab es nur eine überschaubare Begeisterung. Die Debatten konnte ich im Verteidigungsausschuss verfolgen. Mit dem NATO-Gipfel 2012 in Chicago wurde dann plötzlich das US-Raketenabwehrsystem zu einem NATO-Raketenabwehrsystem, und im Verteidigungsausschuss waren natürlich fast alle Fraktionen dafür. Wir erhielten Landkarten mit Abfangreichweiten der US- und nun NATO-Abwehrsysteme, die beweisen sollten, dass diese sich nicht gegen Russland richteten, sondern gegen den Iran und vielleicht auch gegen Nordkorea. Moskau wiederum protestierte bereits gegen das US-NATO-Raketenabwehrsystem, da es seine nuklearen Zweitschlagsfähigkeiten zu bedrohen schien. Washington jedoch beteuerte, es richte sich nicht gegen Russland, sondern nur gegen den Iran und andere „Schurkenstaaten“.

Daraufhin testete Moskau 2007 Washington mit einem einfachen Angebot: Die Russen boten an, Aufklärungsfähigkeiten mit denen der NATO zu teilen. Konkret sollte der Luftraum südlich von Russland durch bereits in Aserbaidschan (Standort: Gabala) stationierte russische Frühwarnradarsysteme gemeinsam mit der NATO überwacht werden. Russland sah mit diesem Angebot die Notwendigkeit der Stationierung von US-Abwehrsystemen als nicht mehr notwendig an. Allerdings ist die Aufklärung von Raketenstarts das eine und das Abfangen von Raketen das andere. Letzteres bot Moskau nicht an. Erwartungsgemäß lehnten die USA das Angebot der gemeinsamen Nutzung des russischen Frühwarnradarsystems mit meiner Meinung nach fadenscheinigen Begründungen ab. Letztlich wollten die USA dieses Raketenabwehrsystem in Europa ohne jegliche Beteiligung Russlands, um sich die Entscheidungshoheit über den Einsatz von Raketenabwehrsystemen nicht teilen zu müssen. Zwischenzeitlich wurden zwei Raketenabwehrsysteme im rumänischen Deveselu (2016) und im polnischen Redzikowo (2024) aufgebaut. Hinzu kommen seegestützte AGIS BMD-Systeme im Mittelmeer. In Ramstein (Deutschland) befindet sich die NATO-Kommandozentrale für die Koordination der Raketenabwehr (Ramstein wäre auch aufgrund der NATO-Kommandozentrale im Ernstfall ein prioritäres Ziel russischer Schläge). Obschon die Kommandozentrale offiziell eine NATO-Einrichtung ist, behalten sich die USA die Kontrolle über den Einsatz der Abwehrraketen einseitig vor – also US-amerikanischer Entscheidungsvorbehalt auf deutschem Boden. Der Konflikt mit Moskau über diese Raketenabwehrsysteme hat zwei Ebenen:

Erstens: Die Russen erklären, dass sich das System auch gegen sie, sprich die russischen Zweitschlagsfähigkeiten richte. Mit anderen Worten: Sollte das US-NATO-Raketenabwehrsystem gegenüber den bis vor Kurzem vorhandenen russischen Fähigkeiten funktionieren, so könnten die USA jederzeit, ohne effektiven russischen Gegenschlag fürchten zu müssen, einen Enthauptungsschlag der russischen politischen und militärische Führung sowie der militärischen Fähigkeiten führen. Selbst wenn die USA dies faktisch nicht beabsichtigten, würden allein die Fähigkeiten der USA, dies tun zu können, wie ein Damoklesschwert über Russland schweben. Russlands Souveränität wäre aufgrund der potenziellen Neutralisierung seiner nuklearen Zweitschlagsfähigkeit sodann ebenfalls zerstört, weil erpressbar.

Zweitens: Das aufgestellte Startsystem, das MK-41, für die Raketenabwehr könne auch für Angriffssysteme wie die „Tomahawk“ genutzt werden. Es bedürfe nur einer anderen Software, so die Argumentation.

Für die russische Seite ergaben sich daraus drei Handlungsoptionen:

Erstens: Akzeptanz der Stationierung des US-NATO-Raketenabwehrsystems ohne russische Gegenmaßnahmen in der Hoffnung, die USA würde es nicht – weder politisch noch militärisch – gegen Russland einsetzen.

Diese Option wäre die naive Variante, die sich gegen alle Annahmen der politischen Theorie des Realismus richteten.

Zweitens: Die Zahl der russischen Trägersysteme zu vervielfachen in der Hoffnung, dass im Ernstfall doch einige von ihnen die Raketenabwehr überwinden könnten und somit zumindest eine Teil-Zweitschlagsfähigkeit erhalten bliebe.

Diese Option ist zu vage und sehr kostenintensiv.

Drittens: Die Entwicklung neuer Waffensysteme, die die physikalischen Gesetzmäßigkeiten herausfordern würden.

Diese Option war ebenfalls vage, da die physikalisch-wissenschaftlichen Herausforderungen enorm und sodann deren Ergebnisse nicht unbedingt aussichtsreich hätten sein müssen.

In Moskau fiel die Entscheidung für die dritte Option – die Forschung und Entwicklung sowie dann die Beschaffung und Inbetriebnahme neuer Typen von Waffensystemen, die in der Lage sind, die westliche Luftabwehrsysteme zu überwinden – entweder durch Hyperschallgeschwindigkeit (ab Mach 5., d.h. ab 6.200 Kilometer pro Stunde) oder durch einen Dauereinsatz und die damit verbundene Flexibilität, überall und jederzeit undetektiert zuschlagen zu können: die Hyperschallwaffen Kinshal, Awangard, Zirkon, Oreschnik sowie die nukleargetriebene Luftdrohne Burewestnik und ebenfalls nukleargetriebene Seedrohne Poseidon.

Im Folgenden sollen die technischen Fähigkeiten der neuen russischen Waffensysteme – auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Daten – skizziert werden, um aufzuzeigen, worum es in der gegenwärtigen Debatte genau geht.

Kinshal

  • Typus: luftgestützte Hyperschallrakete (Trägersystem), transportiert von der MiG-31
  • Geschwindigkeit: Mach 10 laut russischer Angabe und Mach 5 nach westlichen Einschätzungen
  • Flugbahn: horizontal mit Manövrierfähigkeiten, d.h. kann die Flugbahn ändern, um Abwehrsystemen auszuweichen
  • Sprengkopf: konventioneller und nuklearer Sprengkopf
  • Reichweite: bis zu 2.000 Kilometer
  • Einsatzzweck: militärische Infrastruktur wie Kommando- und Kommunikationsstrukturen, Militärflughäfen, Raketenabwehrsysteme, militärische Lager- und Produktionsstätten des Gegners
  • Indienststellung: 2017 bis 2019

Zirkon

  • Typus: see- bzw. schiffsgestützte Hyperschallmarschflugkörper
  • Geschwindigkeit: Mach 8 – 9
  • Flugbahn: Marschflug, d.h. 30 – 40 Kilometer horizontal über Meeresspiegel
  • Sprengkopf: konventioneller und nuklearer Sprengkopf
  • Reichweite: 250 – 500 Kilometer
  • Einsatzzweck: Bekämpfung seegestützter Plattformen (Schiffe) sowie seenaher Ziele auf dem Festland
  • Indienststellung: 2023

Awangard

  • Typus: Stratosphären-Hyperschallgleiter – transportiert von Interkontinentalrakete
  • Geschwindigkeit: Mach 20 – 27
  • Flugbahn: zunächst ballistische Flugbahn, dann wellenförmige Flugbahn auf den oberen Atmosphärenschichten mit Manövrierfähigkeiten
  • Sprengkopf: konventioneller und nuklearer Sprengkopf
  • Reichweite: interkontinentale Reichweite
  • Einsatzzweck: Bekämpfung strategischer Hochwertziele wie Kommando- und Führungsstrukturen sowie nukleare Fähigkeiten des Gegners
  • Indienststellung: 2019

Oreschnik

  • Typus: bodengestützte mobile (LKW) Mittelstreckenrakete
  • Geschwindigkeit: Mach 10
  • Flugbahn: Rakete fliegt ballistisch und Gefechtsköpfe sollen manövrierfähig sein
  • Sprengkopf: bis zu sechs konventionelle und nukleare Sprengköpfe
  • Reichweite: bis zu 5.000 Kilometer
  • Einsatzzweck: Bekämpfung strategischer Hochwertziele wie Kommando- und Führungsstrukturen über eine sehr große Entfernung
  • Indienststellung: 2024

Poseidon

  • Typus: Unterwasserdrohne – transportiert von U-Booten
  • Geschwindigkeit: 100 – 200 km/h, je nach Quelle
  • Sprengkopf: nuklearer Sprengkopf
  • Reichweite: bis zu 1.000 Meter Tiefe und angesichts des nuklearen Antriebssystems (ein Minikernkraftwerk) im Prinzip unbegrenzt – System kann theoretisch jahrelang in den Ozeanen lauern bis zum nuklearen Einsatzbefehl
  • Einsatzzweck: strategische Abschreckung, Marinestützpunkte und Küstenstädte durch Erzeugung eines durch Nuklearbomben motivierten Tsunami
  • Indienststellung: geplant 2026/27

Burewestnik

  • Typus: Marschflugkörper
  • Geschwindigkeit: 1.200 – 1.300 km/h, je nach Quelle
  • Flugbahn: Marschflug, d.h. 25 – 100 Meter horizontal über der Bodenlinie
  • Sprengkopf: primär nuklearer, aber auch möglicherweise konventioneller Sprengkopf
  • Reichweite: angesichts des nuklearen Antriebssystems (ein Minikernkraftwerk) im Prinzip unbegrenzt – System kann theoretisch jahrelang im Luftraum lauern bis zum nuklearen Einsatzbefehl
  • Einsatzzweck: strategische Abschreckung und Bekämpfung strategischer Ziele
  • Indienststellung: noch ungeklärt, da Testphasen laufen

Fazit

All diese neuen Waffensysteme sind nicht nur ein einfaches Abschreckungsmittel, sondern erschüttern, sofern sie die Leistungsmerkmale – wie sie öffentlich durch Russland dargestellt werden – und den damit einhergehenden Zweck der Umgehung der westlichen Abwehrsysteme erfüllen, das bisherige Strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland nicht zu Gunsten der USA.

Die USA versuchten ohne Nöte, jedoch getrieben durch die eigene Hybris, sich mit der Aufkündigung des ABM-Vertrages einen Vorteil zu verschaffen, das Strategische Gleichgewicht zu ihren Gunsten nachhaltig zu verändern und somit die unipolare Weltordnung, die „Pax Americana“, auf unbestimmte Zeit zu zementieren. Russlands diplomatische Versuche, die USA weiter an den ABM-Vertrag zu binden, um die Strategische Stabilität zu wahren, blieben erfolglos. Ganz nach dem Motto „the winner takes it all“ wurden sämtliche russischen Bedenken beiseitegeschoben.

Nun jedoch offenbart sich, dass das unilaterale US-amerikanische Vorgehen gewaltig nach hinten losgeht. Nun sind vielmehr die USA umgekehrt mit der Situation konfrontiert, dass die russischen Antworten – das Umgehen der westlichen Abwehrsysteme durch völlig neue Waffensysteme – Washington und die von ihr geführte NATO in Bedrängnis bringen. Es zeigt sich erneut, dass ein überlegenheitsideologisch motoviertes Denken, oder vielleicht besser gesagt Nicht-Denken, nicht immer unmittelbar, sondern mitunter erst Jahre oder Jahrzehnte später Konsequenzen nach sich ziehen kann – Konsequenzen, die man auch hätte antizipieren können, wenn man ungeblendet von der eigenen Hybris einen klaren realpolitischen Blick beibehalten hätte.

Es bleibt zu hoffen, dass die Trump-Administration zumindest jetzt erkennt, dass es auch im Interesse der USA ist, zumindest den im Februar 2026 auslaufenden START-Vertrag – den letzten Rüstungskontrollvertrag – mit Russland zu erneuern, um einen erneuten Rüstungswettlauf im nuklearstrategischen Bereich zu verhindern.

Titelbild: Shutterstock / Bordovski Yauheni

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!

Beitrag versenden

Sie kennen jemand der sich für diesen Beitrag interessieren könnte?
Dann schicken Sie ihm einen kleinen Auszug des Beitrags über dieses Formular oder direkt über Ihr E-Mail-Programm!