„Wenn jemand mit dieser Verantwortung nicht fertig wird, soll er die Richterrobe ausziehen und an den Nagel hängen.“ Diese Worte stammen von Thorsten Schleif, der selbst Richter ist. Im NachDenkSeiten-Interview kritisiert Schleif scharf die Entscheidungen der Gerichte im Hinblick auf die Corona-Maßnahmen. Schleif, der auch als Sachbuchautor bekannt ist, stellt klar, wie die Rechtsprechung in Corona-Zeiten aussehen müsste und zeigt die Ursachen auf, warum Gerichte massenweise auch die schwersten Grundrechtseingriffe durchwinken. Von Marcus Klöckner.
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Herr Schleif, wie nehmen Sie als Richter die Rechtsprechung im Hinblick auf die Corona-Maßnahmen wahr?
So, wie ich sie erwartet habe. Leider.
Wie meinen Sie das? Wie war die Rechtsprechung denn zu erwarten?
Die Rechtsprechung zu den Corona-Maßnahmen war besonders zu Anfang geprägt von Angst. Ursächlich hierfür ist die völlig unzureichende Ausbildung der Richter vor allem auf dem Gebiet der Entscheidungspsychologie. Die Entscheidungen der Richter während der medialen Corona-Hochphase im März wurden maßgeblich von dem sogenannten Priming-Effekt beeinflusst.
Was ist das für ein Effekt?
Priming kennt jeder, der einmal einen spannenden Horrorfilm gesehen hat und im Anschluss ein Geräusch in der Wohnung wahrnimmt. Unser Unterbewusstsein steht immer noch unter dem Eindruck des gesehenen Films. Deshalb wird das Geräusch unterbewusst einer Gefahr, etwa dem Filmmörder, zugeordnet und nicht einem alten Holzboden. Wir lassen das Licht an, verriegeln die Tür, schließen die Fenster, obwohl wir das sonst nicht machen. Im März waren die Bilder von Intensivstationen, Beatmungsgeräten und Särgen allgegenwärtig, in Zeitung, Fernsehen und Internet. Diese Bilder versetzten das Unterbewusstsein – auch das der Richter – in Angst und beeinflussten massiv die Entscheidungen aller Menschen. Die einen kauften Unmengen an Toilettenpapier, Mehl und Nudeln, die anderen winkten Corona-Maßnahmen durch, obwohl diese auch damals rechtlich in vielerlei Hinsicht zu beanstanden waren.
Zu der unzureichenden Richterausbildung tritt ein auffallend gering ausgeprägtes Selbstbewusstsein vieler Richter. Zu viele Richter verstehen sich fast schon als Teil der Regierung und nicht als eigene Staatsgewalt. Hauptgrund dafür ist, dass es in Deutschland keine konsequente Gewaltenteilung gibt. So werden Beförderungsämter, wie die Direktoren und Präsidenten der Gerichte, nicht etwa von der Richterschaft bestimmt, sondern von der Regierung ausgesucht. Dieses schwerwiegende Versäumnis, das übrigens der Deutsche Juristentag bereits im Jahr 1953 (!) angemahnt hat, ist meines Erachtens die Hauptursache dafür, dass Richter mit starkem Selbstbewusstsein eher die Ausnahme darstellen.
Würden Sie uns bitte näher erläutern, wie, im Allgemeinen, eine saubere Rechtsprechung auszusehen hat? Woran sollten sich Richter orientieren?
Das ist leicht: Ein Richter hat auf Grundlage des Grundgesetzes und der Gesetze nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen. Unser Grundgesetz ist ein starkes Gesetz, ein erprobtes Gesetz. Ein Gesetz, das auch und vor allem in Krisenzeiten Anwendung zu finden hat. Momentan scheint bei einigen Menschen der Irrglaube zu herrschen, wenn das Grundgesetz stört, muss man sich nicht daran halten, sofern man eine gute Absicht hat. Das ist ebenso falsch wie gefährlich.
Nun hört man immer wieder, die Gerichte hätten es in der Corona-Krise auch nicht leicht. Auf ihren Schultern laste eine enorme Verantwortung, da sie, wenn sie Maßnahmen der Regierung kippen, mit die Schuld bei einem steigenden Infektionsrisiko trügen.
Was halten Sie von dieser Argumentation?
Ich habe gerade schon mal etwas zu dem Selbstbewusstsein der Richter gesagt. Wenn jemand mit dieser Verantwortung nicht fertig wird, soll er die Richterrobe ausziehen und an den Nagel hängen. Das macht ihn oder sie nicht zu einem schlechten Menschen, aber für das Richteramt ungeeignet.
Halten Sie es für berechtigt, wenn jemand sagt, dass wir es in Sachen Corona-Rechtsprechung mit offenen Rechtsbrüchen zu tun haben?
Ich würde den Begriff nicht wählen, aber ich halte es auch nicht für unberechtigt, es so zu nennen. Ein brauchbarer Jurist kann mit etwas Zeit rechtlich begründen, dass die Erde eine Scheibe ist. So gerade noch juristisch vertretbar mag eine Entscheidung sein und damit kein offener Rechtsbruch. Ob diese Entscheidung allerdings grottenfalsch ist und zum Himmel stinkt, ist eine ganz andere Frage.
In zahlreichen Fällen haben die Gerichte die Maßnahmen der Regierungen mitgetragen. Allerdings gibt es hier und da auch Gerichte, die anders entscheiden. Sind das nun bemerkenswerte Lichtblicke, die zeigen, dass der Rechtsstaat doch noch funktioniert, oder muss man auch da genauer schauen und differenzieren?
Sagen wir: Es sind einzelne Hoffnungsschimmer, die zeigen, dass der Rechtsstaat doch noch funktionieren kann. Wenn man das Glück hat, an einen Kollegen zu geraten, der ausreichend selbstbewusst ist und nicht befürchtet, dass sich seine weitere Karriere in der Justiz einem plötzlichen und dauerhaften Stillstand zuneigen könnte.
Allerdings: Selbst einige Entscheidungen, in denen eine oder mehrere Corona-Maßnahmen für rechtswidrig erklärt werden, weisen einen fast schon um Verzeihung bittenden, unterwürfig anbiedernden Tonfall auf. Ich beginne meine Strafurteile selten mit: „Es tut mir ja so leid, dass ich Sie verurteilen muss, nur weil Sie sich strafbar gemacht haben, und bitte Sie inständig, es mir nicht persönlich übel zu nehmen.“
Das Verwaltungsgericht in Düsseldorf hat entschieden, dass sich ein Kläger nicht an die Maskenpflicht zu halten braucht. Was stört Sie an der Entscheidung?
An der offiziellen Pressemitteilung zu dieser Entscheidung stört mich, dass ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass sich die gerichtliche Entscheidung nur im Verhältnis zum Antragsteller auswirke und alle anderen Personen, die sich in Düsseldorf bewegen, die Allgemeinverfügung beachten müssen. Zum einen fehlt bei anderen vergleichbaren Entscheidungen ein derartiger, etwas oberlehrerhaft erscheinender Hinweis. Zum anderen hätte man in der Pressemitteilung auch darauf hinweisen können, ob ein Bußgeldbescheid, der bei einem Verstoß gegen eine als rechtswidrig erkannte Allgemeinverfügung erteilt wird, ebenfalls rechtswidrig ist.
Gerichte ziehen sich, wenn es um die Corona-Maßnahmen geht, erstaunlich oft auf die formale Ebene zurück. Sie kritisieren eventuelle Formfehler von Verfügungen, aber sie tun sich schwer damit, inhaltlich Stellung zu beziehen.
Ob dies besonders oft im Verhältnis zu sonstigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen ist, weiß ich nicht. Ich habe bei einigen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen allerdings auch einen auffälligen Weg bemerkt: Sie beschränken ihre Entscheidung im Wesentlichen auf eine reine Folgenabwägung, die zu Gunsten der Maßnahme ausgeht, ohne sich näher damit auseinanderzusetzen, ob überhaupt eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Maßnahme gegeben ist.
Sehen Sie aus dem Verhalten der Gerichte Probleme, die über die Rechtsprechung hinausgehen? Anders gefragt: Was bedeutet es für Demokratie und Gesellschaft, wenn Gerichte, so die Einschätzung, nicht mehr Recht sprechen, sondern Recht der Politik unterordnen?
Diese Problematik einer gegenüber den anderen Staatsgewalten, insbesondere der Regierung, schwachen Rechtsprechung ist auf die in Deutschland fehlende konsequente Gewaltenteilung zurückzuführen, die ich bereits angesprochen habe. Damit wird ein Grundpfeiler aller moderner Staaten ausgehöhlt. Dies kann letztlich zu einem Zusammenbruch des Rechtsstaates insgesamt führen. Einige Kollegen haben während der Corona-Hochphase die Auffassung vertreten, die Maßnahmen des Staates müssten von den Gerichten mitgetragen werden, weil es sich nun einmal um notwendige Maßnahmen handeln würde, auch wenn diese nicht mit dem Grundgesetz in Einklang stünden.
Lassen Sie uns nochmal auf Maßnahmen der Regierungen eingehen.
Wie ordnen Sie als Richter, aber auch als Bürger, die schweren Grundrechtseingriffe ein?
Es ist erschreckend, wie schnell gegenwärtig Grundrechtseingriffe mit der bloßen Begründung „ist leider notwendig“ abgesegnet werden. Eingriffe in die Berufsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit. Sogenannte Experten schämen sich nicht, mit einer maßlosen Geringschätzung zu erklären, das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung müsse eben mal zurückstehen. Grundrechtseingriffe waren, sind und bleiben die schwersten Eingriffe, die unser Rechtssystem kennt, und müssen daher eine absolute und streng begrenzte Ausnahme darstellen. Keinesfalls dürfen sie zur Regel werden.
Grundrechtseingriffe, so heißt es, müssen verhältnismäßig sein und es müsse auf das jeweils mildeste Mittel zugegriffen werden. Würden Sie uns bitte erklären, wie das zu verstehen ist?
Will der Staat eine Maßnahme erlassen, die in ein Grundrecht eingreift, so muss er eine mehrstufige Prüfung vornehmen. Zunächst hat er zu prüfen, ob die Maßnahme zur Erreichung des von ihm verfolgten Zwecks, der natürlich legitim sein muss, überhaupt geeignet ist. Daran scheiterten bereits einige Quarantänebestimmungen und Beherbergungsverbote. Dann hat er zu prüfen, ob die Maßnahme erforderlich ist, das heißt, ob der Zweck nicht durch eine mildere Maßnahme ebenso gut erfüllt werden kann. Bei den Gaststättenverboten wird zu prüfen sein, ob es nicht ausreicht – was bisher immer behauptet wurde – Abstände, regelmäßige Lüftungszeiten und Maskenpflichten einzuführen anstatt die Gasstätten insgesamt zu schließen. Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit müssen die jeweils beteiligten Grundrechte gegeneinander abgewogen werden, also bei der Frage der Schließung der Fitnessstudios zum Beispiel das Recht der Studiobetreiber auf die Ausübung ihres Berufes, die Berufsfreiheit, gegen das Recht der vermeintlich zu schützenden Personen auf körperliche Unversehrtheit.
Je länger ein Grundrechtseingriff andauert, umso problematischer wird es. Viele Grundrechtsverletzungen dauern nun schon ziemlich lange an. Die Regierungen bedienen sich eines Tricks: Die Rechtsverordnungen sind von kurzer Laufzeit – werden dann aber, mit kleineren Veränderungen, immer wieder verlängert. Müssten hier nicht die Gerichte sagen: Jetzt reicht es, wir tragen das nicht mehr mit!
Das müssten sie.
Wie nehmen Sie die Berichterstattung der Medien wahr? Ausgewogen oder einseitig und tendenziell pro Maßnahmen der Regierung?
Aufgabe der Presse ist es seit jeher, die Starken zu schwächen und die Schwachen zu stärken. Sie schafft einen Ausgleich, indem sie verschiedene Positionen und unterschiedliche Meinungen darstellt. Das fehlte meines Erachtens gerade zu Beginn der Corona-Krise, als eine sehr einseitige, regierungstreue Berichterstattung stattfand und andere Meinungen, insbesondere auch solche von anerkannten Wissenschaftlern, ignoriert wurden. Im weiteren Verlauf der Krise gibt es auch regierungskritische Medienberichte, wenn auch immer noch beschämend wenige.
Sie haben Bücher geschrieben, melden sich auch in Medien zu Wort. Haben Sie Erfahrungen mit Medien gemacht im Zusammenhang mit der Corona-Krise?
Ja und zwar gute wie schlechte. Verschiedene private Medien, Focus, BILD, RTL, haben sich mit meiner Kritik an der Rechtsprechung zu den Corona-Maßnahmen auseinandergesetzt. Vor einigen Tagen habe ich jedoch erlebt, dass ein geplantes Radiointerview beim WDR mit der Begründung abgesagt wurde, man habe sich dazu entschieden, in der Vormittagsstrecke nur das „Positive und Unterstützende“ zu betonen. Dass ein öffentlich-rechtlicher Sender nur das „Positive und Unterstützende“ betonen möchte und sich deshalb entschließt, eine kritische Stimme nicht zu Wort kommen zu lassen, ist schon alarmierend.
Halten wir fest: Im Parlament gibt es kaum eine echte Opposition im Hinblick auf die Maßnahmen. Gerichte sprechen auf eine fragwürdige Weise „Recht“. Und Medien, die als Säule der Demokratie gelten, können Kritik an den Maßnahmen auch nicht viel abgewinnen, lassen kaum eine echte Debatte zu. Haben wir als Demokratie ein Problem, dass über Covid-19 hinausgeht?
Wir haben als Gesellschaft ein gewaltiges Problem, das weit über Covid-19 hinausgeht und das auch mit der momentan als Allheilmittel angesehenen Impfung nicht behoben sein wird.
Lesetipp: Schleif, Thorsten: Endlich richtig entscheiden: Der Richter verrät seine besten Strategien. Riva. 15. Sept. 2020. 240 S. 19,99 Euro.
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