Armut wird oft nur durch die technokratische Brille wahrgenommen

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Gibt es Armut in Deutschland?
Allein diese Frage, die bisweilen in den Medien auftaucht, verdeutlicht bereits eines der zentralen Probleme, wenn es um diejenigen in unserer Gesellschaft geht, die aufgrund knapper ökonomischer Mittel ausgegrenzt und abgehängt sind: Der Grad an Ignoranz beim Thema Armut in Deutschland ist hoch.
Ein Kommentar von Marcus Klöckner.

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Wenn Medien in der Öffentlichkeit das Thema Armut in den Fokus rücken, passiert nahezu immer Folgendes: Innerhalb von kürzester Zeit kommen Experten zu Wort, die versuchen, in Zahlen auszudrücken, ob es Armut in Deutschland gibt, wie viele Menschen davon betroffen oder nicht betroffen sind, ob sich die Situation verbessert oder verschlechtert hat. Da ist dann von einer „relativen“ und von einer „echten“ Armut die Rede, rasch fallen Begriffe wie „Armutsquote“, „Armutsrisikoquote“ oder „Gini-Koeffizient“, mit dem man soziale Ungleichheit messen will. Das ist durchaus legitim. Schließlich geht doch nichts über eine solide Datenbasis, die die realen Verhältnisse sichtbar macht. Doch so einfach ist es bei diesem Thema nicht.

Kaum sind die unterschiedlichen Messmethoden ins Feld geführt, überschlägt sich die Diskussion auf Ebene der Zahlen. Armut ist dann oft nur noch eine Größe, die durch die technokratische Brille wahrgenommen wird. Und damit passiert genau das, was nicht passieren sollte: Die Schicksale der Menschen, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind, werden unsichtbar. Das Leid, das Armut auch in einem reichen Land erzeugt, geht unter in einem Armutsdiskurs, der doch zum größten Teil von jenen Akteuren geprägt wird, deren Jahresgehalt so viel mit Armut zu tun hat wie die Einrichtung einer Luxusyacht mit der einer Sozialwohnung: nichts.

Bis zur nächsten Bundestagswahl sind es noch etwas über drei Wochen. Aller Voraussicht nach wird sich auch in der nächsten Legislaturperiode an der real existierenden Armut in Deutschland nichts ändern. Die Nachwirkungen jener Politik, die unter Rot-Grün und mit reichlich Schützenhilfe großer Medien etabliert werden konnte, sind an vielen Orten im Land spürbar. Eine Politik, die bis in ihre „Zellorganellen“ vom Neoliberalismus geprägt ist, hat in jenen Teilen der Bevölkerung, die über wenige ökonomische Mittel verfügen, ein Klima der Angst entstehen lassen.

Wer mit den Menschen redet, die es schaffen, sich gerade so ohne staatliche Unterstützung über Wasser zu halten (und dabei oft einer Tätigkeit nachgehen, die mit hoher körperlicher Belastung, viel Stress, wenig Anerkennung und persönlicher Befriedigung verbunden ist), erkennt schnell: Sie wissen genau, dass ein falscher Griff ihren Absturz bedeutet. Sie spüren: Wenn Sie einmal nach unten fallen, dann wird der Aufprall so hart, dass ein Wiederaufstieg sehr schwer wird.

Das, was bildlich gesprochen gerne mal als Netz des Sozialstaates bezeichnet wird, ist so gespannt, dass es seine Schutzfunktion längst nicht mehr ausreichend erfüllt. Doch, und das ist kein Geheimnis: Es ist kein Zufall, dass dieses Netz durchhängt. Wie merkte Bodo Hombach, der ehemalige Kanzleramtschef unter Gerhard Schröder, 1998 in seinem Buch „Aufbruch“ an: „Wir müssen den Sozialstaat vom Sicherheitsnetz zum Trampolin machen, von der Hängematte zum Sprungbrett, das den einzelnen zurückfedert in das Arbeitsleben, in Eigenverantwortung, in die Teilhabe an der Gesellschaft.“

„Zurückfedern“ und „teilhaben“? Das klingt gut. Doch wer einmal unten ist, der „federt“ nicht mehr und „zurück“ schon gar nicht.

Machen wir uns nichts vor: So manche Weichensteller im politischen Feld veranschlagen alles andere als selten einen Blick auf die Armen, der von wenig Empathie, dafür aber umso mehr mit Ressentiments und der Unkenntnis über die Lebensbedingungen „da unten“ beladen ist. Oft genug erfolgt der Blick hinab zu den Armen voller Verachtung und mit der Vorstellung, man müsse am Boden der Gesellschaft nur genug Druck erzeugen, damit die Menschen, die sich dort befinden, aus eigener Initiative nach oben bewegen.

Dieses „Konzept“ aber ist gescheitert. Es kann nicht funktionieren, denn es verkennt völlig die Verhältnisse, die dazu führen, dass Armut sich verfestigt.

In armen Familien und bei armen Menschen ist aufgrund der fehlenden Mittel oft das „eigene Infrastruktursystem“ kollabiert. Dort, wo Menschen über einen längeren Zeitraum nur aus tiefer materieller Not heraus agieren können, sind bei genauerer Betrachtung Schäden vorzufinden, die sich nicht durch einen wie auch immer gearteten Druck beheben lassen. Menschen, die arm sind – das weiß jeder, der sich mit ihnen näher auseinandersetzt -, sind oft auch psychisch so schwer angeschlagen, dass sie den Spielregeln einer neoliberalen Leistungsgesellschaft nicht mehr folgen können. Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass ein beträchtlicher Teil der Kinder, die in solch einem Umfeld aufwachsen, den Ausbruch aus diesen Verhältnissen nicht schaffen wird.

Die Reproduktion von Armut ist Realität. Hier müsste Politik ansetzen. Aber ihr „Kampf“ gegen Armut ist unzureichend, bestenfalls halbherzig. Der Teufelskreislauf Armut kann mit der bisher veranschlagten Politik nicht aufgebrochen werden. Das Gegenteil ist der Fall: Er wird durch sie noch verstärkt.

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