Wenn Niedertracht und Scheinheiligkeit zusammentreffen – Deutschland, Özil und die Integrationsdebatte

Jens Berger
Ein Artikel von:

Wenn wir gewinnen, bin ich Deutscher. Wenn wir verlieren, bin ich der Immigrant. So fasste Mesut Özil seine Außenwirkung in seinem Abschiedsbrief von der Nationalmannschaft zusammen und wer will ihm da ernsthaft widersprechen. Die deutsche Integrationsdebatte ist auch heute noch, mehr als 50 Jahre nach Ankunft der ersten “Gastarbeiter”, verkrampft, spießig und scheinheilig und zielt nicht auf Integration, sondern auf Assimilation. Da kann es kaum verwundern, dass sich so wenig Deutsche mit ausländischen Wurzeln mit diesem Land wirklich identifizieren können, identifizieren wollen. Hoffen wir, dass die hitzig geführte Sommerlochdebatte rund um den Rücktritt des fünfmaligen “Nationalspielers des Jahres” Mesut Özil da endlich Abhilfe schafft. Ein Kommentar von Jens Berger mit einem interessanten Leserbrief zum Thema im Anhang.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Was genau hat Mesut Özil eigentlich verbrochen, dass er derart polarisiert? Wohl kein anderer Fußballer wird von Teilen der Fans derart abgründig gehasst wie der im Ruhrpott geborene Sohn türkischer Einwanderer. Das große Unverständnis begann bereits zu Beginn Özils Karriere in der Nationalmannschaft. Angestachelt durch die BILD-Zeitung gab es eine Debatte, warum der junge Mann nicht ordentlich die deutsche Nationalhymne singt. Wer sich im Fußball ein wenig auskennt, weiß, dass es keineswegs selbstverständlich ist, das Fußballer die Hymne mitschmettern. Kein einziger deutscher Spieler der Weltmeisterelf 1974 trällerte je vor Spielbeginn das Deutschlandlied. Özil verschlimmbesserte die Ressentiments damals durch das Bekenntnis, lieber vor dem Spiel während der Hymne zu beten. Damit war natürlich alles aus. Ein Muslim, der seine Gebete an Allah über die deutsche Nationalhymne stellt? Deutschlands Rechte hatte endlich einen neuen Blitzableiter. Vor allem die BILD hatte es seitdem auf Özil abgesehen. Der konnte künftig spielen, wie er wollte – er war stets nur der „Türke“, der die Hymne nicht mitsingt. Lief es gut, wie beim Gewinn der Weltmeisterschaft 2014, wurde ihm dies gnädig vergeben, lief es schlecht, war er der ideale Sündenbock.

Und – ja – man kann ihm natürlich vorhalten, dass seine Aktionen nicht immer in erster Linie dafür geeignet waren, seine Gegner mitzunehmen und für sich zu begeistern. So kann man seine Fotoaktion mit dem türkischen Präsidenten Erdogan schon als naiv, ja als deplatziert werten. Dennoch rechtfertigt diese kleinere Instinktlosigkeit keinesfalls die Reaktionen, die ja schon auf dem Niveau einer Staatskrise rangierten. Was wäre denn die Reaktion, wenn Mesut kein Muslim und seine Eltern keine Türken, sondern jüdische Rückkehrer aus Israel gewesen wären und Mesut Özil sich mit “seinem Präsidenten” Benjamin Netanjahu getroffen hätte? Wäre die BILD dann auch außer sich gewesen? Ganz sicher nicht. Özil ist als Nationalspieler ein Repräsentant des DFB und damit Deutschlands? Mag sein. Das sind aber andere auch. Franz Beckenbauer zum Beispiel, der im Namen des DFB die deutsche Stimme für die WM-Ausrichtung 2022 der absolutistischen Golf-Diktatur Katar gegeben und sich später – auch hier wieder als offizieller Vertreter des DFB – in nur noch abartig zu nennender Art und Weise über die Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen lustig gemacht hat. Wie halten es die großen Özil-Kritiker mit „Menschenrechten und Demokratie“? Der FC Bayern München des vorbestraften Steuerbetrügers, Wurstfabrikanten und Özil-Kritikers Uli Hoeneß bestreitet beispielsweise schon mal seine Trainingslager in Katar und nimmt auch gerne PR-Termine in der Saisonvorbereitung in Saudi Arabien wahr – warum gelten eigentlich für den kleinen Einwanderersohn aus Gelsenkirchen hier ethisch schärfere Regeln als für die Großkopferten und Lichtgestalten des deutschen Fußballs?

Wäre Deutschland in Russland Weltmeister geworden, wäre aber wohl auch das nur eine skurrile Fußnote. Die Nationalmannschaft schied jedoch sang- und klanglos in der Vorrunde aus und keiner der Verantwortlichen dachte auch nur im Traum daran, Verantwortung zu übernehmen. Man hatte ja den “türkischen Prügelknaben”, den ohnehin halb Deutschland nicht mag und es ist ja auch so herrlich einfach, sich als Trittbrettfahrer von AfD und BILD am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Was für eine erbärmliche Versagenskultur. So wurde das “Sag mir, wie Du es mit Erdogan hältst” doch tatsächlich zur Gretchenfrage der jüngeren deutschen Fußballgeschichte. Absurd. Derweil spuckten BILD und Co. Gift und Galle, während der noble DFB-Sponsor Mercedes – richtig, das waren die Moralapostel mit den vergasten Affen – Mesut Özil aus seinen Werbespots herausschnitt und die DFB-Spitze sich nicht etwa hinter ihren fünfmaligen Nationalspieler des Jahres stellte, sondern ganz im Gegenteil selbst zur Hexenjagd auf Özil blies. Oh, welch Niedertracht.

Das Signal an Einwandererkinder könnte schlimmer nicht sein. Jahrzehnte der Integrationsarbeit des DFB wurden von feigen Funktionären, die vor allem sich selbst und ihre gut dotierten Verträge retten wollten, ohne ein Wimperzucken zunichte gemacht. BILD und AfD werden sich feixend ins Fäustchen lachen. Und charakterlose Politschranzen springen sogar in letzter Sekunde noch auf den Zug, um den darniederliegenden Prügelknaben auch noch eins mitzugeben. “Ich glaube auch nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft gibt über die Integrationsfähigkeit in Deutschland”, so der neue SPD-Hoffnungsträger Heiko Maas in bestem Bierzeltpopulismus. Noch so ein Satz, der gnadenlos das feine Porzellan der Integrationsarbeit zerdeppert. So gesehen ist die Affäre rund um Mesut Özil durchaus repräsentativ für unsere Gesellschaft.

Wir sind ja aufgeklärt und haben nichts gegen “Ausländer”. Unser Gemüsehändler darf ruhig gen Mekka beten, unsere Putzfrau ihr Kopftuch tragen. Solange diese Einwanderer in niederen Jobs tätig sind und uns dienlich sind, ist uns das alles egal. Wir unterscheiden da schon zwischen “wir” und “sie”. Integration, oder das, was wir darunter verstehen, wird erst dann zum Thema, wenn Einwanderer oder Einwandererkinder gesellschaftlich aufsteigen. Darf der Gemüsehändler noch gen Mekka beten, ist das für den Nationalspieler schon nicht mehr gern gesehen und für den Chefredakteur, den Minister oder gar den Bundespräsidenten ein absolutes Ding der Unmöglichkeit. Während wir über das Kopftuch der Putzfrau gerne großzügig hinwegsehen, würden wir dies bei einer Staatsanwältin, einer Chefärztin oder gar einer Bundesverfassungsrichterin nie tun. Wer hier was darstellen will, der muss so sein wie wir. Würde Mesut Özil nicht zur Kaaba nach Mekka pilgern und zur Hymne beten, sondern so wie jeder g’scheite Deutsche auf der Wies’n seine Maß Bier herunterkippen und zum Anton aus Tirol auf den Tischen tanzen, hätten BILD, AfD und Fußballdeutschland sicher auch kein Problem mit ihm. „Mesut“ hin, „Özil“ her. Unser „Scholli“ heißt ja auch „Mehmet“ mit Vornamen, ist aber sonst zum Glück ganz normal. Oder um es zuzuspitzen: Özil wäre nur dann voll anerkannt, wenn er nur vom Namen her ein Einwanderer und ansonsten voll assimiliert wäre. Und das obwohl für ihn als in England lebenden Multimillionär sicher weniger scharfe Regeln gelten als für ein Einwandererkind aus prekären Verhältnissen im Ruhrpott.

Unsere Integrationsdebatte kennt keine Grautöne und denkt nur in absoluten Kategorien. Man ist entweder Deutscher oder Türke. Doch dieser Ansatz geht an der Lebenswirklichkeit vorbei und das ist doch beileibe keine neue Erkenntnis und noch nicht einmal sonderlich originell. In klassischen Einwanderungsländern käme kein Mensch auf die Idee, den Einwanderern ihre kulturellen Wurzeln austreiben zu wollen. Warum können unsere Özils denn eigentlich nicht gleichzeitig Deutsche und Türken sein? Es ist doch realitätsfern zu fordern, dass Menschen sich nur dann zu einer Nationalität bekennen können, wenn sie alle anderen Nationalitäten und Kulturen ablegen. Daran müssen die integrationswilligen Einwandererkinder scheitern. Und wenn man sie dann vor die Wahl stellt, entweder total und mit Haut und Haaren Deutscher zu werden oder es eben zu lassen, müssen wir uns auch nicht wundern, wenn immer mehr Menschen dieses “Angebot” nicht annehmen und es sein lassen. Aber vielleicht geht die Sache ja noch tiefer? Vielleicht akzeptieren wir ja generell “Fremde” nur dann, wenn sie uns dienlich sind, wenn sie uns Gemüse verkaufen, die Wohnung putzen, unsere Eltern und Großeltern pflegen, unseren Müll abholen und unseren Spargel stechen? Wenn dem so wäre, dann wären wir tatsächlich ein Volk voller Rassisten. Hoffen wir, dass es nicht so ist.

Anhang: Ein Brief unseres Lesers Rolf Erdmann

Liebe Redaktion der NDS,
 
ich habe mal, weil es sonst keiner tut, für Özil Partei ergriffen mit einer E-mail an die FR zu einem Artikel vom 23.07.18. Mich stört auch bei dem Thema, dass es in den Medien keinen Diskurs über den Vorfall gibt, sondern eine wirklich einstimmige Verurteilung, auch durch deutsche Politiker (Özdemir).  Der dortige Autor heißt auch Müller.
 
Mit freundlichen Grüßen, Rolf Erdmann

Sehr geehrter Herr Müller,
 
es ist erstaunlich, wie einig sich die deutsche Medienlandschaft und soweit ich sehe, sämtliche Politiker sind, die sich zu dem Thema geäußert haben; sie sind durchweg der Meinung, dass Özil mit dem Erdogan Foto einen schweren Fehler gemacht habe.
 
Sie schreiben, das Bild habe nicht nur in den Medien, sondern auch in der Bevölkerung großen Anklang gefunden. Erstaunliche Feststellung. Kann man das denn überhaupt trennen ?
 
Ich möchte mal die Antithese vertreten: Özil hat sich zu Recht mit Erdogan fotografieren lassen. 
 
Wie hätte er sich nach der Einladung verhalten sollen ? Hätte er sie annehmen, dann aber das Foto ablehnen sollen ? Oder hätte er den Kontakt mit Erdogan komplett vermeiden sollen ? Wie hätte das geschehen sollen ?
 
Kann man von Fußballern überhaupt erwarten, dass sie die Politiker, denen sie begegnen, vorher auf ihre politische Correctness prüfen ?
 
Und das in der Situation Özils, dessen Eltern aus der Türkei stammen und der noch Familie in der Türkei hat. Welche Reaktion wäre seitens der türkischen Regierung und der dortigen Öffentlichkeit auf einen derartigen Affront zu erwarten gewesen ? Vor allem, wenn die Ablehnung in Deutschland bekannt geworden wäre und Özil hier in der Presse als Verfechter der Menschenrechte in der Türkei gefeiert worden wäre. Die Folgen wären, gerade in einem so autoritären System, unabsehbar. Erwarten Sie, dass er sich diesem Risiko aussetzt ?
 
Hinzu kommt, dass ich Ihre Meinung für ziemlich bigott halte. Wie kann man bei einem Fußballer Maßstäbe anlegen, wie man es bei Politikern nie tun würde.
 
Kennen Sie einen deutschen Politiker, der sich geweigert hätte, sich mit Erdogan fotografieren zu lassen oder der den Handschlag verweigert hätte. Ich nicht. Ich kenne auch zumindest keinen Politiker unserer Regierung, der sich für ein Waffenembargo für die Türkei eingesetzt hätte.
 
Wir sind einfach moralisch gar nicht in der Position, Özil Vorwürfe zu machen, da wir selbst zutiefst unmoralisch handeln, wenn wir Erdogan weiter mit Waffen beliefern und er damit Krieg in Syrien führen kann. Die Geschäfte scheinen bei uns grundsätzlich moralische Bedenken wegzuwischen.
 
Auch unsere Proteste gegen diesen Krieg sind doch sehr zurückhaltend bis gar nicht vorhanden. 
 
Ich frage mich auch, ob Journalisten wie Sie auch aufgeschrien hätten (oder haben), wenn sich deutsche Fußballer mit Politikern wie Clinton, Bush, Obama oder Blair hätten ablichten lassen ? Was macht ein Fußballer, wenn Frau Merkel uneingeladen die Umkleide stürmt und er sich mit ihr (im Wahlkampf !) nicht ablichten lassen will ? Auf´s Klo verschwinden ?
 
Ich denke, dass man es sich in unseren Medien zu einfach macht und die Sache zu undifferenziert sieht. Der Gleichklang zu dem Thema allerorten halte ich für beunruhigend und für eine Medienlandschaft in einer pluralistischen (“offenen”) Gesellschaft nicht für angemessen.
 
Mit freundlichen Grüßen
Rolf Erdmann