Michael Hudsons „Der Sektor“ – ein bemerkenswerter Beitrag zur ökonomischen Gegenaufklärung

Ein Artikel von Thomas Trares
Michael Hudson

Sollten Sie der Meinung sein, dass im heutigen Finanzsystem die Banken „finanzielle Schmarotzer“ sind, die auf Kosten der Realwirtschaft leben, ohne selbst etwas zur Produktion beizutragen, dass der Finanzsektor mit seinen Gewinnen das politische System kapert, dass die Finanzoligarchen eine Mautstellen-Wirtschaft betreiben, um Monopolrenten abzuschöpfen, dass Grundherren, Monopolisten und „Kuponabschneider“ von den Einnahmen ihrer Anleihen, Aktien und (zumeist geerbten) Immobilien leben, dass sich das Finanzsystem der Orwellschen Strategie der rhetorischen Täuschung bedient, dass die politische Linke ihren wirtschaftspolitischen Fokus aufgegeben und sich der neoliberalen Agenda unterworfen hat und dass das westliche Finanzsystem zu einer Geisel der US-Geopolitik geworden ist. Und wenn Sie jetzt auch noch der Meinung sind, dass Sie als Hauskäufer gezwungen sind, für ihre Immobilie zu viel zu zahlen und zu hohe Kredite aufzunehmen, dann könnte das Buch „Der Sektor“[1] des US-Ökonomen Michael Hudson etwas für Sie sein. Von Thomas Trares[*].

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Mit „Der Sektor“ ist freilich der Finanzsektor gemeint, in der englischen Literatur auch FIRE-Sektor (Finance, Insurance, Real Estate) genannt. Der wuchtige Titel ist Programm, denn das Buch ist nicht nur inhaltlich, sondern allein schon rein optisch ein Koloss. Es hat 600 Seiten. Seit Ende 2016 liegt die deutsche Übersetzung vor, erschienen ist es bereits 2015. Doch der Inhalt ist nach wie vor hochaktuell. Denn das Buch ist ein Frontalangriff auf eben jenen Finanzsektor und zugleich auch ein wichtiger und bemerkenswerter Beitrag zur ökonomischen Gegenaufklärung.

Denn Hudson räumt hier mit dem Bild auf, das die Mainstream-Ökonomie vom Finanzsektor vermittelt. Diese suggeriert, dass die Kapitalmärkte die für das Wirtschaftswachstum notwendigen finanziellen Mittel bereitstellen und damit einen wichtigen Beitrag für das Wohlergehen einer Gesellschaft leisten. Hudson jedoch stellt dieses Bild vom Kopf auf die Füße. Seiner Ansicht nach handelt es sich bei dem Finanzsektor um einen räuberisch und ausbeuterisch agierenden Sektor, der eine parasitäre Beziehung zur Realwirtschaft eingegangen ist. Nicht ohne Grund heißt sein Buch im englischen Original „Killing the Host: How Financial Parasites and Debt Bondage Destroy the Global Economy“ (auf Deutsch: Den Wirt töten: Wie Finanzparasiten und Schuldknechtschaft die globale Wirtschaft zerstören).

Das Grundübel Finanzialisierung

Hudson zufolge ist das Grundübel heutiger Tage die Finanzialisierung der Volkswirtschaften, sprich die Dominanz der Finanz- über die Realwirtschaft. Symptomatisch zeigt sich dies darin, dass mittlerweile 40 Prozent der Gewinne der gesamten US-Wirtschaft im Finanzsektor anfallen und obendrein nur einer kleinen Geldelite zu Gute kommen. Hudson spricht hier plakativ von dem „einen Prozent“. In solch einer Ökonomie haben sich die Bankensysteme und Aktienmärkte nicht nur von der Finanzierung von Investitionen in Sachanlagen abgekoppelt, nein, sie hemmen sogar die Entwicklung des industriellen Sektors.

Ein zentraler Begriff in Hudsons Analyse ist der der „ökonomischen Rente“. Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff für leistungslose Einkommen. Dies können Zinsen, Dividenden, Mieten, Pachten sein, aber auch die Erträge aus natürlichen Monopolen wie etwa Mauteinnahmen und Lizenzgebühren. Diese Einnahmen werden nur deswegen erzielt, weil jemand eine Sache besitzt, nicht weil eine reale Wertschöpfung stattfindet. „Das Ziel des Finanzkapitalismus ist nicht die Kapitalbildung, sondern der Erwerb von Privilegien, die das Abschöpfen einer ökonomischen Rente ermöglichen, sei es durch Immobilien, natürliche Ressourcen oder Monopole“, schreibt Hudson.

Neoliberale Junk Economics

Den klassischen Ökonomen wie Adam Smith, Karl Marx und John Stuart Mill war der Begriff der „ökonomischen Rente“ durchaus geläufig. In der heutigen Ökonomik kommt diese Unterscheidung aber nicht mehr vor. Und dies nicht ohne Grund, glaubt Hudson. Denn der Finanzsektor tut alles dafür, sein wahres Wesen zu verschleiern. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gibt es keine Kategorie für leistungslose Einkommen oder Ausbeutung. Und all die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und „Denkfabriken“ sind seiner Ansicht nach lediglich dazu da, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass es so etwas wie „unverdiente“ Einkommen und Vermögen nicht gibt. „Ganz ähnlich, wie die Ölindustrie eine Pseudowissenschaft (junk science ) – finanziert, die beweisen soll, dass der Kohlendioxidausstoß nichts mit der Klimaerwärmung zu tun hat, fördert die Wall Street die neoliberale Pseudo-Ökonomik (junk economics ), – eine wirtschaftswissenschaftliche Ausrichtung, die einfach leugnet, dass eine Überschuldung die Wirtschaft in chronische Austerität und Arbeitslosigkeit stürzt“, heißt es in dem Buch.

Hudson selbst hat das Finanzsystem von allen Seiten kennengelernt. Derzeit ist er als Professor an der University of Missouri at Kansas City (UMKC) sowie als Politikberater tätig, früher war er an der Wall Street, unter anderem für ein Sparkasseninstitut, die Beratungsgesellschaft Arthur Anderson und die Chase Manhattan Bank. Dies war für ihn die einzige Möglichkeit, die Funktionsweise einer Volkswirtschaft praktisch zu erfahren, wie er sagt. Bemerkenswert ist zudem, dass der russische Revolutionär Leo Trotzki sein Patenonkel war. Und obendrein gehört Hudson zu den wenigen Ökonomen, die die Finanzkrise vorhergesagt haben.[2]

Krisenherde und Schurken

Hudson analysiert aber nicht nur den Finanzsektor im Detail, sondern schlägt auch noch einen Riesenbogen durch alle ökonomischen Krisen und Krisenherde der vergangenen Jahre. Dabei geht er äußerst detailverliebt und kleinteilig vor, was letztlich auch den enormen Umfang des Buchs erklärt. Allein die Analyse der Finanzkrise in den USA erstreckt sich über gut 100 Seiten und auch die Ausführungen zur Euro- und der Griechenlandkrise sind derart umfangreich, dass man sie gut und gerne als eigenes Buch hätte veröffentlichen können. Analysiert werden aber auch die Krisen in Lettland, Irland, Argentinien und der Ukraine.

Ausgewiesene Schurken gibt es in dem Buch auch, etwa das „Wall-Street-Faktotum“ Timothy Geithner, der als Finanzminister in der Regierung Obama dafür sorgte, dass die „Wall-Street-Zocker“ ungeschoren durch die Krise kamen, oder der amerikanische „Unrechtsrichter“ Thomas Griesa, der in der argentinischen Schuldenkrise „nukleare“ Entscheidungen zu Gunsten ausbeuterischer Geierfonds fällte. Eine weitere umstrittene Personalie ist die Juraprofessorin Anna Gelpern, die einst im US-Finanzministerium arbeitete und später in der Krim-Krise eine fragwürdige Rolle spielen sollte (S.502ff).

Vermögenspreisinflation und Schuldendeflation

Die Krisen selbst laufen meist nach einem bestimmten Muster ab. Der Finanzsektor vergibt Kredite, größtenteils für den Kauf von Immobilien, Aktien und Anleihen. Dies treibt die Kurse an den Finanzmärkten in die Höhe. Es kommt zur Vermögenspreisinflation. Die „Macht des Zinseszinses“ hat allerdings zur Folge, dass die Schulden wesentlich schneller wachsen als die Fähigkeit der Realwirtschaft, sie zu bezahlen. Folglich führen die Kreditnehmer einen steigenden Anteil ihrer Einkünfte an die Gläubiger ab. Die Vermögenspreisinflation schlägt dann in eine Schuldendeflation um, wenn eben jene Tilgungs- und Zinszahlungen dem Kreislauf aus Produktion und Konsum erhebliche Mittel entziehen. Das Wachstum verlangsamt sich, die Wirtschaft schrumpft, während der Umfang der Kredite und Schulden weiter steigt. Früher oder später können die Schuldner ihre Schulden nicht mehr bedienen. Daraus leitet Hudson die zentrale These seines Buches ab. Diese lautet:

Schulden, die nicht bezahlt werden können, werden auch nicht bezahlt.

Aber der Versuch, es dennoch zu tun, stürzt die jeweiligen Länder in eine lang anhaltende wirtschaftliche Depression. Paradebeispiele für diese Entwicklung sind Griechenland und Lettland, das Hudson für die am „weitesten neoliberalisierte Volkswirtschaft Europas“ hält. Das oberste wirtschaftspolitische Gebot ist für Hudson demnach ein Schuldenerlass. Zudem schlägt er vor, Infrastrukturdienstleistungen kostenlos oder zumindest zu subventionierten Preisen als öffentliches Gut zur Verfügung zu stellen, natürliche Monopole in öffentlichem Eigentum zu belassen und eine öffentliche Bankenoption zu schaffen.

Umstrittene Thesen

Allerdings sind Hudsons Thesen auch in progressiven Kreisen umstritten, wie der Disput zwischen dem Ökonomen Heiner Flassbeck und dem „Handelsblatt“-Redakteur und Blogger Norbert Häring zeigt[3]. Flassbeck etwa warf Hudson eine Art „Schuldenphobie“ vor, worauf Häring Flassbeck unterstellte, der „neokeynesiansich-neoklassischen Fehldeutung“ anzuhängen, wonach Schulden keine Rolle spielen, weil des einen Schulden ja immer des anderen Vermögen sind und sich im Aggregat daher immer zu Null addieren.

Hudson hat sich in seinem Buch zu diesem Thema übrigens wie folgt geäußert:

„Neoliberale Ökonomen behaupten, nicht die Schulden seien das Problem, weshalb man sie ignorieren könne, denn (wie man zu sagen pflegt) ´wir schulden sie uns selbst´. Nach dieser sophistischen Logik hebt sich alles gegenseitig auf und ergibt am Ende einen Betrag von Null, weil ja die Schulden der einen Person der Vermögenswert einer anderen sind. Diese vereinfachende und irreführende Sichtweise lässt die Dimension des Wer-schuldet-Wem-Was vollkommen außer Acht: Den Großteil der Nettoschulden müssen die 99 Prozent an das Eine Prozent bezahlen (das ist das ´Selbst´, das die Wall Street in ihrem Spruch tatsächlich meint).“ (S. 271)


[«*] Thomas Trares ist Diplom-Volkswirt. Studiert hat er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Danach war er Redakteur bei der Nachrichtenagentur vwd. Seit über zehn Jahren arbeitet er als freier Wirtschaftsjournalist in Berlin.

[«1] Klett-Cotta – Michael Hudson – Der Sektor

[«2] the new road to serfdom – An illustrated guide to the coming real est

[«3] Norbert-Häring – Flassbeck zerpflückt Hudson: Kritik des Verrisses und Gegenbesprechung von „Der Sektor“

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