„Nichts ist kostbarer als die Freiheit“ (Ho Chi Minh)

„Nichts ist kostbarer als die Freiheit“ (Ho Chi Minh)

„Nichts ist kostbarer als die Freiheit“ (Ho Chi Minh)

Rainer Werning
Ein Artikel von Rainer Werning

Vietnam: Antikolonialer Widerstand mit Tradition (Teil VI von VII). Im sechsten Teil der siebenteiligen Serie zur Vorgeschichte, zum Verlauf und zu den Vermächtnissen des Zweiten Weltkriegs in Ost- und Südostasien beschäftigt sich unser Autor Rainer Werning mit der Herrschaft Japans über Vietnam, das seit 1887 Teil von Französisch-Indochina war. Von Rainer Werning.

Für die Kaiserlich-Japanischen Truppen war diese Kernregion im kontinentalen Südostasien wegen seiner Rohstoffe und militärstrategischen Lage von herausragender Bedeutung, bildete sie doch das Scharnier zwischen China und dem Südzipfel der malaiischen Landzunge inklusive Singapur sowie der britischen Kolonie Birma. Nach dessen Eroberung erhoffte man sich in Tokio einen ungehinderten Zugang zum gesamten indischen Subkontinent. In Indien, so das Kalkül der Achsenmächte Japan und Deutschland, sollten sich die siegreichen Truppen beider Mächte treffen und die Neuaufteilung der asiatisch-pazifischen Welt gemäß koordiniertem imperialen Design vornehmen.

Vorbemerkung

„75 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Ost- und Südostasien – Vorgeschichte, Verlauf, Vermächtnisse“ lautet der Titel dieser siebenteiligen Artikelserie von Rainer Werning, die die NachDenkSeiten innerhalb dieses Jahres in regelmäßigen Abständen veröffentlicht. Lesen Sie bitte auch die ersten fünf Teile dieser Serie (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4 und Teil 5.

„Im Herbst 1940, als die japanischen Faschisten in Indochina eindrangen, um es als Stützpunkt im Krieg gegen die Alliierten zu benutzen, verrieten die französischen Kolonialherren unser Land, gaben es in die Hände der Eroberer und kapitulierten vor Japan. Seitdem hat unser Volk unter dem doppelten japanisch-französischen Druck zu leiden. Das verschlechterte die ohnehin jammervolle Lage des Volkes. Ende 1944 und Anfang 1945 starben in weiten Gebieten, von Quang Tri im Süden bis zum Norden des Landes, über zwei Millionen unserer Landsleute an Hunger. Am 9. März 1945 entwaffneten die Japaner die französischen Truppen. Und wieder sind die französischen Kolonialherren geflohen oder sie haben vor den Japanern kapituliert. So vermochten sie nicht nur nicht, uns zu „schützen“, sondern sie verkauften im Gegenteil unser Land im Laufe von fünf Jahren zweimal an die Japaner. (…)

De facto hat unser Land im Herbst 1940 aufgehört, französische Kolonie zu sein; es wurde zu einer japanischen. Nach der Kapitulation Japans erhob sich die gesamte Bevölkerung unseres Landes, nahm die Macht in die eigenen Hände und gründete die Demokratische Republik Vietnam. So haben wir eigentlich unsere Freiheit und Unabhängigkeit den Japanern und nicht den Franzosen entrissen.“

Aus der Unabhängigkeitserklärung, die der Revolutionsführer Ho Chi Minh am 2. September 1945 in Hanoi anlässlich der Gründung der Demokratischen Republik Vietnam (DRV) verkündete

„Der vietnamesische Historiker Le Than Khoi schildert in seinem 1955 in Paris erschienenen Buch ‚Le Vietnam. Histoire et Civilisation‘, in welch unbeschreiblichem Elend die große Mehrheit der Vietnamesen in dieser Zeit [zu Beginn der 1940er Jahre – Anm.: RW] lebte. Für die vietnamesischen Arbeiter gab es keinen freien Sonntag, keinen bezahlten Urlaub, keine gesundheitliche Betreuung, keine Sozialversicherung, keine Arbeitslosenunterstützung. Für die geringsten ‚Vergehen‘ gab es Prügelstrafen, Geldbußen und Gefängnis. Auf den südvietnamesischen Plantagen starben jährlich Hunderte von Menschen an den Folgen der barbarischen Behandlung.

Die Kohlenminen von Hong Gai in Nordvietnam und die Kautschukplantagen im Süden unterhielten ihre eigene Polizei, einen eigenen Spitzelapparat zur Überwachung der Arbeiter und eigene Gefängnisse. Ihr Elend beschreibt der US-amerikanische Journalist H. A. Frank in seinem 1926 in London veröffentlichten Buch ‚East of Siam‘ so:
‚Es sind arme Sklaven, in armselige Lumpen gehüllt, und schwach ist die Hand, welche die Hacke schwingt. Die Sonne brennt erbarmungslos, die Arbeit ist kräftezehrend, doch sie bringt nur wenig ein. Es gab dort auch Frauen, und vor allem, hinter den Kohlekarren, kleine Kerlchen von kaum zehn Jahren; ihre von Erschöpfung gezeichneten, mit Kohlenstaub bedeckten Gesichter aber glichen denen von Vierzigjährigen. Ihre nackten Füße waren von einer harten Kruste bedeckt. Ohne Pause trotteten sie durch den Staub.‘

Und der französische Geograf Pierre Gourou schreibt in seinem Buch ‚L’ Asie‘ (Paris 1954): ‚Hunger und Elend zwingen die tonkinesischen und annamitischen Bauern, auf Insekten Jagd zu machen, die sie dann gierig verzehren. In Tonkin fängt man Heuschrecken, Grillen, Eintagsfliegen, sammelt einige Raupen und Bambuswürmer und schreckt auch nicht davor zurück, die Puppen der Seidenraupe zu essen. Jedermann weiß, dass dort ständig Hungersnot herrscht.‘

(…) Diese kurzen Einblendungen verdeutlichen, warum die große Mehrheit der Vietnamesen dem Aufruf der am 19. Mai 1941 von Ho Chi Minh gegründeten Vietnam Doc Lap Dong Minh, der Liga für die Unabhängigkeit Vietnams, zum nationalen Befreiungskampf folgte. Die kurz Viet Minh genannte Befreiungsfront bestand nicht nur aus Kommunisten, wie oft fälschlicher Weise angeführt, sondern ihr gehörten breite Bevölkerungsschichten an: Arbeiter und Bauern, verschiedene Schichten des Kleinbürgertums, Vertreter der Intelligenz, der nationalen Bourgeoisie, Angehörige der nationalen Minderheiten, buddhistische Mönche, vietnamesische Soldaten der französischen Kolonialarmee und selbst Mandarine, Angehörige der hohen vietnamesischen Feudalschicht.

Am 22. Dezember 1944 bildete die Viet Minh offiziell eine erste Partisanen-Einheit, aus der eine rasch anwachsende Volksarmee hervorging. Ihr Befehlshaber wurde der 31jährige Lehrer Vo Nguyen Giap, der spätere Verteidigungsminister der Demokratischen Republik Vietnam (DRV). Er kommandierte auch die vietnamesischen Truppen, von denen die Franzosen im Mai 1954 in der Schlacht bei Dien Bien Phu geschlagen wurden.

Am 9. August rief die Viet Minh zum bewaffneten Aufstand gegen die japanischen Truppen auf, die im Frühjahr 1940 Vietnam besetzt hatten, und gegen die französischen Kolonialisten, die unter der japanischen Besatzung die Verwaltung weiter ausübten. Am 19. August nahmen die Vietnamesen Hanoi ein, am 23. August die alte Kaiserstadt Hue. Das Ereignis wird von den Vietnamesen als Augustrevolution bezeichnet.

Die Führung der Viet Minh konstituierte sich am 25. August zur provisorischen Regierung. Am 2. September 1945 erklärte Ho Chi Minh Vietnam für unabhängig. Die Grundsätze der Proklamation könnten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 entstammen: ‚Alle Menschen sind gleich erschaffen. Von ihrem Schöpfer wurden sie mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter dem Recht auf Leben, auf Freiheit und auf das Streben nach Glück.‘ Die Unabhängigkeitserklärung endete mit den Worten: ‚Das vietnamesische Volk ist entschlossen, all seine geistigen und materiellen Kräfte aufzubieten, Leben und Besitz zu opfern, um sein Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit zu behaupten.‘ (…)

Am 6. Januar 1946 wird in Vietnam zum ersten Mal eine Nationalversammlung gewählt. Zugelassen sind auch Parteien und Organisationen, die der Viet Minh nicht angehören. Die Viet Minh belegt 230 der 300 Sitze. Am 2. März wird Ho Chi Minh zum Präsidenten der DRV gewählt.“

Aus: Geschichte des Vietnamkrieges – Agent Orange Website

Japan – Hegemonialmacht in Ost- und Südostasien

Japan entwickelte sich um die vorletzte Jahrhundertwende zur hegemonialen Macht in dieser Weltregion. „Der Kaiser ist heilig und unverletzlich“, hieß es in der japanischen Verfassung von 1890, und er sei legitimiert, als direkter Nachfahre der Sonnengöttin Amaterasu mit unbeschränkter Machtfülle zu regieren. Als Souverän des Landes führte der Kaiser (Tenno) Exekutive und Legislative, aber auch Heer und Marine. Nach zwei siegreichen Kriegen gegen China und Russland in den Jahren 1894/95 beziehungsweise 1904/05 war Japan zur unangefochtenen Regionalmacht aufgestiegen.

Im September 1931 besetzte die in der Mandschurei stationierte japanische Kwantung-Armee mehrere Großstädte in der Region, die als Puffer gegenüber der Sowjetunion strategische Bedeutung hatten. Im Juli 1937 ließ schließlich ein inszenierter Angriff auf eine japanische Militäreinheit bei Peking den Krieg gegen China an allen Fronten eskalieren.

Unter diesen Bedingungen erlebte Japan zwischen 1930 und 1940 ein phänomenales Wachstum seiner Wirtschaft. Die Industrieproduktion stieg um das Fünffache, die Stahlproduktion von 1,8 auf 6,8 Millionen Tonnen pro Jahr, allein 1939 verließen 5000 neue Kampfflugzeuge die Montagehallen. Bei Handelsschiffen lag die Tonnage 1937 bei 405.195 Tonnen und hatte sich damit im Vergleich zu 1931 mehr als vervierfacht. Die Militärausgaben wuchsen gleichfalls überproportional. Gemessen am Gesamthaushalt Japans erreichten sie 1938 – ein Jahr nach der Invasion gegen China – einen Anteil von 75,4 Prozent. Schließlich verdoppelte sich von 1936 bis 1941 die Zahl der Wehrpflichtigen, so dass am 1. Januar 1942 sechs Millionen Soldaten unter Waffen standen.

Japans Kriegsökonomie erforderte die Sicherung strategisch wichtiger Rohstoffe, die zunächst aus China und seiner Kolonie Korea bezogen wurden. Für einen geregelten Ölnachschub war man auf die Felder in Niederländisch-Indien (heute Indonesien) und auf Sumatra und Borneo angewiesen, da die USA und Großbritannien 1941 einen Ölboykott gegen Tokio verhängt hatten. Gleichzeitig hatte Frankreichs Kolonialadministration Indochina widerstandslos den Japanern überlassen. Zwar blieben französische Kolonialbeamte in Vietnam, Laos und Kambodscha, doch tonangebend war fortan das japanische Militär.

Damit kontrollierte das auf Expansion bedachte Kaiserreich nicht nur eine wichtige Rohstoffregion (Kautschuk, Kohle, Mangan, Bauxit, Nickel) – Indochina und Thailand wurden quasi Verbündete, um den weiteren militärischen Vormarsch der kaiserlichen Truppen in Südostasien zu flankieren. Begründet wurden diese Feldzüge mit der „größeren ostasiatischen gemeinsamen Wohlstandssphäre“, die der Tenno als „Licht, Beschützer und Führer Asiens“ im „Kampf gegen den weißen Kolonialismus und Imperialismus“ entfesselt hatte.

Indochina – Frankreichs Außenposten in Südostasien

Als im September 1939 der Zweite Weltkrieg in Europa begann, verfügte die französische Regierung im Herzen Kontinentalsüdostasiens über eine seit dem Jahre 1887 bestehende Kolonie, die mit knapp 741.000 Quadratkilometern und einer Bevölkerung von annähernd 24 Millionen Einwohnern zirka 100.000 Quadratkilometer größer war als das „Mutterland“. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten französische Truppen gegen den bewaffneten Widerstand einheimischer Befreiungskämpfer Laos und Kambodscha erobert sowie Tonkin (Nordvietnam), Annam (Zentralvietnam) und Cochinchina (Südvietnam) unter ihre Kontrolle gebracht. Die Franzosen fassten das Gebiet unter dem Namen Indochina zusammen, stellten Cochinchina unter Kolonialverwaltung (mit Sitz in Saigon) und erklärten den Rest zum Protektorat, das sie mit Hilfe einheimischer Statthalter im nordvietnamesischen Hanoi sowie traditioneller Feudalherren und Mandarinen in Laos, Kambodscha und in Zentralvietnam kontrollierten.

„In Indochina mag es Monarchen geben, die regieren,“ erklärte Bao Dai, der Kaiser Annams, „aber französische Admiräle haben das Sagen.“ (Jennings 2001: 7) Die 25.000 bis 30.000 französischen Siedler, Kolonialbeamten und Militärs stellten in Indochina nicht einmal 0,2 Prozent der zirka 24 Millionen zählenden Einwohner. In den französischen Wohnvierteln von Saigon und Hanoi sowie in ihren Herrenhäusern auf ihren Reis-, Baumwoll- und Kautschukplantagen führten sie ein luxuriöses Leben und waren beseelt von dem Gedanken, sich als wahre Hüter der „Mission Civilisatrice“ aufzuführen.

In schroffem Gegensatz dazu lebte die einheimische Bevölkerung größtenteils unter miserablen Bedingungen in Armut und Abhängigkeit. Durch die Einführung privater Besitzverhältnisse und die Umstellung der landwirtschaftlichen Produktion auf den Export hatten die Franzosen die weitgehend kommunale Selbstversorgung auf dem Land unterminiert und Bauern, die zuvor gemeinschaftlich gearbeitet hatten, dazu gezwungen, sich als Tagelöhner auf den nunmehr gewaltsam angeeigneten Gütern französischer Grundbesitzer zu verdingen. Neben Pacht trieben die Franzosen eine Kopfsteuer in Silbermünzen ein, was zur Verschuldung und Verelendung der Bevölkerung beitrug. (Marr: 127)

Streiks, Aufstände und Hungerrevolten der Bevölkerung schlugen die französischen Truppen mit Hilfe einheimischer Kolonialsoldaten (und später mit Fremdenlegionären) brutal nieder. Tausende Oppositionelle ließen dabei ihr Leben, landeten in Gefängnissen und Straflagern der Franzosen oder wurden Opfer eines ebenso engmaschigen wie ausgeklügelten Überwachungs- und Repressionssystems. Trotzdem fanden antikoloniale Organisationen in den 1930er Jahren immer mehr Anhänger, insbesondere die Kommunistische Partei Indochinas (KPI). 1931 musste der Chef der französischen Kolonialpolizei eingestehen (Jennings: 135):

„Wir haben niemanden mehr auf unserer Seite. Die Mandarine, denen wir nie ausreichende moralische und materielle Zugeständnisse gemacht haben, dienen uns lediglich unter Vorbehalt und können nicht viel bewirken. Die Bourgeoisie hält zwar nichts vom Kommunismus, sieht darin jedoch, wie in China, ein vorzügliches Instrument zur Verteidigung nach außen. Die Jugend opponiert in ihrer Gesamtheit gegen uns ebenso wie die immense Masse der verelendeten Bauern und Arbeiter. Fakt ist, dass hier wesentlich mehr vonnöten ist als nur Repression.“

Die Franzosen versuchten, dem wachsenden Unmut gegen ihre Herrschaft zu begegnen, indem sie konservative und religiöse Honoratioren in ihre Kolonialverwaltung einbanden. Die von 1936 bis 1938 in Frankreich regierende Volksfrontregierung unter Léon Blum ließ zudem 1.500 politische Gefangene amnestieren und hob das Versammlungsverbot auf, so dass 1938 in Hanoi 25.000 Menschen am 1. Mai auf die Straße gingen und demonstrierten. (Marr: 129)

Mit dem Kriegsbeginn in Europa verschärften die Franzosen ihre Repression in Indochina drastisch. Trotzdem stellten sich die meisten einheimischen Oppositionsgruppen nach dem deutschen Überfall auf Polen im September 1939 sofort auf die Seite der Alliierten. Die Kommunisten riefen zum Kampf gegen die deutschen und japanischen Faschisten auf. Die chinesische Minderheit im Land sammelte Geld für die Opfer des japanischen Vernichtungskrieges in den benachbarten chinesischen Provinzen Yunnan und Guangxi und viele Vietnamesen halfen freiwillig beim Bau von Luftschutzbunkern und anderen Verteidigungsanlagen.

Sonderfall Indochina: „Aufrechterhaltung der Ruhe“ & Parallel-Herrschaft(en)

Das Schlüsselwort für die japanische Politik vis-à-vis Französisch-Indochina während des Pazifikkriegs hieß „Aufrechterhaltung der Ruhe”. Gemeint war damit konkret, dass Japan es den französischen gesetzgebenden Organisationen gestattete, weiterhin zu existieren und auch die Polizei, Wirtschaft, Gesellschaft sowie das Bildungswesen unter französischer Kontrolle verblieben. Auf diese Weise sollten die Verhältnisse vor dem Vordringen der Truppen der Kaiserlich-Japanischen Armee in die Region bestehen bleiben mit dem Ziel, zwar Japans militärische Oberhoheit zu verankern, gleichzeitig aber dem französischen Generalgouverneur die Regelung der inneren Angelegenheiten in Französisch-Indochina zu überlassen. Die Besonderheit der Herrschaftsverhältnisse mit Blick auf Vietnam bestand darin, dass bis zum Frühjahr 1945 zwei parallel existierende koloniale Mächte in konzertierter Aktion das Land ausbeuteten und die Bevölkerung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in Botmäßigkeit hielten.

Pikanterweise war ja nach der Kapitulation Frankreichs im Sommer 1940 und der Installierung des nazifreundlichen Regimes in Vichy unter der Ägide von Marschall Philippe Pétain die Indochina kontrollierende Kolonialmacht plötzlich zu einem Verbündeten der Achsenmächte Deutschland und Japan avanciert. Eine in der ost- und südostasiatischen Region einzigartige Konstellation, da in sämtlichen anderen Ländern japanische Truppen die anderen „weißen“ Kolonialherren vertrieben beziehungsweise besiegt hatten – in Indonesien die Niederländer, in den Philippinen die US-Amerikaner sowie in Hongkong, Singapur, Malaya und Birma die Briten.

Zur „Aufrechterhaltung der Ruhe“ gehörte auch die Entscheidung, dass Japan nicht gleichzeitig die Unabhängigkeitsbewegung in Indochina unterstützt und dafür Sorge trägt, dass die Region nicht unmittelbar ins Kriegsgeschehen in China einbezogen wird. Grundlage eines solchen Deals bildete das am 30. August 1940 in Tokio zwischen dem neuen japanischen Außenminister Matsuoka Yôsuke und dem in der japanischen Hauptstadt akkreditierten Botschafter Frankreichs, Arsène Henry, unterschriebene Matsuoka-Henry-Abkommen. Dennoch gab es in der Folgezeit im Zuge dessen, was die japanische Seite als „friedlichen Vormarsch“ in den nördlichen Teil Französisch-Indochinas bezeichnete, erhebliche Friktionen zwischen beiden Seiten, die erst nach ultimativen Drohungen der japanischen Generalität vor Ort und Stelle entschärft werden konnten.

Zu der Zeit nämlich hatte die japanische Regierung mit einem größeren Einmarsch ihrer Truppen in Indochina gedroht, sollten die Franzosen nicht unverzüglich die Nachschublieferungen für die nationalchinesischen Streitkräfte der Kuomintang (KMT) unter dem Oberbefehl Tschiang Kai-scheks unterbinden, die vom nordvietnamesischen Hafen Haiphong in die chinesische Provinz Yunnan geliefert wurden. Tokios Unterhändler in dieser Angelegenheit, Generalmajor Nishihara Issaku, ging es en detail darum, gegenüber dem Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Indochina, General Maurice Martin, auf ein Kappen der für die KMT vitalen Hilfslieferungen (inklusive militärischer Ausrüstung) seitens Großbritanniens, Frankreichs, der USA, der Sowjetunion und anderer Länder zu drängen. Der Transport dieser Güter erfolgte vornehmlich über drei Routen: die Burma Road, die sogenannte „rote Straße” von Ulan Ude in der Nähe des Baikalsees in der Sowjetunion nach Ulan Bator in der Mongolei sowie über die bedeutsamste Eisenbahnverbindung von Haiphong nach Kunming, der Hauptstadt Yunnans.

Wenig später verlangte die Regierung in Tokio von Admiral Jean Decoux, dem französischen Generalgouverneur für Indochina, japanische Truppen in Haiphong ausschiffen, in Indochina stationieren und in Vorbereitung auf weitere Eroberungsfeldzüge in Südostasien innerhalb der Kolonie nach eigenem Ermessen verlegen zu können. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, nahmen die Japaner am 22. September 1940 die französische Grenzgarnison Lang Son ein (wobei 150 Franzosen und Vietnamesen umkamen) und 6.000 japanische Soldaten marschierten in Tonkin ein.

Am selben Tag setzte Decoux in Haiphong seine Unterschrift unter das Militärabkommen, dem weitere Vereinbarungen folgten. Danach konnten die japanischen Militärs Flotten- und Truppenstützpunkte sowie ein halbes Dutzend Flughäfen in Tonkin und Laos errichten beziehungsweise nutzen. Außerdem waren japanische Unternehmen französischen Firmen gleichgestellt und exportierten Rohstoffe (wie Kautschuk und Kohle) für die japanische Rüstungsproduktion sowie Reis und Mais für die japanischen Truppen zu Preisen, die deutlich unterhalb des Weltmarktniveaus lagen.

Indochina unter dem Vichy-Regime: Französische Kollaboration …

Der französische Generalstab verfügte in Indochina kaum über Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe, aber über 90.000 Mann unter Waffen. (Gerke 1995: 13) Die meisten von ihnen waren Kolonialsoldaten und nach der französischen Kriegserklärung gegen Nazideutschland verschifften die Kolonialbehörden mindestens 40.000 vietnamesische Soldaten nach Europa. (Marr: 141) Doch auch sie vermochten die verheerende Niederlage Frankreichs gegen die deutsche Wehrmacht im Frühsommer 1940 nicht aufzuhalten und nach ihrem Waffenstillstand mit Nazideutschland übernahm die Kollaborationsregierung von Vichy im Juni 1940 auch das Kommando in Indochina. Sie fand dort die nahezu ungeteilte Unterstützung der französischen Siedler, die zig Tausende Portraits von Marschall Philippe Pétain verbreiten ließen und dessen faschistisches Programm „Arbeit, Familie und Vaterland“ mit Lehren von Konfuzius in Verbindung gebracht werden sollten.

Im Dezember 1941 publizierten die Vichy-Behörden ein Bilderbuch über Indochina, in dem einheimische Feudalherren wie Bao Dai von Annam, König Norodom Sihanouk von Kambodscha und König Sisavang Vong von Luang Prabang (Laos) neben Marschall Pétain erschienen, der ihnen im Vorwort bescheinigte (Jennings: 154):

„Ich weiß, wie ergeben Ihr Frankreich gegenüber seid. Bleibt ihm in Liebe verbunden, aber liebt Eure eigenen kleinen Länder ebenso, denn dies wird Euch helfen, Frankreich noch besser zu verstehen und noch mehr zu lieben.“

In Kambodscha initiierte der junge König Norodom Sihanouk 1941 unter Anleitung französischer Kolonialbeamter die Jugendbewegung Yuvan Kampucherath, deren Körperkult und Organisationsform offen faschistische Vorbilder aus Europa imitierte. (Raffin: 124) Die jugendlichen Marschkolonnen salutierten mit dem faschistischen Gruß und dem Spruch „Maréchal, nous voilà“ („Marschall, wir folgen Dir“). Auch in Laos und Vietnam gründeten die französischen Behörden ähnliche Jugendorganisationen, um mit paramilitärischem Drill und Fahnenappellen „zukünftige Führer“ heranzuziehen.

Nach dem Nationalfeiertag für Jeanne d’Arc am 11. Mai 1941 meldete der von Juli 1940 bis zum 9. März 1945 amtierende französische Generalgouverneur für Indochina, Admiral Jean Decoux, der dem Vichy-kritischen Vorgänger, General Georges Catroux, im Amt gefolgt war, stolz aus Hanoi (Jennings: 218):

„16.000 Jungen und Mädchen haben am größten Aufmarsch teilgenommen, der je in dieser Form in Indochina stattgefunden hat, und dabei ihr uneingeschränktes Vertrauen in das französische Empire zum Ausdruck gebracht. In Phnom Penh, Vientiane und Saigon zogen an diesem Tage ‚historische Umzüge‘ mit Verweisen auf die französische Geschichte durch die Straßen. Und im vietnamesischen Hué nahm Kaiser Bao Dai eine Parade von Tausenden Kindern ab.“

Im fernen Indochina setzten derweil auch Vichy-Beamte die in der Metropole erlassenen antisemitischen Gesetze um und entfesselten eine Hatz auf französische und asiatische Anhänger General de Gaulles und wiesen sie in Arbeitslager ein. Befehlshaber der französischen Kriegsmarine in Saigon entwarfen im Februar 1941 Pläne, mit einem Expeditionskorps die Pazifikkolonie Neukaledonien zurückzuerobern, nachdem sich diese dem freien Frankreich unter de Gaulle angeschlossen hatte.

Nach der Machtübernahme der Vichy-Regierung in der Kolonie bezog das NS-Regime ab 1940 vor allem Kautschuk aus Indochina, der dringend und in großem Maße für die Rüstungsindustrie des Nazismus benötigt wurde. Die Lieferungen erfolgten über Wladiwostok und wurden sodann von dort aus mit der transsibirischen Eisenbahn nach Deutschland verfrachtet, bis dieser Transportweg nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 nicht mehr genutzt werden konnte. Danach verlangten die Japaner entsprechende Lieferungen für ihre eigene Kriegsproduktion.

Um ihre Machtposition in Indochina zu wahren, musste die französische Kollaborationsregierung ab 1940 zahlreiche Zugeständnisse an Japan machen. Der Außenminister des Vichy-Regimes, Paul Baudouin, von dem vermutlich die erste amtliche Verwendung des Begriffs „Collaboration“ für die „fortwährende Zusammenarbeit“ zwischen Vichy-Frankreich und dem Deutschen Reich stammte, war ein enthusiastischer Unterstützer der Jugendbewegung des Vichy-Regimes (Chantiers de la jeunesse française) und hatte vergeblich versucht, die Nazi-Regierung und die USA davon zu überzeugen, dass es „nicht im Interesse der weißen Rasse“ läge, „Indochina japanischen, chinesischen oder siamesischen Truppen zu überlassen“. (Jennings: 139) Später kehrte Baudouin wieder in die Etagen der Banque de l’Indochine zurück, zu deren Direktor er bereits 1930 avanciert war. Nach dem Krieg, im März 1947, wurde er als Vertreter der Kollaborationsregierung zu einer fünfjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, jedoch bereits 1948 wieder auf freien Fuß gesetzt.

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Als Ende 1940 Truppen des mit Japan verbündeten Königreichs Thailand in Indochina einmarschierten und trotz Gegenwehr kambodschanischer Kolonialtruppen unter französischem Kommando am Westufer des Mekongs Geländegewinne machten, griffen die in der Nähe stationierten japanischen Truppen nicht ein. Während die Kommunistische Partei Indochinas die von den Franzosen an die Front geschickten Kolonialsoldaten zur Desertation aufrief, zwang Japan die Vichy-Regierung im Januar 1941 dazu, in einem „Friedensvertrag“ die Gebietsansprüche Thailands weitgehend anzuerkennen.

Die französische Herrschaft in Indochina hing auf Gedeih und Verderb vom Wohlwollen der Japaner ab. Die japanische Militärpolizei Kempeitai agierte in der französischen Kolonie ähnlich unbehelligt wie in den von Japan besetzten Ländern und machte dort Jagd auf Oppositionelle und warb mit dem Propagandaspruch „Asien den Asiaten“ einheimische Spitzel und Hilfstruppen an.

… und vietnamesischer Widerstand

Während vor allem im Süden Vietnams religiöse Sekten wie Hoa Hao und Cao Dai sowie diverse politische Gruppierungen, die der Vision eines „Großvietnam“ anhingen, mit den Japanern paktierten, unterstützte die KPI die vor allem im nördlichen Landesteil ausgeprägte Kampfbereitschaft der Bauern und deren massiven Widerstand gegen die Franzosen. Für beide Seiten gleichermaßen kam eine Kollaboration mit den Japanern nicht infrage, zumal Ho Chi Minh und andere KPI-Führer deren Befreiungsrhetorik bereits sehr früh als „schlechten Witz“ durchschaut und abgetan hatten.

Die Kommunisten forderten die Aufständischen auf, nicht nur gegen die französischen Kollaborateure der Faschisten zu kämpfen, sondern auch gegen die Japaner, deren Krieg im benachbarten China bereits Millionen Menschen das Leben gekostet und deren dort begangene Gräueltaten sich längst herumgesprochen hatte.

Schon im November 1940 hatten die Kommunisten auch in Südvietnam einen bewaffneten Aufstand gegen die Vichy-Kollaborateure initiiert, an dem sich Zehntausende Bauern, Landarbeiter und desertierte Kolonialsoldaten beteiligten. Sie hatten Polizeiposten und andere Einrichtungen der Kolonialverwaltung überfallen, Straßenverbindungen unterbrochen und revolutionäre Komitees gegründet, um in „befreiten Gebieten“ eine eigene Verwaltungsstruktur aufzubauen. Der französischen Armee war es erst mit massiven Bombardements und dem Einsatz schwerer Artillerie gelungen, die Revolte niederzuschlagen und allseits verbrannte Erde zu hinterlassen.

Mit dem Resultat, dass die KPI im Süden des Landes ungleich schwächer war und auf Dauer blieb als im Norden, gleichzeitig aber auch mit der Erkenntnis, dass die Kolonialherrschaft nur durch einen sorgfältig vorbereiteten bewaffneten Kampf zu überwinden sei. Den organisatorischen Rahmen dafür sollte eine breite politische Allianz in Form der Viet Nam Coc Lap Dong Minh stellen, die „Vietnamesische Liga für die Unabhängigkeit“, kurz Viet Minh genannt. Die Kommunisten stellten ihre Forderungen nach Klassenkampf und Bodenreform zurück und erklärten die Überwindung der französischen Kolonialherrschaft und die Vertreibung der japanischen Truppen zum vorrangigen Ziel, das auch konservative Oppositionelle mittragen konnten.

Ho Chi Minh, eine der wichtigsten Führungspersönlichkeiten der vietnamesischen Kommunisten, hatte in Paris studiert und war nach drei Jahrzehnten Aufenthalt im Exil 1941 erstmals wieder nach Vietnam zurückgekehrt. Versuche, in Südchina seitens der dort operierenden Truppen unter dem Oberbefehl Tschiang Kai-scheks Unterstützung für den vietnamesischen Widerstand gegen die Japaner und Franzosen zu erbitten, schlugen fehl. Tschiang Kai-schek war zwar eine taktische Kriegsallianz mit Mao Zedong eingegangen, führte jedoch weiterhin einen erbitterten ideologischen und militärischen Kampf gegen die Kommunisten. Als sich allerdings um die Jahreswende 1944/45 die Niederlage Deutschlands und Japans abzeichnete, bereiteten Ho Chi Minh und seine engsten Parteigenossen eine landesweite Erhebung just zu dem Zeitpunkt vor, „wenn die Alliierten in Indochina stehen oder die japanische Armee kapitulieren muss“. (Marr: 145)

Nach dem Fall des Vichy-Regimes in Frankreich Mitte 1944 blieben in Indochina zwar die Beamten und Militärs der Kollaborationsregierung weitgehend im Amt, doch sie mussten den Gaullisten fortan verstärkt Konzessionen machen, die ihrerseits aber eine Unterstützung der Viet Minh strikt ablehnten. Ebenso schlugen letztlich Avancen fehl, seitens von in Südchina anwesenden US-Truppen dauerhaft militärische Hilfe zu akquirieren.

Der Fall des Vichy-Regimes & japanische Direktherrschaft

Am 9. März 1945 jagten die Japaner die marode französische Kolonialverwaltung aus dem Amt und übernahmen damit auch in der letzten verbliebenen europäischen Kolonie in Südostasien direkt die Macht. Binnen weniger Stunden entwaffneten die Japaner die französischen Truppen einschließlich der von ihnen befehligten Kolonialsoldaten und internierten nahezu alle französischen Militärs und Zivilisten in Lagern. Auf Widerstand von Seiten der Franzosen trafen die Japaner kaum. Um sich gleichzeitig Sympathien unter den Vietnamesen, die den weitaus größten Teil der indochinesischen Bevölkerung stellten, zu sichern, gewährte Tokio wie bereits zuvor im Falle der Philippinen und Birma nunmehr auch Vietnam formal die Unabhängigkeit mit einer Marionettenregierung und Kaiser Bao Dai, der tunlichst und publicityträchtig die vormals von Frankreich oktroyierten Protektoratsverträge aufzukündigen hatte.

Doch die pro-japanischen Kräfte in Indochina blieben in der Minderheit. Die Hälfte der Bevölkerung litt Hunger, weil die landwirtschaftliche Produktion im Verlaufe des Krieges vorrangig auf die Bedürfnisse der japanischen Truppen umgestellt worden war und die Bauern statt Getreide vermehrt Jute und Ölpflanzen zur Erzeugung von Treibstoff anbauen mussten. Die Viet Minh hatte die Bauern in einem Flugblatt zwar aufgefordert: „Liefert ihnen kein einziges Kilo Reis, gebt ihnen keine einzige Erdnuss und pflanzt keine Jute für die faschistischen Banditen.“ (Marr: 134) Aber die japanische Militärpolizei Kempeitai war über die Dörfer gezogen und hatte die Bauern gewaltsam zum Umpflanzen ihrer Felder gezwungen. Not und Elend grassierten, Lebensmittel wurden zusehends knapper, während die Inflationsraten beträchtlich stiegen.

Eine Hungerkatastrophe von bislang unbekanntem Ausmaß war die

Folge. Anfang 1945 zogen Hunderttausende Menschen auf der verzweifelten Suche nach etwas Essbarem durch Nordvietnam und drängten in die Städte. Die Viet Minh forderte sie dazu auf, die Vorratskammern der Grundbesitzer und der Regierung zu stürmen und lieferte dazu bewaffneten Geleitschutz.

„Eine der schlimmsten Folgen der teils von der japanischen Regierung erzwungenen, teils von den französischen Kollaborateuren um des Machterhalts bewusst betriebenen Wirtschaftspolitik gerade auf dem Agrarsektor, war die große Hungersnot zu Beginn des Jahres 1945, die insgesamt zwei Millionen Menschen das Leben gekostet haben soll. Von dieser waren insbesondere die gerade von Bauern stark bevölkerten Provinzen Thai Binh, Nam Dinh, Hung Yen, Bac Ninh, Son Tay und Ha Dong betroffen. Schon Ende 1944 begann die Hungersnot und erreichte ihren Höhepunkt ungefähr zur Zeit des Sturzes der französischen Kolonialregierung im März 1945 bzw. kurz danach.“ (Gerke: 14)

Verschärft wurden diese ohnehin harschen Bedingungen durch intensiver durchgeführte US-amerikanische Bombardements und Torpedoangriffe ab Anfang 1945, was dazu führte, dass weite Strecken des inländischen Eisenbahnnetzes zerstört und andere bedeutsame Transport- und Kommunikationsverbindungen gekappt wurden. Als im August 1945 nationalchinesische Truppen im Norden und Verbände der Alliierten im Süden als Befreier nach Indochina einmarschierten, hatten einheimische Partisanen längst weite Teile des Landes befreit. Damit war jener Moment gekommen, auf den Ho Chi Minh und seine Genoss/innen gewartet hatten. Unterstützt von Zehntausenden Anhängern nahm die Viet Minh am 19. August die wichtigsten Regierungsstellungen in Hanoi ein und Ho Chi Minh schickte die Funkmeldung in englischer Sprache an das Oberkommando der US-Truppen (Marr: 147):

„Das Komitee für die nationale Befreiung des Viet Minh bittet die US-Behörden, die Vereinten Nationen darüber zu informieren, dass wir gegen die Japs gekämpft und sie sich ergeben haben. Wir bitten die Vereinten Nationen, ihr feierliches Versprechen einzuhalten, allen Nationen Demokratie und Unabhängigkeit zu gewähren. Sollten die Vereinten Nationen ihr feierliches Versprechen brechen und Indochina die vollständige Unabhängigkeit verwehren, werden wir so lange weiterkämpfen, bis wir sie durchgesetzt haben.“

Am 2. September 1945 schließlich proklamierte Ho Chi Minh in Hanoi die Demokratische Republik Vietnam und verlas vor einer begeisterten Menschenmenge die Unabhängigkeitserklärung, in der es auch hieß:

„Achtzig Jahre lang haben die französischen Kolonialherren unter dem Deckmantel des Wahlspruches von ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit’ unser Land ausgeraubt und unsere Landsleute geknechtet. Ihre Taten standen in einem schreienden Widerspruch zu allen Prinzipien der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. In politischer Hinsicht haben sie uns aller demokratischen Freiheiten beraubt und uns barbarische Gesetze aufgezwungen. Sie haben drei verschiedene politische Ordnungen in Zentral-, Süd- und Nordvietnam errichtet, um die Einheit unseres Vaterlandes, die Einheit unseres Volkes zu zerstören. Sie haben mehr Gefängnisse als Schulen erbaut.“

Bedeutsamer Etappensieg der Viet Minh

In Vietnam übte seit März 1945 die Kaiserliche Japanische Armee die eigentliche politische Macht aus. Sie erklärte kurzerhand die „Unabhängigkeit“ des Landes und setzte Kaiser Bao Dai als Oberhaupt dieses Vasallenstaates ein. Bis dato hatte die im Mai 1941 formierte Viet Minh (Liga für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams) lediglich die schwer zugängliche Dschungelregion entlang der chinesischen Grenze kontrolliert. Das änderte sich jedoch mit der französischen Entmachtung; in rascher Abfolge konnte sie ein halbes Dutzend weiterer Provinzen unter ihre Kontrolle bringen. Erfolgreiche Guerillaaktivitäten und die Erstürmung von Reislagern demoralisierten zunehmend eine Besatzungsmacht, die unter dem überwiegenden Teil der vietnamesischen Bevölkerung zutiefst verhasst war.

Es war zu der Zeit ein kongeniales politisches Quartett in Gestalt von Ho Chi Minh, Pham Van Dong, Truong Chinh und Vo Nguyen Giap, das als Führungsspitze der Kommunistischen Partei Vietnams über herausragende organisatorische und militärische Fähigkeiten verfügte und stets darauf bedacht war, eine breitestmögliche Einheitsfront im Kampf gegen ihre politischen Gegner herzustellen. Über die vier schrieb Gabriel Kolko in seinem fulminanten Opus „Anatomy of a War“ von 1985:

„(…) von dieser Zeit an stiegen sie zu einer kollegialen, kooperativen und kreativen Führung auf, die, frei von Problemen des Egoismus, in den folgenden vier Jahrzehnten für eine bemerkenswerte Kontinuität sorgte. Deren Harmonie bildete eine Urquelle für die Stärke einer Partei und war ein wesentlicher Grund dafür, dass diese nicht – wie im Falle anderer marxistisch-leninistischer Parteien – von Ränkespielen und Führungskämpfen heimgesucht wurde.“

Trotz des Etappensiegs der Genoss/innen um Ho Chi Minh sollten noch drei bittere Dekaden vergehen, bis sie schließlich Ende April 1975 siegreich in Hanoi einmarschieren und im Sommer des darauffolgenden Jahres beide Landesteile unter dem Namen Sozialistische Republik Vietnam wiedervereinen konnten. Ein Schicksal, das sie im Übrigen teilweise mit ihren Genoss/innen in Indonesien und Malaya teilten. Denn auch dort dauerte es bis 1949 beziehungsweise bis zur Mitte der 1950er Jahre, dass sich die Niederländer beziehungsweise Briten aufgrund dauerhaft massiven Widerstands genötigt sahen, offiziell ihre langjährige Kolonialherrschaft zu beenden.

Auch im Falle Vietnams kämpfte die Kolonialmacht Frankreich hartnäckig um die Wiederherstellung ihrer politischen und ökonomischen Herrschaft. Auf ihre Initiative hin ward gar im Süden eigens der „Staat Vietnam“ (später die Republik Vietnam) mit der Hauptstadt Saigon als Gegengewicht zur DRV kreiert. Doch die schmachvolle Niederlage der französischen Truppen samt der sie unterstützenden Fremdenlegionäre im Talkessel von Dien Bien Phu im Frühjahr 1954 und weltweite Proteste gegen den Krieg führten am 20./21. Juli zur Unterzeichnung der Genfer Indochina-Abkommen. Zwar beendeten diese vorerst die Kampfhandlungen, brachten aber nicht die ersehnte Unabhängigkeit und Einheit Vietnams. Die sollten allgemeine, freie Wahlen im Jahre 1956 besiegeln. Bis dahin wurde entlang des 17. Breitengrads eine militärische Demarkationslinie – in etwa vergleichbar der Jahre zuvor in Korea errichteten Demarkationslinie entlang des 38. Breitengrads – gezogen, die das Land faktisch teilte.

Während Hanoi auf die Durchführung dieser in den Genfer Abkommen festgelegten allgemeinen Wahlen drängte, lehnte das Saigoner Vasallenregime diese rundweg ab – aus Furcht vor einem überwältigenden Wahlsieg Ho Chi Minhs. Zu Beginn der 1960er Jahre war die Chance einer friedlichen Vereinigung vertan und der (inner-)vietnamesische Konflikt durch die zunehmende West-Ost-Blockkonfrontation internationalisiert worden.

Teilung und erneut Krieg

In der auf Betreiben Frankreichs und der USA Ende Oktober 1955 als Gegenregierung zur DRV geschaffenen Republik Vietnam (Südvietnam) traten die USA immer tiefer in die Fußstapfen der japanischen und französischen Kolonialisten. In Washington grassierte ein paranoider Antikommunismus, der die politische Führung und Militärstrategen gleichermaßen auf die kategorische „Domino-Theorie“ fixierte. Demnach galt es, auch und gerade in Vietnam, unbedingt Stärke und „Verantwortung“ für seine dortigen Verbündeten zu demonstrieren, andernfalls überließe man das Land „den Kommunisten“. Und fiele erst einmal Vietnam, würde das eine Kettenreaktion auslösen und die Nachbarländer – Dominosteinen vergleichbar – in rascher Abfolge „kommunistisch“ werden lassen. Damit, so die Horrorvorstellung der US-amerikanischen Regierungen in den 1960er Jahren, wäre die Region Südostasien ein für alle Mal „verloren“ gewesen und ein erweiterter Einflussbereich der am 1. Oktober 1949 von Mao Zedong proklamierten Volksrepublik China entstanden.

Die eigentlich naheliegende Vorstellung, dass mit der Gründung der DRV das Fanal eines Kampfes für Unabhängigkeit und Freiheit gesetzt und der vietnamesischen Bevölkerung endlich ein Weg aus kolonialer Bevormundung gewiesen worden war, passte nicht in das Weltbild imperialer Kommissköpfe. Die fatale Gleichsetzung von Nationalisten mit Kommunisten, gekoppelt mit Ignoranz und arroganter Missachtung vietnamesischer Geschichte und Kultur, ließ Washington einen Krieg – in Vietnam selbst der „Amerikanische Krieg“ genannt – verursachen, auf dessen Höhepunkt (31. Januar 1969) 1,1 Millionen vietnamesische Soldaten und Milizionäre sowie 542.400 GIs gegen die nordvietnamesische Volksarmee und südvietnamesische Partisanenverbände kämpften.

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Vietnam – Zeittafel (Zusammenstellung Rainer Werning)

Seit 1858 beginnen französische Truppen mit der schrittweisen Eroberung der südlichen und später der nördlichen Landesteile Vietnams.

1887 – Entstehung der Indochinesischen Union durch den Zusammenschluss der (südlichen) Kolonie Cochinchina und der Protektorate Tonkin (Nordvietnam) und Annam (Zentralvietnam) sowie dem Protektorat Kambodscha mit Saigon als Hauptstadt. 1893 kommt Laos dazu

1925 – Gründung der Thanh Nien (Liga der revolutionären Jugend Vietnams) auf Initiative des 1890 geborenen Ho Chi Minh in Kanton (China)

3. Februar 1930 – Gründung der Kommunistischen Partei Vietnams (KPV) in Hongkong

1937 – Bildung der Demokratischen Front Indochinas unter Einfluss der KPV

Juni 1940 – Frankreich kapituliert und das Vichy-Regime erklärt sich an der Seite Deutschlands zur Kooperation mit Japan bereit. Japan besetzt Vietnam, während seine Truppen die dortige französische Kolonialverwaltung (noch) im Amt belassen.

10. Mai 1941 – Gründung der Viet Minh (Liga für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams)

Ende 1944 bis Anfang 1945 – Verheerende Hungersnot, in deren Verlauf über zwei Millionen Menschen sterben

9. März 1945 – Die japanischen Truppen lösen die französische Kolonialverwaltung auf und proklamieren ein „unabhängiges“ Vietnam mit Kaiser Bao Dai an der Spitze.

15. August 1945 – Japan kapituliert

2. September 1945 – Ho Chi Minh ruft in Hanoi unter großer Anteilnahme der Bevölkerung die Demokratische Republik Vietnam (DRV) aus.

19. Dezember 1946 – Überfall französischer Kolonialtruppen auf Hanoi

5. Juni 1948 – Frankreich erklärt die Gründung des „Staates Vietnam“ mit Kaiser Bao Dai an der Spitze.

7. Februar 1950 – Die USA erkennen den von Bao Dai repräsentierten Staat an und beginnen ab Mai mit der direkten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung der Franzosen.

12. April 1953 – Dekret der DRV über die Bodenreform

13. März bis 7. Mai 1954 – Schlacht von Dien Bien Phu, die mit einer vernichtenden Niederlage der französischen Kolonialtruppen endet und den Ruhm des kommandierenden nordvietnamesischen Generals Vo Nguyen Giap begründet.

8. Mai bis 21. Juli 1954 – Genfer Indochina-Konferenz, an der die Volksrepublik China, die USA, die Sowjetunion, Frankreich und – als ehemalige französische Kolonien – Vietnam, Laos und Kambodscha teilnehmen. Gemäß dem in Genf unterzeichneten Abkommen wird Vietnam entlang des 17. Breitengrades geteilt. Die Viet Minh sollen sich in den Norden und die Franzosen in den Süden zurückziehen. 1956 sollen demokratische Wahlen in ganz Vietnam abgehalten und die Demarkationslinie aufgehoben werden. Während Frankreich Vietnam, Kambodscha und Laos die Unabhängigkeit sowie den Abzug seiner Truppen vertraglich zusichert, unterschreiben die US-Unterhändler das Abkommen nicht und beteuern lediglich, es zu respektieren.

7. Juli 1954 – Bao Dai ernennt Ngo Dinh Diem zum Premierminister.

23. bis 26. Oktober 1955 – Diem setzt Bao Dai ab, verkündet die Republik Vietnam als Gegengewicht zur DRV und erklärt sich zum Präsidenten.

1956 – Die für Gesamtvietnam festgelegten Wahlen werden in Südvietnam nicht durchgeführt.

Titelbild: Efired/shutterstock.com

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Literaturempfehlungen

  • *Agent Orange – Die Opfer klagen an (USA/2020), diese 55-minütige Dokumentation, ausgestrahlt auf ARTE, ist noch bis zum 27. November 2020 verfügbar. – Auch 50 Jahre nach Ende des Vietnamkriegs wirkt das Entlaubungsmittel Agent Orange noch – bei Mensch und Natur. Einer der beiden Wirkstoffe – das Dioxin TCDD – verseucht weiterhin die Umwelt und macht Menschen krank. Nach Jahrzehnten des Kampfes vieler Opfer klagen aktuell zwei Frauen in Frankreich und Amerika gegen die Hersteller. Der Film enthüllt einen wahren „Ökozid“ – arte.tv/de/videos/082802-000-A/agent-orange/
  • **Die neunteilige, von ARTE im September 2017 ausgestrahlte US-Fernsehserie Vietnam von Ken Burns und Lynn Novick ist die ebenso umfassendste wie herausragendste Dokumentation der (Vor-)Geschichte des Vietnamkriegs. Der amerikanische Originaltitel lautet The Vietnam War. Im amerikanischen Original handelt es sich um eine zehnteilige Filmserie mit einer Gesamtlänge von 18 Stunden, deren Premiere der Public Broadcasting Service (PBS) sendete.
  • Wilfred G. Burchett (1965): Vietnam: Inside Story of the Guerilla War. New York
  • Georges Catroux (1959): Deux Actes du Drame Indochinois. Paris
  • Philippe Devillers (1952): Histoire du Viet-Nam de 1940 a 1952. Paris
  • John E. Dreifort (1982) Japan’s Advance into Indochina, 1940: The French Response, in: Journal of Southeast Asian Studies 13 (September)
  • David K Fieldhouse (1984): Economics and Empire, 1830–1914. London
  • Marc Frey (2016): Geschichte des Vietnamkriegs: Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums (10. Aufl.). München
  • Charles Fourniau (2002): Vietnam. Domination coloniale et résistance nationale (1858–1914). Paris
  • Frank Gerke (1995): Vietnam und der Zweite Weltkrieg. Japanische Besetzung und der Beginn der Entkolonialisierung, in: südostasien informationen nr. 2, S. 13-16. Essen
  • Günter Giesenfeld (2018): Land der Reisfelder. Vietnam, Laos und Kambodscha: Geschichte und Gegenwart. Hamburg
  • Martin Großheim (2011): Ho Chi Minh. Der geheimnisvolle Revolutionär. München
  • Hata Ikuhiko (1980): The Army’s Move into Northern Indochina – übersetzt von Robert A. Scalapino, in: The Fateful Choice: Japan’s Advance into Southeast Asia, 1939-1941, S. 155-208 – hg. von James William Morley. New York
  • Eric J. Hobsbawm (1987): The Age of Empire, 1875–1914. New York
  • Eric T. Jennings (2001): Vichy in the Tropics: Petain’s National Revolution in Madagascar, Guadeloupe, and Indochina, 1940-1944. Stanford
  • Stanley Karnow (1997): Vietnam: A History (2. veränderte & akt. Aufl.). New York
  • Huynh Kim Khanh (1982): Vietnamese Communism,1925-1945. Ithaca/London
  • Gabriel Kolko (1985): Anatomy of a War: Vietnam, the United States and the Modern Historical Experience. New York
  • John T. McAlister, Jr. (1969): Viet Nam: The Origins of Revolution. New York
  • David G. Marr (1980): World War II and the Vietnamese Revolution, in: Alfred W. McCoy (Ed.): Southeast Asia under Japanese Occupation. New Haven
  • Sachiko Murakami (1981): Japan’s Thrust into French Indochina: 1940 – 1945. New York
  • Kiyoko Kurusu Nitz (1983): Japanese Military Policy towards French Indochina during the Second World War: The Road to the Meigo Sakusen (9 March 1945), in: Journal of Southeast Asian Studies 14 (September)
  • Anne Raffin (2005): Youth Mobilization in Vichy Indochina and Its Legacies, 1940 to 1970. Lanham, MD
  • Chieu Ngu Vu (1984): Political and Social Change in Vietnam between 1940 and 1946. Madison, WI
  • Edward T. Wise (1991): Vietnam in Turmoil: The Japanese Coup, the OSS, and the August Revolution in 1945. Richmond, VA

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