Die EU-Außenbeauftragte Kallas bezeichnete unlängst den Sieg von Sowjetunion und China im Zweiten Weltkrieg als „gefährliches Narrativ“. Sie ist nicht die Einzige in der EU, die diese Art Revisionismus betreibt. Das Tricontinental: Institute for Social Research klärt nun mit seiner neuesten Studie, inmitten eines Netzes aus Lügen und Halbwahrheiten, auf: Wider dem Versuch, den Heroismus des Westens im Zweiten Weltkrieg zu preisen bei gleichzeitiger Negierung der entscheidenden Rolle der sowjetischen Armee im Sieg gegen Nazi-Deutschland und des ebenso entscheidenden Beitrags der chinesischen Kommunisten und Patrioten bei der Niederlage des militaristischen Japans. Von Vijay Prashad.
Liebe Freunde,
herzliche Grüße vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 13. November haben wir auf dem Global South Academic Forum in Shanghai, China, unsere neueste Studie veröffentlicht: „Der 80. Jahrestag des Sieges im Weltweiten Antifaschistischen Krieg – Verstehen, wer die Menschheit gerettet hat: Eine wiederherstellende Geschichte“. Hier folgt eine überarbeitete Fassung meiner Rede „Zwei Lügen und eine große Wahrheit“, die ich zur Vorstellung der Studie gehalten habe.
Anfang August 1942 stellten die Sowjets in ganz Leningrad Lautsprecher auf. Die Stadt war seit über 300 Tagen belagert. Die Menschen hungerten. Der Dirigent Karl Eliasberg hielt das Leningrader Radio-Orchester am Laufen, indem er Proben abhielt und seine Musiker persönlich zu den Verpflegungsstellen brachte. Am 9. August versammelte Eliasberg die 15 Überlebenden des Leningrader Rundfunkorchesters und holte dazu einige Mitglieder der Militärkapellen in die Bolschoi-Philharmonie. Sie spielten Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 7 (Leningrader Sinfonie) im Radio und über die öffentlichen Lautsprecher.
Die Sinfonie besteht aus vier Sätzen. Der Erste, ruhig und fast pastoral, erinnert an Leningrad vor dem Krieg. Der Zweite, aufgebaut um ein immer lauter werdendes Ostinato der Trommel, verweist auf die Invasion der Nazis. Der Dritte, angeführt von Streichern und Blasinstrumenten, beklagt das schreckliche Leid des sowjetischen Volkes, von dem Millionen bereits gestorben sind oder sterben. Der letzte Satz in C-Dur, laut und stolz, antizipiert den Sieg über das Böse des Faschismus.
Sie wussten es noch nicht, aber sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Belagerung hinter sich. Vor ihnen lagen noch 536 Tage voller Hunger und Kampf. Es sagt einiges über die schiere Entschlossenheit der sowjetischen Bevölkerung aus, dass sie die Symphonie inmitten der Belagerung aufführten und die Lautsprecher auf die Nazi-Linien gerichtet waren, damit auch die Deutschen sie hören konnten. Im sowjetischen Archiv findet sich ein Satz, der von einem Geheimdienstoffizier geschrieben wurde: „Sogar der Feind hörte schweigend zu. Sie wussten, dass es unser Sieg über die Verzweiflung war.“ Später sagte ein deutscher Gefangener, dass die Symphonie „ein Geist aus der Stadt war, den wir nicht töten konnten“.
Unsere Studie zeigt, dass die sowjetische Rote Armee bei ihrem erstaunlichen Vorstoß durch Osteuropa 80 Prozent der Wehrmacht vernichtet hat. Als die westlichen Armeen sich den Grenzen Deutschlands näherten, war das Nazi-Regime bereits gescheitert.
Es war die sowjetische Rote Armee, die die meisten Menschen in Konzentrationslagern befreite, und es war die wissenschaftliche Vorgehensweise ihres Vormarsches, die die Verbündeten der Nazis in Osteuropa – wie beispielsweise die Rumänen – dazu zwang, zu kapitulieren und die Seite zu wechseln.
Der Grund, warum die Sowjetunion ihre gesamte Stärke gegen die Nazis aufbieten konnte, war, dass die chinesischen Kommunisten und Patrioten die Ostflanke der Sowjetunion gegen Angriffe der japanischen Militaristen verteidigten. Mit unzureichenden Waffen kämpfend, fügten sie den Japanern dennoch enormen Schaden zu, banden 60 Prozent ihrer Armee und hinderten sie daran, sich dem Ansturm der US-Truppen zu stellen, die von Insel zu Insel im Pazifik vorrückten.
Hätten die Chinesen die japanischen Truppen nicht gebunden, wäre die Sowjetunion gefallen, Nazi-Deutschland hätte Europa erobert und die US-Truppen hätten möglicherweise die Schlachten von Saipan (1944) und Iwo Jima (1945) nicht gewonnen.
Die sowjetische Rote Armee und die chinesischen Kommunisten und Patrioten opferten gemeinsam zig Millionen von Menschenleben, um den Faschismus zu besiegen. Die genaue Berechnung ist in unserer Studie dargelegt und reicht von 50 Millionen bis 100 Millionen.
Im Mai 1945, als das Nazi-Regime zusammengebrochen war, war bereits klar, dass der japanische Militarismus auf dem Weg zur Kapitulation war. Es war für die USA nicht nötig, im Juli 1945 die Trinity-Tests durchzuführen und Atombomben auf Hiroshima (6. August) und Nagasaki (9. August) abzuwerfen. Das immense Opfer der sowjetischen Bürger und der chinesischen Kommunisten und Patrioten machte den Einsatz dieser Massenvernichtungswaffe vermeidbar.
Dass die USA sie einsetzten, sagt uns mehr über die gewaltsame Missachtung menschlichen Lebens durch den Imperialismus. Und genau das sehen wir heute in Gaza.
Die erste Lüge. Die westlichen Alliierten haben sich von Anfang an gegen die Faschisten gestellt und den Krieg gegen den Faschismus gewonnen.
Die Wahrheit. Die westlichen Regierungen schickten ihre Armeen, um die Oktoberrevolution zu zerstören, von dem Moment an, als sie 1917 begann. Die sowjetische Regierung bat im Dezember 1917 um Frieden, aber Deutschland griff dennoch Finnland und die junge Sowjetrepublik an, was zu einer massiven Invasion der Alliierten führte (mit Truppen aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Rumänien, Estland, Griechenland, Australien, Kanada, Japan und Italien).
Die Haltung der Alliierten geht klar aus den Schriften und Reden des britischen Politikers Winston Churchill hervor, der 1919 sagte, die Alliierten sollten „die gemeine Affenbande des Bolschewismus“ vernichten. 30 Jahre später sagte er, „die Erstickung des Bolschewismus bei seiner Geburt wäre ein unermesslicher Segen für die Menschheit gewesen“.
In den 1930er- und 1940er-Jahren wollten die westlichen Regierungen, dass die faschistischen Regime Deutschlands und Italiens ihre Waffen gegen die Sowjetunion einsetzen und diese zerstören. Das war es, was „Beschwichtigungspolitik“ (appeasement) bedeutete – dass sie mit Adolf Hitlers Antikommunismus übereinstimmten und seine militärische Aufrüstung zuließen, solange sie sich gegen die Sowjetunion richtete.
Obwohl Großbritannien und Frankreich Deutschland im September 1939 den Krieg erklärten, taten sie in den folgenden Monaten nichts – eine Zeit, die als „Phoney War“, „Drôle de guerre“ oder „Sitzkrieg“ (in Anspielung auf „Blitzkrieg“) bekannt ist.
1941 marschierten Hitlers Armeen in die Sowjetunion ein.
Auf der Teheraner Konferenz von 1943 mussten die USA und Großbritannien anerkennen, dass es die Rote Armee war, die den Faschismus zerstörte. Im Namen von König Georg VI. überreichte Churchill dem sowjetischen Staatsführer Josef Stalin ein Schwert aus Sheffield-Stahl, das „Schwert von Stalingrad” genannt wurde, um den Mut der sowjetischen Bürger zu ehren, die der Belagerung standhielten (bei der zwei Millionen Menschen ums Leben kamen) und die Nazis besiegten.
Aber die Alliierten brauchten noch ein weiteres Jahr, bevor sie 1944 in den Krieg in Europa eintraten. Zu diesem Zeitpunkt war das deutsche Militär bereits von der Roten Armee (und durch die Luftangriffe der Alliierten) dezimiert worden. Die westlichen Länder traten in den Krieg ein, weil sie befürchteten, dass die Rote Armee in Deutschland einmarschieren und eine Position im Herzen Europas einnehmen würde.
Für die westlichen Regierungen verlief der Hauptwiderspruch nicht zwischen Liberalismus und Faschismus, sondern zwischen dem imperialistischen (oder Kriegs-)Lager – zu dem sowohl die Faschisten als auch die Liberalen gehörten – und dem sozialistischen (oder Friedens-)Lager. Dieser Widerspruch bestand von 1917 bis 1991, also während der gesamten Dauer des Zweiten Weltkriegs – des Antifaschistischen Weltkriegs.
Die zweite Lüge. Es waren die Opfer der USA im Pazifikkrieg und die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die den japanischen Militarismus besiegten.
Die Wahrheit. Der Weltkrieg gegen den Faschismus begann nicht, als Deutschland 1939 in Österreich einmarschierte. Er begann zwei Jahre zuvor in China, zur Zeit des Marco-Polo-Brücken-Zwischenfalls (dem Zusammenstoß im Juli 1937 in der Nähe von Peking, der den Beginn der umfassenden Invasion Japans in China markierte) und dauerte bis zum Ende des US-Krieges gegen Korea, der erst mit dem Waffenstillstand von 1953 beendet wurde.
Millionen mutiger Patrioten und Antifaschisten kämpften gegen den japanischen Militarismus, der die schlimmsten Kräfte der Ultrarechten in Korea und Indochina anzog. Als die USA im Dezember 1941 in den Krieg eintraten, banden die chinesischen Patrioten und Kommunisten – ebenso wie die nationalen Befreiungsarmeen in Indochina und Südostasien – 60 Prozent der japanischen Truppen und machten sie unfähig, die Ostflanke der Sowjets anzugreifen. Die immensen Opfer der Hundert-Regimenter-Offensive im Jahr 1940, als General Zhu De 400.000 kommunistische Soldaten anführte, um die japanische Infrastruktur in Nordchina (einschließlich 900 Kilometer Eisenbahnlinie) zu zerstören, sollten nicht vergessen werden.
Der verbreitete Mythos vom US-Marine, der auf die Höhen von Iwo Jima klettert, oder von der Atombombe, die die Japaner zur Kapitulation zwingt, ist allgegenwärtig. Dabei wird jedoch die Tatsache ausgeblendet, dass die Japaner bereits erheblich geschwächt waren, dass sie zur Kapitulation bereit waren und dass Hiroshima und Nagasaki keine militärischen Ziele waren.
Was im August 1945 geschah, hatte mit militärischer Strategie nichts zu tun: Es war eine reine Demonstration der Macht der USA, eine Botschaft an die Welt über die neue Waffe, die die USA entwickelt hatten, und eine Warnung an die Kommunisten in Asien, dass diese Waffe gegen sie eingesetzt werden könnte. Millionen asiatischer Arbeiter und Bauern, die starben, um den Faschismus zu besiegen – darunter auch meine Familienangehörigen in Burma –, wurden durch den Atompilz ausgelöscht. Er begann, in der Erinnerung der Menschen zu überwiegen. Die Bombe, nicht die Menschen, die um jeden Zentimeter Land in Südostasien gekämpft hatten, wurde zum Helden. Das ist die zweite Lüge.
Die große Wahrheit. Zwischen diesen beiden Lügen verbirgt sich eine große Wahrheit, die in unserem kollektiven Gedächtnis begraben wurde: Der Faschismus ist die Negation von Souveränität und Würde, der hässliche Zwilling des Kolonialismus. Es ist schwer, zwischen den beiden zu unterscheiden. Schließlich war Genozid ein konstitutives Merkmal der Kolonialherrschaft – man denke an die sechs Millionen Menschen, die im Kongo getötet wurden, den Völkermord an den Herero und Nama in Südwestafrika durch Deutschland, den Völkermord an den indigenen Völkern Amerikas und die drei Millionen Bengalen, die 1943 verhungerten.
Nach der Niederlage des deutschen Faschismus und des japanischen Militarismus kehrten die Niederländer, Franzosen und Briten mit ihren US-Verbündeten zurück, um Anspruch auf ihre Kolonien in Indonesien, Indochina und Malaya zu erheben. Die Gewalt dieser Kolonialkriege in den 1940er- und 1950er-Jahren ist monströs.
Über den Versuch der Niederländer, Indonesien erneut zu kolonisieren, sagte der nationalistische Anführer Sukarno: „Sie nennen es Polizeieinsatz, aber unsere Dörfer brennen, unsere Menschen sterben und unsere Nation blutet für ihre Freiheit.“ Chin Peng, ein malaysischer Kommunist, äußerte sich ähnlich: „Wir haben uns erhoben, weil wir sahen, wie Dörfer hungerten und Stimmen durch Geld und Macht zum Schweigen gebracht wurden.“
General Sir Gerald Templer, der den britischen Ausnahmezustand in Malaya leitete, sagte nach einer Rebellion, es sei ein „Dorf von fünftausend Feiglingen“ gewesen, und hungerte die Bewohner aus, indem er ihnen Reis vorenthielt.
Dörfer brannten. Dorfbewohner hungerten. Das war die Realität des Versuchs, die Kolonien zurückzuerobern, und dann des US-Krieges gegen Korea. Als die USA ihre Operationen in Korea begannen, sagte Präsident Harry Truman, seine Armee solle „jede Waffe einsetzen, die wir haben“ – eine erschreckende Bemerkung angesichts des Einsatzes von Atomwaffen in Japan. Aber es gab keinen Bedarf für eine Atombombe, da die Luftangriffe die Städte Nordkoreas ausradierten. Wie Generalmajor Emmett O’Donnell 1951 dem US-Senat sagte: „Alles ist zerstört. Es gibt nichts mehr, was diesen Namen verdient. Es gab keine weiteren Ziele in Korea.“ Das war ihre Haltung: Faschismus oder Kolonialismus – such dir etwas aus.
Die westlichen Kolonialisten ließen faschistische Elemente in Japan, Korea, Indochina und anderen Ländern wieder aufleben und verbündeten sich mit ihnen, um eine internationale Achse gegen Arbeiter, Bauern und Kommunisten zu stärken. Dies offenbart, dass die westlichen Kolonialisten keineswegs antifaschistisch waren. Ihr wahrer Feind war die Möglichkeit, dass Arbeiter und Bauern Klarheit und Selbstvertrauen entwickeln und sich für eine sozialistische Zukunft entscheiden würden.
Die große Wahrheit ist, dass es die sowjetische Rote Armee und die chinesischen Kommunisten und Patrioten waren, die Nazi-Deutschland und das militaristische Japan tatsächlich besiegt haben. Es waren diese Kräfte, die die größten Opfer im Kampf gegen den Faschismus gebracht haben und die enge Beziehung zwischen Faschismus, Kapitalismus und Kolonialismus verstanden haben. Man kann nicht antifaschistisch sein und gleichzeitig für Kolonialismus oder Kapitalismus eintreten. Das ist einfach unmöglich. Das sind völlig gegensätzliche Richtungen.
Meine Gedanken sind immer noch in Leningrad im August 1942. Erinnern Sie sich an das Orchester und Schostakowitschs Sinfonie Nr. 7. Die Nazi-Truppen umzingeln die Stadt. Alles ist still. Dann beginnt die Musik. Sie dauert eine Stunde lang. Und dann hört die Musik auf.
Mit herzlichen Grüßen
Vijay
Dieser Beitrag ist der 48. Newsletter des Tricontinental: Institute for Social Research, aus dem Englischen übersetzt von Marta Andujo.
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