Blick aus dem Globalen Süden: Kerala hat die extreme Armut abgeschafft

Blick aus dem Globalen Süden: Kerala hat die extreme Armut abgeschafft

Blick aus dem Globalen Süden: Kerala hat die extreme Armut abgeschafft

Ein Artikel von Vijay Prashad

Kerala ist es in den letzten Jahren als einzigem indischen Bundesstaat gelungen, die extreme Armut zu beseitigen. Wie wurde das erreicht? Unter anderem durch eine klare öffentliche Politik, dezentrale Planung und eine umfassende Genossenschaftsbewegung. Von Vijay Prashad.

Liebe Freunde,

herzliche Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.

Am 1. November 2025 wurde der südwestindische Bundesstaat Kerala – in dem 34 Millionen Menschen leben – von Regierungschef (Chief Minister) Pinarayi Vijayan für frei von extremer Armut erklärt. Kerala ist nach China, das 2021 verkündete, dass es die extreme Armut landesweit beseitigt hat, einer der wenigen Orte weltweit, an dem dies erreicht wurde.

Die Errungenschaft Keralas ist aus zwei Gründen von Bedeutung. Erstens ist Kerala in einem Land, in dem Hunderte Millionen Menschen immer noch in Armut leben, der einzige der 28 Bundesstaaten und acht Unionsterritorien Indiens, der die extreme Armut überwunden hat. Zweitens wird Kerala von der von Kommunisten geführten Linken Demokratischen Front (LDF) regiert, und ihm wird daher regelmäßig die Unterstützung durch die von der rechtsgerichteten Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei) geführte Zentralregierung verweigert.

Keralas Projekt zur Beseitigung extremer Armut (EPEP) entstand auf der Grundlage jahrzehntelanger Kämpfe von Arbeitern und Bauern, die starke öffentliche Institutionen und Massenorganisationen geschaffen haben, sowie der Arbeit mehrerer linker Regierungen. Das EPEP wurde von Vijayan – einem Führungsmitglied der Kommunistischen Partei Indiens (Marxisten) – während der ersten Kabinettssitzung der von ihm geführten zweiten LDF-Regierung im Mai 2021 auf den Weg gebracht.

Nach einem streng auf Kriterien basierenden Prozess, der sich auf den Zugang der Haushalte zu Beschäftigung, Nahrung, Gesundheit und Wohnraum konzentrierte, identifizierte die Regierung 64.006 Familien (oder 103.099 Personen) als extrem arm. Um diese Erhebung durchzuführen, stützte sich die Regierung auf etwa 400.000 Zähler – darunter Regierungsangestellte, Genossenschaftsmitglieder und Mitglieder der Massenorganisationen linker Parteien –, um die besonderen Probleme zu ermitteln, mit denen arme Familien konfrontiert sind.

Diese Zähler erstellten für jede Familie maßgeschneiderte Pläne – von der Sicherung von Ansprüchen und dem Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen bis hin zur Beschaffung von Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Unterstützung für den Lebensunterhalt –, um ihre Stärke im Kampf gegen die Armut zu fördern.

Die Genossenschaftsbewegung spielte in dieser Kampagne eine grundlegende Rolle. Der Planungsprozess zur Armutsbekämpfung wäre ohne die Rolle des lokalen Selbstverwaltungssystems, das Ergebnis der erfolgreichen Dezentralisierung der Macht in Kerala, nicht möglich gewesen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Newsletters finden in Kerala gerade neue Kommunalwahlen statt.

In den letzten Jahren hat das Tricontinental: Institute for Social Research eng mit dem Forschungszentrum der Uralungal Labour Contract Cooperative Society (UL) zusammengearbeitet, um Wissen über die Genossenschaftsbewegung in Kerala aufzubauen. Wir sind sehr stolz darauf, unsere gemeinsame Studie „Die Genossenschaftsbewegung in Kerala, Indien“ einen Monat nach der Erklärung Keralas zur Beseitigung der extremen Armut zu veröffentlichen.

Unsere Studie stellt sechs verschiedene Genossenschaften vor, mit Beiträgen, die von Wissenschaftlern recherchiert und verfasst wurden, die eng mit ihnen zusammengearbeitet haben. Einer von ihnen konzentriert sich auf Kudumbashree, eine reine Frauenkooperative mit fast fünf Millionen Mitgliedern, die eine wichtige Rolle bei der Umsetzung des EPEP gespielt hat.

Keralas erste demokratische Regierung, die 1957 ihr Amt antrat, wurde von Kommunisten geführt. Sie begann sofort mit der Durchführung eines Programms zur Agrarreform, einschließlich Landumverteilung, und mit dem Ausbau universeller Sozialgüter wie öffentlicher Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Bibliotheken.

Diese Demokratisierung des ländlichen Raums in Verbindung mit einer anhaltenden sozialen Mobilisierung beschleunigte den Weg von Millionen Menschen in Kerala zu sozialen Indikatoren, die weltweit Beachtung finden: nahezu vollständige Alphabetisierung, sehr niedrige Säuglings- und Müttersterblichkeit, hohe Lebenserwartung und einige der höchsten Werte für die menschliche Entwicklung in Indien. Diese Investitionen, die über Jahrzehnte hinweg getätigt wurden, schufen die Voraussetzungen für die Beseitigung der Armut, lange bevor die gezielten Programme ins Leben gerufen wurden.

Kommunistisch geführte Koalitionen regierten Kerala von 1957 bis 1959, 1967 bis 1969, 1980 bis 1981, 1987 bis 1991, 1996 bis 2001, 2006 bis 2011 und von 2016 bis heute. Selbst wenn die Linke nicht an der Macht war, stellte die soziale Mobilisierung durch die Linke sicher, dass rechtsgerichtete Regierungen diese Errungenschaften nicht vollständig rückgängig machen konnten.

Mit dem Erstarken des neoliberalen Modells der Schuldenkonsolidierung in den 1990er-Jahren wuchs der Druck auf die LDF-Regierung, einige dieser Projekte rückgängig zu machen und Privatisierungen durchzuführen. Die LDF entschied sich jedoch für einen anderen Weg.

Durch die 1996 ins Leben gerufene People’s Plan Campaign for Decentralised Planning (Volkskampagne für dezentrale Planung) übertrug die Regierung 40 Prozent der Staatsausgaben an lokale Verwaltungen und forderte diese auf, den Bedarf zu ermitteln, Programme zu entwerfen und Budgets für Entwicklungsprojekte zuzuweisen. Anstatt eine einheitliche Agenda für Entwicklung und Armutsbekämpfung zu entwickeln, schufen die Menschen in Kerala lokal geplante und kontextspezifische Projekte, die sich auf die Emanzipation ausgebeuteter und marginalisierter Gemeinschaften konzentrierten, darunter Angehörige indigener Völker (Adivasis), der untersten sozialen Schichten (Dalits) und Küstengemeinden. Die Kampagne schuf eine Kultur der demokratisierten Sozialpolitik und beförderte ein dichtes Netzwerk von öffentlichen Einrichtungen und Genossenschaften – allesamt entscheidend für das EPEP.

Als er das Ende der extremen Armut in Kerala verkündete, stellte Chief Minister Vijayan das EPEP als Fortsetzung dieses langen Weges vor. Er verwies auf mehrere Initiativen, die den Weg für das Programm geebnet hatten, darunter die Universalisierung des öffentlichen Verteilungssystems, das subventionierte Lebensmittel und Kraftstoffe bereitstellt, sowie langfristige Bemühungen zur Beseitigung von Landlosigkeit und Wohnungslosigkeit, darunter die LIFE-Mission, die weit über 400.000 Familien im ganzen Bundesstaat mit Wohnraum versorgt hat.

Zu diesen können wir weitere Säulen des Modells von Kerala hinzufügen – staatliche Programme, die die öffentliche Gesundheitsversorgung, die Lebensmittelverteilung, die Unterstützung im Bildungsbereich und Beschäftigungsmöglichkeiten erweitert haben, und nicht zuletzt die Genossenschaften. Zusammen haben diese Initiativen das soziale Leben in Kerala verändert und den Charakter seiner linken Bewegung gestärkt.

Unsere Studie mit dem UL Research Centre bietet einen Einblick in die verschiedenen Genossenschaften, die eine Schlüsselrolle bei der Demokratisierung der Wirtschaft Keralas gespielt haben. Kudumbashree, was auf Malayalam „Wohlstand der Familie” bedeutet, wurde 1998 als Teil der Mission des Bundesstaates zur Beseitigung der Armut gegründet und ist heute das größte Netzwerk für gegenseitige Hilfe von Frauen weltweit.

Es baut auf eine transformative Idee auf: Wenn Frauen auf Haushalts- und Gemeindeebene ihr Selbstvertrauen und ihre Fähigkeit zur Bewältigung des Wirtschaftslebens stärken, kann sich der Schwerpunkt der Entwicklung von patriarchalischen Institutionen hin zu den Bedürfnissen berufstätiger Frauen verlagern. Kollektivfarmen, Gemeinschaftsküchen, genossenschaftliche Initiativen zur Kompetenzentwicklung und andere Formen gemeinschaftlicher Unternehmungen haben es den Frauen von Kudumbashree ermöglicht, ihr Einkommen zu steigern und sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben Macht aufzubauen.

Kudumbashrees Schwerpunkt auf Solidarität statt Wettbewerb und auf kollektivem statt individuellem Unternehmertum unterscheidet es von marktorientierten Strategien zur Armutsbekämpfung. Kürzlich kündigte die Regierung von Kerala ein Soziales Sicherungssystem für Frauen (Women’s Security Scheme) an, das auf der Notwendigkeit basiert, den Wert unbezahlter Hausarbeit anzuerkennen. Anspruchsberechtigte Frauen zwischen 35 und 60 Jahren erhalten 1.000 Rupien pro Monat. Eine solche Initiative ist Teil der allgemeinen Bemühungen, die patriarchalischen Eigentumsverhältnisse in Kerala zu verändern.

Kudumbashree ist Teil eines größeren Ökosystems von Genossenschaften, die Keralas Kampf gegen die Armut unterstützen. Zusammengenommen sind diese Initiativen eindrucksvolle Beispiele dafür, was Marx sagte: „Die Lohnarbeit (ist) nur eine vorübergehende und untergeordnete Form, bestimmt, vor der assoziierten Arbeit zu verschwinden, die mit williger Hand, bereitem Geist und freudigem Herzen ihre Arbeit verrichtet.“[1]. Sie zeigen, dass Genossenschaften nicht nur Sicherheitsnetze für die Armen sind, sondern auch Vehikel für demokratische Planung, technologischen Fortschritt und soziale Würde.

Dazu gehören:

  • Die Uralungal Labour Contract Cooperative Society (UL): Die UL wurde 1925 im Norden Keralas als Genossenschaft für Bauarbeiter gegründet, die mit Ausgrenzung aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit konfrontiert waren. Sie hat sich zu einer der größten Arbeiterkooperativen Asiens entwickelt und beschäftigt Zehntausende von Menschen in großen Infrastrukturprojekten. Sie zeigt, wie von Arbeitnehmern kontrollierte Unternehmen komplexe öffentliche Bauvorhaben durchführen und gleichzeitig den sozialen Schutz und das kollektive Wohlergehen ihrer Arbeitnehmer und der umliegenden Gemeinschaften erweitern können.
  • Keralas Netzwerk von Kreditgenossenschaften: Mehr als viertausend Kreditgenossenschaften mit mehreren zehn Millionen Mitgliedern vor allem aus der Arbeiterklasse und marginalisierten Bevölkerungsgruppen arbeiten als „Volksbanken”, die Bereiche erreichen, die private Finanzinstitute nicht abdecken. Indem sie Kreditnehmer vor Geldverleihern schützen, die Landreform verankern und lokale Ersparnisse mobilisieren – auch während der Überschwemmungen 2018 und der COVID-19-Pandemie – sind sie das finanzielle Rückgrat für die Beseitigung der Armut.
  • Die Kerala Dinesh Beedi Workers’ Central Cooperative Society: Sie wurde 1969 gegründet, nachdem private Besitzer von Beedi-Fabriken (Beedi sind dünne, handgerollte Zigaretten) ihre Betriebe geschlossen hatten, anstatt neue Arbeitsschutzmaßnahmen umzusetzen. Dinesh Beedi wurde schnell zum führenden Beedi-Hersteller in Südindien. Die Genossenschaft sicherte ihren Mitgliedern höhere Löhne, soziale Sicherheit und ein reichhaltiges kulturelles Leben. Später diversifizierte sie weg vom Tabak, um Arbeitsplätze in sozial nützlicher Produktion zu erhalten.
  • Die Sahya Tea Cooperative Factory: In der Bergregion von Idukki gründeten kleine Teebauern und Landarbeiter 2017 mithilfe der Thankamany Service Cooperative Bank mit 15.000 Mitgliedern ihre eigene Fabrik und lösten sich damit von den „Big Tea“-Monopolen. Mit einer Verarbeitung von 15.000 Kilogramm Blättern pro Tag und mehr als 150 Beschäftigten sichert Sahya rund 3.500 Teebauern bessere Preise und zeigt, wie kleine Produzenten in der Wertschöpfungskette vorankommen und menschenwürdige Existenzgrundlagen verteidigen können.
  • Die Udayapuram Labour Contract Cooperative Society: In Kodom Belur, einer abgelegenen Dorfgemeinschaft in Kasaragod, gründeten Bewohner, die mit feudalen Grundbesitzverhältnissen, korrupten Beamten und ausbeuterischen Auftragnehmern konfrontiert waren, 1997 eine Arbeitsgenossenschaft. Von etwas mehr als 200 Mitgliedern ist sie auf fast 3.000 angewachsen, darunter viele Adivasis, die nun öffentliche Arbeiten zu transparenten, fairen Bedingungen ausführen und die Prioritäten der lokalen Entwicklung selbst gestalten.

Insgesamt betrachtet zeigen diese Genossenschaften – ebenso wie Kudumbashree – was möglich wird, wenn staatliche Politik, soziale Reformen und organisierte Arbeitnehmer zusammenkommen. Sie tun mehr, als nur die Härten des Marktes abzumildern. Sie organisieren die Produktion nach menschlichen Bedürfnissen neu, vertiefen die Demokratie am Arbeitsplatz und im Ort und bieten einen lebendigen Eindruck von assoziierter Arbeit in der Praxis – von einem möglichen Kommunismus –, selbst unter den harten Bedingungen des zeitgenössischen Kapitalismus, die Programme wie das EPEP notwendig machen.

Die Geschichte der Armutsbekämpfung in Kerala ist nicht ohne Herausforderungen. Der Bundesstaat gehört nach wie vor zur Indischen Union und ist daher anfällig für die Wechselfälle der Politik der rechtsgerichteten Regierung in Neu-Delhi. Wie in vielen Teilen des Globalen Südens sind auch die jungen Menschen in Kerala mit hoher Arbeitslosigkeit konfrontiert und emigrieren oft in die Persische Golfregion und andere Teile der Welt, um Arbeit zu finden. Versuche, neue, hochwertige Produktivkräfte aufzubauen, die es dem Bundesstaat ermöglichen könnten, veraltete Industrien zu ersetzen, werden durch den begrenzten Zugang zu den Steuereinnahmen gebremst, die die Zentralregierung vom Bundesstaat einzieht. Dennoch gibt es fortlaufende Bemühungen, diese Einschränkungen zu überwinden und ein robusteres Wachstumsparadigma für Kerala aufzubauen.

Im Februar 2021 gab Präsident Xi Jinping bekannt, dass fast 99 Millionen Chinesen sich aus der extremen Armut befreit hätten, die letzten Armen des Landes. Das Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern hat dies ein Jahrzehnt vor dem von den Vereinten Nationen in den Zielen für nachhaltige Entwicklung für 2030 festgelegten Termin getan.

Kerala hat sein Ziel ein Jahr vor dem erwarteten Termin erreicht.

Vietnam, ein weiteres Land, das diesem Ziel nahe ist, plant, die extreme Armut bis 2030 zu beenden.

Es ist keine Überraschung, dass alle diese drei Projekte von kommunistischen Parteien geleitet werden, deren Einsatz für die Emanzipation der Menschen sie dazu antreibt, dafür zu arbeiten, dass jeder Mensch ein würdiges Leben führen kann. Die Beseitigung der Armut ist kein Ziel an sich, sondern Teil des langen Weges zur menschlichen Emanzipation – sie ist ein lebendiges gesellschaftliches Projekt und keine Liste von Punkten, die abgehakt werden müssen. Wie Kwame Nkrumah sagte: „Vorwärts immer, rückwärts niemals“.

Mit herzlichen Grüßen
Vijay

Dieser Beitrag ist der 50. Newsletter des Tricontinental: Institute for Social Research, aus dem Englischen übersetzt von Marta Andujo.

Titelbild: AustralianCamera / Shutterstock


[«1] Quelle: Karl Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, 1864, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Band 16, Berlin: Dietz Verlag, 1962, S. 14.

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