Es war einmal … Ein Märchen von Menschenrechten in Deutschland

Lutz Hausstein
Ein Artikel von Lutz Hausstein

Über kaum ein anderes Thema wurde ein ganzes Jahrzehnt so kontrovers geschrieben, gesprochen, diskutiert und gestritten wie über die Sanktions-Paragraphen für Arbeitslosengeldempfänger. Dabei stehen sich die Gegner der Sanktionen – zumeist aus der Zivilgesellschaft – und Sanktionsbefürworter – in der Regel Vertreter aus Politik und Wirtschaft – unversöhnlich gegenüber. Zeit für klare Worte. Von Lutz Hausstein.

Es war einmal … Die zwölf faulen Knechte

Schon vor sechs Jahren habe ich mich in einem Artikel auf den NachDenkSeiten mit der Frage der Sanktionen sehr detailliert auseinandergesetzt. Darin beschrieb ich die Absurdität einer größeren Anzahl der den Sanktionen zugrunde liegenden „Vergehen“ der Betroffenen und widmete mich im zweiten Teil des Artikels der generellen Rechtmäßigkeit von Sanktionen. Um schlussendlich feststellen zu müssen, dass jegliche Sanktion, unabhängig von ihrer Höhe, verfassungswidrig ist. Aufgrund der Plausibilität dieser Darlegungen befand ich mich in dem folgenschweren Irrtum, dass eine nüchtern-sachliche Beschreibung das aberwitzige Gedankengebäude, auf welches die Logik von Sanktionen aufgebaut ist, zum Einsturz bringen müsse. Mehr als sechs Jahre und Millionen von Sanktionen später bleibt festzuhalten, dass diese Vorstellung trog. Bis zum heutigen Tage ignorieren handelnde Politiker ebenso wie meinungsbildende Medien diese Tatsachen und wiederholen die immer gleichen Phrasen, die sie als Argument deklarieren. Und so erscheint es nunmehr notwendig, mit deutlicheren Worten das menschenverachtende Prinzip der Sanktionen zu illustrieren.

Der am häufigsten gebrauchte Vorwurf, der angeblich die Anwendung von Sanktionen unabdingbar machen würde, lautet: Verweigerung von Arbeit. Nun ist allerdings diese durchaus griffige Behauptung alles andere als wahr, auch wenn sie noch so oft wiederholt wird. Diese Begründung greift nur bei rund 10 Prozent der Sanktionen (übrigens auch noch in der Kombination „Annahme/Fortführung einer Arbeit/Ausbildung/Maßnahme“ – also keineswegs in jedem Fall existenzsichernde, nicht einmal immer sinnvolle Tätigkeiten; diese bilden eher die Minderzahl). Nichtsdestotrotz ist das Schlagwort „Arbeitsverweigerung“ das ständige, häufig sogar das einzig gebrauchte Standardargument. Drei Viertel der Sanktionen werden hingegen wegen sogenannter Meldeversäumnisse verhängt, weitere 9 Prozent wegen Nichterfüllung von Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung. Die Standard-Entgegnung auf diese konkretisierten Fakten lautet in steter Regelmäßigkeit unisono, es sei wohl auch nicht zu viel verlangt, ab und zu einmal einen Gesprächstermin wahrzunehmen. Ob dieses Argument nun greift oder nicht, kann getrost unerörtert bleiben, denn es ist schlicht irrelevant.

Es ist vielmehr die Frage zu stellen, ob diese Gründe nun also dazu führen sollen, das vom Bundesverfassungsgericht als unverfügbar bezeichnete Existenzminimum zu unterschreiten oder sogar ganz zu streichen. Und auch noch an dieser Stelle werden sich Befürworter und Gegner von Sanktionen genauso unerbittlich gegenüberstehen und jeder für sich den eigenen Standpunkt als den einzig richtigen begreifen. Daher ist es notwendig, einen Vergleich zurate zu ziehen, der dem ersten Anschein nach weit hergeholt erscheint, der aber umso mehr verdeutlicht, wie schief diese Debatte von Beginn an ist.

Es war einmal … Tischlein, deck dich

Insassen von Gefängnissen sind in der Regel Personen, die sich eines mehr oder minder schweren Verbrechens schuldig gemacht haben. Die Palette der Taten, für die jemand zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, ist riesig und reicht bis hin zu schwerem Raub, Vergewaltigung und Mord. Trotz ihrer schweren Verbrechen wäre es unzulässig, amtsseitig die ihnen zustehenden grundlegenden Menschenrechte zu beschneiden. Man stelle sich das nur einmal vor! Ein wegen Raubes Inhaftierter müsste als Bestrafung bei Tag und Nacht, sommers wie winters, bei Wind und Wetter auf dem nichtüberdachten Gelände des Gefängniskomplexes statt in seiner immerhin witterungsunabhängigen Zelle zubringen. Einem der Vergewaltigung Verurteilten würde trotz Krankheit keine ärztliche Versorgung gewährt werden. Oder ein verurteilter Mörder erhielte als Strafe keine Nahrungsmittel. Der Proteststurm wäre – völlig zurecht – enorm und die Bundesrepublik säße, ebenfalls zurecht, schneller auf der Anklagebank der Vereinten Nationen, als man das Wort Menschenrechte überhaupt aussprechen könnte. Selbst Disziplinarmaßnahmen wegen Verstößen innerhalb des Strafvollzuges sehen weder den Verlust des Unterkommens noch der Krankheitsversorgung oder die Verweigerung von Nahrungsmitteln vor (§ 103 StVollzG).

Wenn die Menschenrechte auch für Strafgefangene gelten, da diese als egalitäre Rechte unveräußerbar jedermann einzig und allein aufgrund seines Mensch-Seins zustehen, muss doch die Frage gestellt werden, mit welchem Recht man nun Sozialleistungsempfängern diese Rechte abspricht. Denn nichts anderes ist es, wenn Sanktionen dazu führen, dass Menschen ihre Miete nicht mehr bezahlen können und deswegen obdachlos werden. Wenn Menschen die Krankenversicherung im Zusammenhang mit einer Komplettsanktion gestrichen wird und die Krankheitsversorgung durch die Krankenkasse nur noch als fakultative Good-Will-Option im Rahmen einer Notfall- und Schmerzversorgung stattfindet (oder auch nicht). Und dass sich Menschen aufgrund von Sanktionen keine Lebensmittel mehr leisten können und hungern müssen. Und Nein, der hier nun gern gebrauchte Verweis auf die Tafeln läuft ins Leere. Zum einen, da die privat organisierten, ehrenamtlichen Tafeln den Staat nicht von seiner Pflicht zur Sicherstellung dieses Menschenrechts entbinden können. Und zum anderen, weil die Tafeln keinerlei Pflicht zur Versorgung der bei ihnen nachfragenden Hilfsbedürftigen haben. Eine Abweisung dieser ist jederzeit aus den unterschiedlichsten Gründen, ja, auch ohne Angabe von Gründen möglich.

Auch der nächste Versuch der Rechtfertigung von Sanktionen, der beständig in Debatten wieder auftaucht, ist kein Argument, welches einer stichhaltigen Überprüfung standhält. Die Betroffenen hätten sich ja nur an die Regeln zu halten brauchen, dann bräuchte es die Sanktionen nicht. Mit der gleichen schrägen Begründung ließe sich auch der Entzug von grundlegenden Menschenrechten für Strafgefangene rechtfertigen, wie oben schon beschrieben. Hätte der Räuber nicht geraubt, der Vergewaltiger nicht vergewaltigt, der Mörder nicht gemordet, dann müsste man ihm nicht das Dach über dem Kopf nehmen, die Krankenversorgung entziehen, Nahrungsmittel verweigern. Menschenrechte sind unveräußerbar. Ich weiß nicht, was es an diesem Wort nicht zu verstehen gibt, meine Damen und Herren Juristen im Bundestag.

Völlig egal, wie es die Sanktions-Befürworter (ver-)drehen und wenden: An diesen Fakten kommt man nicht vorbei. Die Sanktionsgesetzgebung verletzt grundlegend Menschenrechte. Das besonders Bittere in diesem Zusammenhang ist jedoch, dass diese Paragraphen seit nunmehr fast 15 Jahren in Kraft sind und Abermillionen von Sozialleistungsempfängern in eine schwere Existenzkrise gestürzt haben. Schon allein die Existenz dieses menschenrechtswidrigen Zustands über solch einen langen Zeitraum, ohne dass die vehemente, fundierte Kritik aus der Zivilgesellschaft durch die handelnden Politiker überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, ist ein Skandal sondersgleichen. Denn nichts – aber auch gar nichts – kann den Entzug von Menschenrechten rechtfertigen.

Es war einmal … Der Richter und der Teufel

Schlussendlich bleibt nur zu konstatieren, was ich schon 2012 in meinem Artikel „In Gesetz gegossene Verfassungswidrigkeit“ festgestellt habe:

Das hat auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09. Februar 2010, welches sich mit der Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze auseinanderzusetzen hatte, in mehreren Anmerkungen bestätigt. Der damalige BVerfG-Vorsitzende, Hans-Jürgen Papier, erklärte das Grundrecht „eines menschenwürdigen Existenzminimums“, welches sich aus „der Menschenwürde-Garantie des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip“ ergibt, für „unverfügbar“. Dabei definiert das BVerfG das Existenzminimum keineswegs nur als die Notwendigkeiten zur Sicherung der rein physischen Existenz. Das BVerfG erklärte einen „verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch“, welcher sowohl die physische Existenz des Menschen als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zu gewährleisten habe.

Der Wortlaut wie auch der Sinn dieser Feststellungen ist somit absolut eindeutig:

  • das Existenzminimum ist definiert als die Summe aller materieller Aufwendungen, welche für die physische Existenzsicherung sowie ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben notwendig sind
  • die Höhe des vollständigen Regelsatzes, welcher transparent und bedarfsgerecht zu ermitteln ist, entspricht dem Existenzminimum
  • das Existenzminimum ist unverfügbar, das heißt, es darf auf keinen Fall unterschritten werden

Die Zusammenführung dieser drei Feststellungen kann bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen nur zu einem Schluss führen: Die Durchsetzung von Sanktionen und damit die Unterschreitung eines verfassungskonformen Existenzminimums ist verfassungswidrig. Da es sich bei der vollen Höhe des Regelsatzes um das Existenzminimum handelt, gilt dies auch für jede beliebige Höhe einer Sanktion. Denn schon mit dem Entzug des ersten Euro wird dieser Zustand erreicht.

Auch an das Existenzminimum geknüpfte Bedingungen mit dem Ziel, dieses zu unterschreiten, sind somit verfassungswidrig und folglich rechtsunwirksam. Damit wird auch die Vielzahl dubioser Sachverhalte obsolet, welche dafür missbraucht werden, um Sanktionen zu rechtfertigen.

Dass die Berechnung der Höhe der Mindestsicherung nach wie vor einer äußerst dubiosen Logik folgt, steht hierbei auf einem anderen Blatt. Denn auch sie sichert keinesfalls die in diesem BVerfG-Urteil dargelegten Vorgaben nach physischer Existenzsicherung und sozialer Teilhabe. Eine Fortführung der Sanktionen führt diese jedoch komplett ad absurdum.

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