Chiles Streitkräfte – Mit deutscher Hilfe, von der Pinochet-Diktatur zum Akteur militärischer Spannungen in Südamerika

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

An 9/11, also am 11. September, wurden nicht nur 2001 in den USA die Terroranschläge ausgeführt, die heute mit diesem Namen verbunden werden. Vor 43 Jahren wurde in Chile Salvador Allende mit Unterstützung der CIA von einer Schar rechtsgerichteten Militärs unter Augusto Pinochet umgebracht. Was folgte waren nicht nur 17 Jahre Diktatur, sondern auch eine expansive Rüstungspolitik, die bis heute anhält. Die finanzielle Grundlage dafür ist ein sogenannter Kupferfonds – zehn Prozent vom Umsatz des staatlichen Kuperförderers Codelco gehen in Chile direkt in den Rüstungsetat, wie Frederico Füllgraf exklusiv für die NachDenkSeiten aus Südamerika zu berichten weiß.

Man sollte sich davor hüten, die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA , mit ihren 2.996 Toten und 6.000 Verletzten, kleinzusprechen oder zu beschönigen. Dennoch, seitdem versucht die US-Propaganda die Geschichtsschreibung dahingehend zu beeinflussen, ihr “9/11” (nine-eleven)-Narrativ als Anlass für den sogenannten “Krieg gegen den Terror”, nämlich den massivsten militärischen Überfall auf souveräne Nationalstaaten des Mittleren und Fernen Ostens, mit der Tötung von bisher 1,3 Millionen Menschen in Afghanistan, Irak, Lybien und Syrien zu begründen.

Seit 1973 hält die reale Geschichte jedoch eine bewaffnete Ironie auf Lager: 28 Jahre, bevor Linienjets in die New Yorker Zwillingstürme rasten, beschossen mehrere britische Hawker-Hunter-Jagdbomber der chilenischen Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda mit schweizerischen Sura P-3-Panzerabwehrraketen.

Der um Punkt 12 Uhr mittags, in 15 Minuten erledigte Angriff, beendete mit der Tötung von Präsident Salvador Allende und Mitgliedern seiner Leibgarde, ferner der Verhaftung seiner Minister, das erste Experiment der stufenweisen Errichtung eines pluralistischen und reformsozialistischen Regierungssystems in einem Entwicklungsland, auf genuin demokratischem Wege.

Der tiefer sitzende Hohn von “9/11” ist, dass der Putsch gegen Allende seit seiner Präsidentschaftskandidatur im Jahr 1970, von der Richard-Nixon-Administration geplant war. Mit Geheimplan “Track 1” versuchte der CIA zunächst einen parlamentarischen Putsch gegen die Wahl Allendes zu inszenieren. Da sich jedoch sein christdemokratischer Vorgänger, Eduardo Frei Montalva, dem Komplott mit dem konservativen Kandidaten Jorge Alessandri widersetzte, entfachten Nixon und sein Staatssekretär Henry Kissinger “Track 2”. Damit wurden 10 Millionen Dollar (ca. 54 Millionen Dollar zum ggw. Kurswert) für die Finanzierung der rechtsextremen Opposition und der beherrschenden Tageszeitung El Mercurio bereitgestellt. Im Familienbesitz des Edwards-Clans, erhielt allein El Mercurio 1,5 Millionen Dollar für Medienattacken gegen Allende (siehe Gesprächsprotokoll Kissingers mit CIA-Chef Richard Helms über Agustin Edwards; des weiteren Covert Action in Chile 1963-73 : U.S. Senate Select Committe und The Pinochet File – The National Security Archive). Edwards wurde für seine nachweisliche Rolle als CIA-Agent aus dem chilenischen Journalistenverband ausgeschlossen, zudem ordnete Richter Mario Carroza Ermittlungen gegen den Verleger wegen des Verdachts des Hochverrats an.

Die Folge des Militärputschs in Chile war die Errichtung einer der blutigsten Diktaturen der Gegenwartsgeschichte. In den 17 Jahren der Diktatur Augusto Pinochets wurden 200.000 Bürger zum Exil gezwungen, in mindestens 40.000 Fällen brutale Menschenrechtsverletzungen begangen, 28.000 Oppositionelle systematisch gefoltert und 3.197 Widerstandskämpfer ermordet, wovon 1.102 Personen nach wie vor als “verschollen” gelten; 150 allein auf dem Boden der ehemaligen deutschen “Colonia Dignidad”.

Chiles Militärausgaben in der Post-Pinochet-Ära: geheim und korrupt

Seit Ende der Pinochet-Diktatur wurden mehr als 1.000 Ermittlungsverfahren gegen höhere Offiziere der Streitkräfte eingeleitet, wovon jedoch Anfang 2016 lediglich 67 Beschuldigte nach ordentlichen Gerichtsverfahren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, relativ milde Haftstrafen absaßen. Gegen 350 Mitglieder der Streitkräfte und der Polizei (Carabineros) wird weiterhin ermittelt.

Nicht weniger verblüffend wirkt die Tatsache, dass das Militär 25 Jahre nach Ende der Diktatur, neben einem halben Dutzend ziviler Multimilliardäre, als der große Gewinner der Demokratisierung hervorgeht

Von 1990 bis 2012 haben die Streitkräfte umgerechnet 8,0 Milliarden Euro für Waffenkäufe ausgegeben; darunter deutsche Leopard-Panzer, französische Scorpenne-U-Boote und US-amerikanische F-16-Jagdbomber sowie EADS-Satelliten. Bis 2025 soll die technologische Modernisierung zusätzliche 10,0 Milliarden Euro für die Aufrüstung verschlingen – verglichen mit den Militärausgaben der USA, Europas und Israels, ein bescheidener, doch für ein 16-Millionen-Einwohner-Land wie Chile, ein erstaunlicher Rüstungsetat.

Die Milliardenbeträge stammen aber nicht aus dem chilenischen Haushalt, sondern aus einer für westliche Demokratien extravaganten Quelle: Chiles Kupfererlöse.

Grundlage bildet ein Gesetz der autoritären Regierung Carlos Ibáñez del Campo aus dem Jahr 1958, bekannt als Ley Reservada del Cobre (“Vertrauliches Kupfergesetz”), das zunächst 15 Prozent der Steuern auf die Kupferproduktion als Militärabgabe abverlangte. Die nach wie vor gültige, von der Pinochet-Diktatur novellierte Fassung legte nun eine 10-prozentige Abgabe auf den Umsatz des staatlichen Codelco-Konzerns fest, womit natürlich die Einnahmen bald in Milliardenhöhe schossen. Würde der Kupferfonds für zivile Zwecke genutzt, könnten damit die auf 8 Milliarden Euro geschätzte Bildungsreform sowie 20 neue, voll ausgerüstete, öffentiche Großkrankenhäuser oder 300.000 Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus finanziert werden.

Doch was ist mit “vertraulich” (reservado) gemeint? Aus vorgeschobenen, militärischen “Vertraulichkeitsgründen” werden die Bestimmungen des Gesetzes sowie die Geldeinnahmen geheim gehalten. Die Öffentlichkeit hat keinen Zugang zu den Zahlen. Weder Präsidentin Michelle Bachelets “Gesetz für Verwaltungstransparenz” noch die Rechnungsprüfstelle des Parlaments verhinderten die obskuren Geschäfte der Uniformierten: die Finanzierung ist streng geheime Militärsache. Des Spuks überdrüssig, entwarf ein Parlamentsausschuss 2011 eine Gesetzesänderung. Seitdem schmort der Antrag im chilenischen Oberhaus.

Im August 2015 stieg der ehemalige, chilenische DPA-Mitarbeiter Mauricio Weibel hinter die Kasernentore und deckte einen Korruptionsskandal in Höhe von zig Millionen Euro auf. Allein zwischen 2010 und 2014 wurden beispielsweise 124 gefälschte Quittungen für angebliche Ausrüstungsanschaffungen ausgestellt, die die Anklage von 40 Leitungsoffizieren der Armee zur Folge hatten. Weibels Enthüllungen wurden bekannt als “MilicoGate” – das “Watergate der Uniformierten” – und sind zusammengefasst in seinem im April 2016 veröffentlichten Buch “Traición a la Pátria” (“Vaterlandsverrat”).

Zu Land und zur See, deutsche Waffen in Aufmarschgebieten in den Anden

Doch das “MilicoGate” ist nicht der erste Korruptionsfall der Militärs. Im August 2009 verurteilte Richter Manuel Antonio Valderrama zwei hochrangige, in den Kauf von 202 Leopard-Panzern aus Holland involvierte chilenische Offiziere. Bei dem 1998 begonnenen Waffendeal zwischen der chilenischen, armeeeigenen Fábrica de Materiales del Ejército (Famae) und der niederländischen RDM Holding sollen General a.D. Luis Iracabal Lobo und Luftwaffen-Ingenieur a.d. Gustavo Latorre jeweils 600.000 Dollar als Bestechungsgelder erhalten haben.

Während der ersten Amtsperiode (2005-2010) der seit 2015 zum zweiten Mal amtierenden sozialistischen Staatspräsidentin Michelle Bachelet lieferte die Bundeswehr weitere 60 gebrauchte Leopard-2-Panzer an Chile. Der Stückpreis von 250.000 Euro (Anschaffungskosten knapp drei Millionen Euro) war billig, für Instandsetzung und Modernisierung musste Chile deshalb zusätzliche 83 Millionen Euro aufwenden. Summa summarum: 98 Millionen Euro. Ein entsprechender Kaufvertrag war bereits im Februar 2006, dem zweiten Regierungsmonat der frisch gewählten Präsidentin, abgeschlossen worden.

Doch es blieb nicht bei den Leoparden, 146 Marder-Panzer kamen hinzu, ebenfalls zum billigen Stückpreis 50.000 Euro. Der Großteil dieses Kettenfahrzeug-Arsenals wurde entlang der nordchilenischen Grenze zu Peru und Bolivien stationiert, wo die Panzer in regelmäßigen Wüstenkrieg-Manövern den argwöhnischen Nachbarn als Bedrohung zur Schau gestellt werden.

Chile ist ein Land mit wenigen Freunden. Dass dem deutschen Durchschnittsleser Chiles historische Grenzdispute mit Argentinien, Peru und Bolivien unbekannt sind, ist verständlich, doch müssten sie der deutschen Regierung und ihrem Geheimdienst BND bekannt sein, der in vielfältige Umtriebe während der Pinochet-Diktatur involviert war, deren Veröffentlichung Außenminister Frank-Walter Steinmeier im April 2016 den Opfern der Terror-Kolonie Dignidad versprach.

Nach dem von Großbritannien mit Geld und Ausrüstungen finanzierten Salpeterkrieg (1879-1883) Chiles gegen Bolivien und Peru verleibte sich Chile 150.000 Quadratkilometer der rohstoffreichen Atacama-Wüste samt 400 Kilometern bolivianischer Küste ein. Peru erhielt 2014 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Hag 50.000 km2 seiner nationalen Gewässer zurück, seit 2013 kämpft Bolivien vor dem gleichen Gericht für seinen souveränen Zugang zum Meer.

Der Pazifik war längst ein Aufmarschgebiet, doch der Bundesregierung und ihren beauftragten Waffenhändlern fiel nichts Besseres ein, als ausgerechnet die Pinochet-Diktatur mit U-Booten der HDW- und die ersten demokratischen Regierungen mit sechs Schnellbooten der Tiger-Klasse zu beliefern, deren Nachfolgeaufträge Chile mehr als 10 Millionen Euro pro Jahr kosten.

Seit der Entsendung Emil Körners als erstem deutschen Militär-Instrukteur, im Jahr 1885, nahm der deutsche Einfluss auf Chile kontinuierlich zu. Seine Ernennung war zeitlich abgestimmt mit der gewaltsamen Besetzung Araukaniens und der Vertreibung des legendären Mapuche-Volks aus seinem Ahnenland, das von den Militärs an weiße Siedler aus Deutschland, der Schweiz, Englands und Frankreichs verteilt wurde und bis heute das zentrale Problem des sogenannten Mapuche-Konflikts darstellt.

Deutsche Zuschauer mögen verblüfft reagieren beim Anblick des paradierenden chilenischen Heeres.

Gänseschritt zum Auftakt von Pinochets Lieblingsmarsch, “Preussens Gloria”, deutsche Uniformen und der mit schlimmsten Erinnerungen assoziierte, deutsche Stahlhelm sind einmalig auf dem lateinamerikanischen Kontinent und Reliquien einer 130-jährigen Rüstungs- und Militärkooperation, die mit Körners Ernennung zum chilenischen Heeresinspekteur 1904 offiziellen Charakter annahm und seitdem ungebrochen anhält. Ein Fundament solider, deutscher Außenpolitik, auch zum Preis aufflammender militärischer Spannungen und eklatanter Menschenrechts-Verletzungen.

Ein Werbevideo der chilenischen Streitkräfte für ihr Arsenal, u.a. mit Leopard-Panzern.