Der Ausnahmezustand in Chile. Der Kampf um eine Zukunft, die hinter der Vergangenheit liegt

Der Ausnahmezustand in Chile. Der Kampf um eine Zukunft, die hinter der Vergangenheit liegt

Der Ausnahmezustand in Chile. Der Kampf um eine Zukunft, die hinter der Vergangenheit liegt

Wolf Wetzel
Ein Artikel von Wolf Wetzel

Am 26. Oktober 2019 demonstrierten alleine in der Hauptstadt Santiago de Chile über eine Million Menschen gegen das, was die Militär-Diktatur etabliert hat und was die (parlamentarische) Demokratie in den folgenden 30 Jahren unangetastet ließ. Nun hat der Präsident Sebastian Piñera sein gesamtes Kabinett zum Rücktritt aufgefordert. Ein Beitrag, der nicht nur die letzten 30 Jahre Demokratie in Chile reflektiert, sondern auch daran erinnert, welche Ideen und Kämpfe unter der 17 Jahre währenden Militärdiktatur begraben liegen. Von Wolf Wetzel.

Lesen Sie dazu auch: Frederico Füllgraf – „Chile – Der Flächenbrand im neoliberalen Paradies, seine Ursachen und die Folgen“.

Während ich Auto fahre, höre ich manchmal Musik, ohne wirklich zuzuhören. Ich schalte den CD-Player an und es erklingt das Lied: El Pueblo unido, jamás será vencido. Ein Lied aus den 70er Jahren: Ein vereintes Volk wird niemals besiegt. Die chilenische Musikgruppe, die dieses Stück komponierte, hat den schwer aussprechbaren Namen: Quilapayún.

Die Klänge dringen an mein Ohr und plötzlich sind sie ganz nahe und bringen Wehmut und Traurigkeit mit. Das hat auch etwas damit zu tun, dass es seit Tagen viele Nachrichten aus Chile gibt, die Regierung den Ausnahmezustand verhängt hat und zum ersten Mal – nach dem Ende der Militärdiktatur – Soldaten auf der Straße patrouillieren.

Quilapayún war eine der großartigsten Musikgruppen der 1970er Jahre. Jenseits des Pops, des Rocks gab es nicht viel. Und politische Bands waren ganz selten und wenn es sie gab, wurden sie von deutschen Medien, von den Öffentlich-Rechtlichen stummgeschaltet. Man spielte sie einfach nicht. Es gab ein Verbot, das es offiziell natürlich nicht gab. Dazu gehörte auch Ton Steine und Scherben, die Band der 1970er Jahre, wenn man politisch, antikapitalistisch und militant unterwegs war.

Die Gruppe Quilapayún erkannte man von weitem: Sie trugen lange schwarze Ponchos und dunkle Bärte. Sie war damals noch mehr als heute etwas Besonderes: Es war eine chilenische Gruppe, die der Unidad Popular nahestand, die den Kampf gegen imperiale Abhängigkeiten und die Herrschaft der Oligarchie unterstützte und musikalisch begleitete.

Im letzten Jahr der gewählten Regierung unter Salvador Allende komponierten sie das Lied: El pueblo unido. Es war ein musikalischer Aufruf, allen Putschgerüchten, allen Sanktionen, allen Formen des Wirtschaftskrieges zum Trotz zusammenzuhalten, damit Chile nicht wieder in die Hände derer fällt, die den Reichtum dieses Landes unter einer Minderheit aufteilen.

Es ist ein pathetisches, aufrührerisches Lied:

El pueblo unido jamás será vencido!
El pueblo unido jamás será vencido!
Das vereinte Volk wird nie besiegt!
Das vereinte Volk wird nie besiegt!
De pie cantar, que vamos a triunfar,
avanzan ya banderas de unidad
y tú vendrás marchando junto a mi
y así verás tu canto y tu bandera al florecer.
La luz de un rojo amanecer
anuncia ya la vida que vendrá,
Aufstehen und singen, dass wir siegen werden!
Vorwärts mit den Fahnen der Einheit!
Und du kommst und marschierst mit mir.
So wirst du dein Lied und deine Fahne erblühen sehen!
Das Licht eines roten Tagesanbruchs kündigt schon
das Leben, das kommen wird, an.
De pie marchar, que el pueblo va a triunfar;
será mejor la vida que vendrá,
A conquistar nuestra felicidad
y en su clamor mil voces de combate se alzaran;
dirán canción de libertad.
Con decisión la patria vencerá.
Aufstehen und kämpfen, das Volk wird siegen!
Das Leben, das kommen wird, wird besser sein.
Erobern wir uns unser Glück!
In einem Aufschrei werden sich tausend Stimmen für den Kampf erheben,
das Lied der Freiheit anstimmen und mit Entschlossenheit das Vaterland zum Siege führen.
Y ahora el pueblo que se alza en la lucha
con voz de gigante gritando; adelante!
(…)
Und nun erhebt sich das Volk zum Kampf
und schreit mit der Stimme eines Riesen: “Vorwärts!”
(…)

„Wenige Tage vor dem blutigen Putsch, der am 11. September stattfindet, singt Quilapayún das Lied auf einer Massendemonstration für die Regierung Allende. Am Tag des Putsches selbst ist die Gruppe auf einer Europatournee in Frankreich, sie kann nicht zurückkehren. Ihre Mitglieder leben bis 1988 im Exil. Sie ziehen von Solidaritätsveranstaltung zu Solidaritätsveranstaltung. Das Konzert in Hannover am 19. Mai 1974 ist das bekannteste dieser unermüdlichen Tournee, dank der Live-LP „Solidarität mit Chile“. Beteiligt ist eine zweite Gruppe des Nueva Canción Chilena, die 1967 gegründete Gruppe Inti-Illimani, Genauso wie Quilapayún sind sie auf Europatournee, als Pinochet putscht.“ (Magazin Mitbestimmung, Ausgabe 11/2016)

Ganz berühmt und für uns zu hören, war sie nach dem Militärputsch in Chile 1973. Dieser löste in Deutschland eine ungeahnt große Solidaritätsbewegung aus, die sich durchaus mit den Anti-Vietnam-Protesten vergleichen lässt. Es gab in Folge des Militärputsches, als Reaktion auf die Verfolgung der Opposition große Demonstrationen, viele Veranstaltungen in Deutschland.

Ich kann mich noch an eine der eindrucksvollsten Veranstaltungen in Frankfurt erinnern. Sie fand in der Universität statt, im legendären Hörsaal VI, in den vielleicht 1.000 ZuhörerInnen passten, wenn man die Plätze auf/vor der Bühne und in den Gängen dazunahm. In meiner Erinnerung war es nicht viel später als der Militärputsch 1973. Man wusste sehr schnell, dass dieser Putsch die vollste Unterstützung der US-Regierung hatte, aber auch die Unterstützung bürgerlicher Parteien in Deutschland.

Am nachhaltigsten blieb mir eine kleine, zierliche Frau in Erinnerung, die für die MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) sprach. Die MIR war eine revolutionäre Organisation, die den Spagat wagte, einerseits die „Volksfrontregierung“ für ihre zögerliche, legalistische und zurückweichende Haltung zu kritisieren und gleichzeitig die Leibgarde für den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende zu stellen.

Debray und Allende haben diesen Widerspruch, den man auch Dialektik nennen kann, sehr früh auf den Punkt gebracht: „Was den Wahlsieg ermöglicht hat, ist auch das, was seine Verwandlung in den Sieg schlechthin bremst.“ (Der chilenische Weg, Luchterhand 1972). Nach dem Militärputsch präzisierte Régis Debray, ein enger Vertrauter und Weggefährte von Salvador Allende, diese paradoxe Herausforderung: Man muss sich reformistisch verhalten, „um von einem staatlichen Kommandoposten aus die Klassenkämpfe in eine sich steigernde Dynamik zu versetzen.“ Man muss sich revolutionär verhalten, „um von derselben Dynamik nicht überholt und zerstückelt zu werden.“ (Der chilenische Filter, Die Schlacht um Chile, LAIKA-Verlag, 2011, S. 113)

An der kleinen zierlichen Frau war noch etwas Besonderes. Sie hatte einen versteiften linken Arm, den sie angewinkelt am Körper hielt und eine unheimlich klare Stimme, die alle „Gebrechlichkeiten“ in den Schatten stellte. Sicherlich wird sie auch die Entwicklungen nach dem Putsch geschildert haben. Ich habe den Wortlaut ihres Beitrages nicht mehr in Erinnerung, nur den immer wieder einsetzenden Applaus, der darauf schließen lässt, dass sie auch darüber gesprochen hatte, wie man weiterkämpft, wie man der Diktatur nicht das letzte Wort überlässt. Und dann trat in meiner Erinnerung noch die besagte Gruppe Quilapayún auf.

Als ich das Lied El pueblo unido im Auto hörte, vermischten sich Klänge und Erinnerungen mit den aktuellen Nachrichten und Bildern aus Chile. Auslöser der aktuellen Proteste sind angekündigte Fahrpreiserhöhungen. Massive Polizeieinsätze erstickten die Proteste nicht, sondern bestärkten sie und verteilten sie im ganzen Land. Die konservative Regierung unter Piñera verhält sich dabei ganz international: Auf der einen Seite fabuliert sie von einem „Krieg gegen einen mächtigen Feind“, um damit den Ausnahmezustand zu rechtfertigen. Gleichzeitig ist sie noch realitätsnah genug, um zu begreifen, dass es um keinen Krieg gegen einen mysteriösen Feind geht, sondern um eine Regierungspolitik, die sich fortgesetzt um mehr Armut und Ausbeutung sorgt, und dabei auch bereit ist, Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu führen.

Also schafft sie beides: Zum einen geht sie sogar mit Schusswaffen gegen die protestierenden Menschen vor, und verspricht gleichzeitig, die angedrohten Fahrpreiserhöhungen zurückzunehmen, was nach internationalen Standards nur bedeutet, sie dann durchzusetzen, wenn sich die Lage beruhigt hat.

Aber das tut sie nicht. Im Gegenteil. Der Widerstand weitet sich übers ganze Land aus. So haben die Arbeiter der größten Kupfermine der Welt, Chuqicamata in der Nähe von Calama, angekündigt, in den Streik zu treten. Sie folgen damit einem Aufruf zahlreicher Gewerkschaften zum Generalstreik in der nächsten Woche. Gleichzeitig rufen verschiedene Mapuche-Organisationen in einer gemeinsamen Erklärung zur Solidarität mit den Protesten auf:

„Wir solidarisieren uns mit den Studenten, Arbeitern, Familien und sozialen Organisationen, die spontan beschlossen haben, ihre Empörung auf dem gesamten Staatsgebiet zum Ausdruck zu bringen. Wir rufen zum Aufbau einer neuen Gesellschaft auf; wir Mapuche haben bereits unsere Ziele dargelegt.“ (amerika21.de vom 24.10.2019)

Ebenso hat die Hafenarbeiter-Gewerkschaft Chiles zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen. In ihrem Kommuniqué heißt es: „Obwohl das Epizentrum des Sozialprotestes jetzt der Preisanstieg des Metro-Tickets in der Hauptstadt ist, können wir nur unterstreichen, dass diese angesammelte Wut heute durch die Ablehnung der endlosen sozialen, wirtschaftlichen und arbeitsrechtlichen Ungerechtigkeiten zum Ausdruck kommt, die die hart arbeitenden Menschen treffen“. Der Regierung wird vorgeworfen, „ihre politische Verantwortung zu verbergen, indem sie weiterhin diejenigen finanziert, die aus den öffentlichen Verkehrsmitteln Profit ziehen“ und zu polizeilicher Repression greifen, die „an die dunkle Zeit in der Geschichte unseres Landes“ erinnere. (s.o.)

Endlose soziale Ungerechtigkeiten

Man könnte meinen, dass mit dem Ende der Militärdiktatur 1990 alles, vieles besser wurde. Doch nachdem „die Demokratie in Blut gebadet“ wurde, wie es der Diktator Pinochet durchaus systemanalytisch formuliert hatte, kehrte vor allem der Kapitalismus zurück, dessen Widerspruch im Blut ertränkt wurde. Was mit der Diktatur als militärischem Begleitschutz eingeführt wurde, war jener Neoliberalismus, der um einige Jahre später auch in Europa Einzug gefunden hat:

  • weniger „Regulierung“, also Begrenzungen privatkapitalistischer Macht
  • weniger „Sozialstaat“, also Schutz vor absoluter Armut
  • weniger „Staat“, also mehr Kapitalismus sans phrase
  • mehr „Eigeninitiative“, also mehr Egomanie und Selbstausbeutung
  • also kurzum monströser Reichtum für ganz Wenige und ganz viel Armut mit (und ohne) Arbeit.

Was heute in Chile das Fass zum Überlaufen gebracht hat, beschreibt Andrés Figueroa Cornejo so:

„Es ist eine Ordnung, die seit der Militärdiktatur als Polizei- und volksfeindlicher Staat aufgebaut worden ist; ein Fest der kapitalistischen Konzentration und Herrschaft der großen Wirtschaftskonzerne, die den Wettbewerb brutal zerstören, Preise aufdrücken und die kleinen und mittelständischen Betriebe in der Wertschöpfungskette unterordnen, entsprechend der Projektion ihrer Profitraten. Chile, großer Exporteur, Finanzplatz eines großen Teils Südamerikas, geschlagen vom Extraktivismus und seinen schädlichen Folgen für die Gemeinden und die Natur.“ (amerika21.de vom 25. 10.2019)

Das klingt hart und übertrieben. Schließlich wurde doch 1990 die Diktatur beendet. Schließlich leben doch die Menschen in Chile seit fast 30 Jahren in einer (parlamentarischen) Demokratie. Auf welche Weise hat also dennoch die Diktatur überdauert?

Ein sehr eindrucksvolles Beispiel ist das Rentensystem, das die demokratische Grundidee in sich trägt, dass die Menschen im Alter nicht in Hunger leben sollen. Genau dieses Rentensystem gehörte zu einer der wichtigsten Angriffsziele der Diktatur unter Pinochet. Bis dahin war der Rentenfond in öffentlicher Hand. Nun wurde dieses milliardenschwere Vermögen privatisiert und in die Hände von Banken und Versicherungen gelegt, damit diese damit straffrei spekulieren können:

„Die privaten Pensionsfonds sind eine Erfindung des in Chicago unter Milton Friedman ausgebildeten, ultraliberalen José Piñera, Bruder des amtierenden Präsidenten und Multimilliardärs Sebastián Piñera und ehemaliger Arbeitsminister von General Augusto Pinochet. In dessen Auftrag zerschlug José Piñera Anfang der 1980er Jahre die seit Jahrzehnten in Kraft befindlichen chilenischen Arbeitsschutzrechte und das solidarische staatliche Rentensystem.“ (Frederico Füllgraf)

Lesen Sie dazu auch: Frederico Füllgraf – Millionen protestieren gegen Pinochets Rentensystem und fordern Rücktritt von Michelle Bachelets Wirtschaftsminister.

Wie sieht die Bilanz nach fast 40 Jahren aus?

An dem System der privaten Rentenfonds wurde nichts geändert. Man übernahm es, als hätte es die Diktatur nie gegeben. Lediglich ganz unten, gegen den Fall ins Bodenlose, hat man eine dünne Decke eingezogen. Seit 2008 existiert ein „System Solidarischer Pensionen“ („Sistema de Pensiones Solidarias“), das eine minimale Alters-Grundrente („Pensión Básica Solidaria de Vejez“) in gegenwärtiger Höhe von umgerechnet 140 Euro an 1,35 Millionen in Armut lebender Chileninnen und Chilenen zahlt.“ (s.o.)

Während sich das Vermögen der Superreichen in Chile auf 500 Milliarden US-Dollar auftürmt, hat das Ministerium für soziale Entwicklung und Renten-Aufsicht festgehalten, was für den Rest übrigbleibt: „90,7 Prozent der Rentner im Lande erhalten eine Rente von weniger als 146.000 Pesos (umgerechnet 185 Euro).“ (s.o.)

Seit fünf Jahren kämpft ein Bündnis mit dem Namen No Más AFP (Schluss mit den AFP) gegen dieses kriminelle System, das sechs Finanzkonzerne unter sich aufteilen, ein Konsortium, das die Bürgerbewegung als „kriminelle Vereinigung“ bezeichnet. Noch im Wahlkampf 2017 versprach „der seit März 2018 zum zweiten Mal amtierende Präsident Sebastian Piñera, er werde die Renten der Chilenen „verbessern“. Nichts ist seitdem geschehen, vielmehr entriss Piñera die Rentenpolitik seinem Finanz- und Sozialressort und erklärte sie zur „exklusiven Sache des Staatschefs“. Der Erklärung folgte, wie bei so manchen anderen brenzligen Fragen mit Dringlichkeitscharakter, dröhnendes Schweigen; zum Nachteil der Rentner.“ (s.o.)

Mit Wahlen, den Spielregeln des Kapitalismus zum Sozialismus?

Die Unidad Popular, ein Parteienbündnis aus Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten und kleinen linken Parteien, ist 1970 durch Wahlen und mit den Stimmen der Christdemokratischen Partei an die Regierung gekommen. Allendes Botschaft an den Kongress vom 21. Mai 1971 lautete:

„Unsere Aufgabe besteht darin, als Chiles Weg zum Sozialismus ein neues Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das den Menschen, seine Bedürfnisse und seine Forderungen in den Mittelpunkt stellt, zu definieren und in die Praxis umzusetzen.“

Gegen wen sich das Programm richtete, war im Regierungsprogramm der Unidad Popular vom 17. Dezember 1969 deutlich formuliert: „Beendigung der Herrschaft der Imperialisten, der Monopole und der Oligarchie der Großgrundbesitzer und der Beginn des Aufbaus des Sozialismus in Chile.

Tatsächlich sah das Programm der Unidad Popular genau die Schritte vor, die diese Ankündigung in die Praxis umsetzen sollten. Ein Programm, das heute so utopisch klingt, dass man sich die Augen reiben muss:

  • Verstaatlichung der Banken und Finanzgesellschaften
  • Verstaatlichung des Kupfers, zum größten Teil im Besitz US-amerikanischer Firmen
  • Intensivierung der Agrarreform
  • Überführung des vorherigen Privatbesitzes enteigneter Firmen in Kollektiveigentum
  • Die Anhebung der Löhne und Gehälter
  • Die Mieten dürfen nur zehn Prozent des Familieneinkommens ausmachen
  • Ein staatliches Rentensystem, in das alle einzahlen, also auch Unternehmer und Selbstständige

Davon ist vieles, viel zu viel (im Augen der Besitzenden) umgesetzt worden: Kinder bis 15 Jahre erhielten unentgeltlich einen halben Liter Milch, die Löhne der Arbeiter und Angestellten wurden entsprechend der Inflationsrate erhöht, die Mindestlöhne verdoppelt. Preise für Strom und Haushaltsgas sowie die Transporttarife wurden eingefroren. Gleichzeitig wurde ein Programm zum Bau von 100.000 Wohnungen in Angriff genommen. Es begann die kostenlose Behandlung in Krankenhäusern und Polikliniken.

Auch die Agrarreform, ein Kernstück jeder gesellschaftlichen Transformation in Lateinamerika, verdiente seinen Namen:

„In zwei Jahren wurde soviel Land enteignet wie unter der DC-Regierung in sechs, d.h.: „Zwischen dem 4. September 1970 und dem 31. März 1972 wurden genau 2.193 Latifundien mit einer Gesamtfläche von 3,5 Mio. Hektar (das entspricht 22.269 Großgrundbesitzerfamilien) enteignet.“ (Maricheweu! Zehnmal werden wir siegen, Olaf Kaltmeier, 2004, S.134)

Der Kampf um eine Zukunft, die hinter der Vergangenheit liegt

„Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre“ (Parole 2019)

Am 25. Oktober 2019 gingen alleine in der Hauptstadt Santiago de Chile über eine Million Menschen auf die Straße. Längst geht es nicht mehr um Ticketpreise für die U-Bahn. Die Proteste richten sich gegen zu geringe Löhne und Renten, gegen hohe Studiengebühren und Lebenshaltungskosten. „In einer ersten Reaktion erklärte Präsident Sebastián Piñera: ‚Wir alle haben die Botschaft vernommen.‘ Weiter schrieb er auf Twitter: ‚Wir alle haben uns verändert. Mit Einigkeit und Gottes Hilfe werden wir den Weg zu einem besseren Chile für alle gehen.‘ Konkrete Maßnahmen nannte er aber nicht.“ (dw.com vom 26.10.2019)

Der Multimilliardär Sebastián Piñera, der laut Forbes Magazine ein Vermögen 2017 von 2,7 Milliarden US-Dollar besitzt, hat nichts Besseres zu tun, auch noch Gott in all das hineinzuziehen. Ohne Gott hat er nun sein gesamtes Kabinett aufgefordert, zurückzutreten. Auf die Idee, dass der Chef einer Wirtschaftspolitik zurücktritt, die ihn zu einem der reichsten Menschen auf diesem Erdball gemacht hat, kommt er ganz und gar nicht.

Wenn man die Forderungen in den heute geführten Kämpfen mit dem vergleicht, was in den 1970er Jahren gefordert und zu einem beachtlichen Teil umgesetzt wurde, dann erahnt man, wie bescheiden das ist, wofür heute über 19 Menschen ums Leben gekommen sind, wofür heute der Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt wurden.

Wenn also die Regierungen (in Chile und anderswo) und auch jene, die bald an die Regierung kommen wollen, uns erzählen, dass die letzten 50 Jahre viel Wohlstand und Fortschritt gebracht haben, dann sollte man wissen, dass an diesem Fazit ganz viel Blut klebt.
Titelbild: vladm/shutterstock.com und Redfish

Quellen/Literaturhinweise:

  • El pueblo unido jamás será vencido
  • Chile: “Renten reichen kaum für die Leichenbestattung” – Selbsttötungen der Pensionäre auf Höchststand, Frederico Füllgraf, NDS vom 19. Oktober 2019
  • Die Schlacht um Chile, Bibliothek des Widerstandes, LAIKA Verlag, 2011
  • MIR –Die revolutionäre Linke Chiles, Bibliothek des Widerstandes, LAIKA Verlag, 2011
  • Chile – Der Flächenbrand im neoliberalen Paradies, seine Ursachen und die Folgen, Frederico Füllgraf, NDS vom 26. Oktober 2019