Politik auf Kosten der Kinder

Politik auf Kosten der Kinder

Politik auf Kosten der Kinder

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Man wird den Verdacht nicht los, dass die Kinder und deren Rechte offenbar auf dem kompromisslosen Koalitions-Altar geopfert wurden“, sagt Michael Klundt im zweiten Teil des NachDenkSeiten-Interviews zum Thema „Kinderrechte“ und „Kinder in der Pandemie“.
Der Politikwissenschaftler erklärt, warum die Kinderrechte nicht in unsere Verfassung aufgenommen wurden und verdeutlicht, warum starke Kinderrechte und starke Elternrechte kein Widerspruch sind. Den ersten Teil des Gesprächs finden Sie unter diesem Link. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die schweren Probleme, die gerade Kinder aus armen Familien jetzt in der Pandemie haben, kann man doch nicht trennen von der Armut, der diese Familien auch schon vor Corona ausgesetzt waren, oder?

Schon vor der sogenannten Corona-Krise gab es Armut in Deutschland und besonders Kinderarmut. Schon vor dem Frühjahr 2020 ließ sich die soziale Benachteiligung von über vier Millionen Minderjährigen als eine politisch mitzuverantwortende, strukturelle Kindeswohlgefährdung und Kinderrechteverletzung diagnostizieren.

Wer den Stand der Forschung berücksichtigt, muss feststellen, dass ständige Erfahrungen von Mangel und Verzicht vor, während und nach Corona mit dazu beitragen, dass sich junge Menschen, die in ihrer Kindheit Armutserfahrungen machen müssen, weniger wohl und weniger zugehörig zur Gesellschaft fühlen.

Die Gefahr ist real, dass diese Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer Erfahrungen von Perspektivlosigkeit sich später von der Gesellschaft abkoppeln werden. Auch darauf hat die Bertelsmann-Stiftung verwiesen.

Die Bertelsmann-Stiftung hat immer mal wieder das Thema Kinderarmut aufgegriffen. Das ist löblich, allerdings hat die Stiftung auch eine nicht unwichtige Rolle in Sachen neoliberaler Reformen in Deutschland gespielt.

Das darf man nicht vergessen. Die von der Stiftung beklagte „zunehmende Polarisierung“ der Gesellschaft wurde auch von ihr vorangetrieben. Erinnert sei an ihre einflussreichen Konzepte zur Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Neoliberalisierung aller gesellschaftlicher Bereiche, wie etwa Bildung und Sozialstaat. Dazu zählten auch noch ein halbes Jahr vor Beginn der Corona-Krise Vorschläge, die Hälfte aller Krankenhäuser bzw. Krankenhausbetten einzusparen, womit im Frühjahr 2020 in Deutschland sicherlich ähnliche Verhältnisse erreicht worden wären wie in Nord-Italien oder in New York.

Die bislang erhältlichen, spärlichen empirischen Studien zur Kinderarmut während der Corona-Krise zeigen, dass sich diese soziale Polarisierung nicht etwa reduziert hat, sondern vielmehr noch deutlicher als vorher hervorscheint. Wichtig ist jedoch ganz grundsätzlich, dass Armutsanlässe wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder sogar Arbeitslosigkeit nicht mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt werden. Denn eine sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und eine gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik kann auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen. Mit Abstrichen könnte dies selbst für die Corona-Pandemie gelten, welche weniger zur Ursache als zum Anlass von verschärften Verarmungsprozessen landes- und weltweit geraten ist und die darunter liegenden sozio-ökonomischen sowie bildungs- und gesundheits-systemischen Ursachen zu überstrahlen droht. Genauso problematisch wie die einseitige Kennzeichnung von Kindern als „Armutsrisiko“ oder gar „Armutsursache“ hat sich in der Corona-Krise die weitgehend wissenschaftlich unbewiesene Beschreibung und Behandlung von Kindern als reine „Viren-Schleudern“ erwiesen.

Wir hören immer wieder von den Schäden, die das Virus anrichtet. Sei es nun, dass Menschen sterben oder unter den Folgen eines schweren Verlaufs der Infektion leiden. Aber mit welchen Folgen haben wir es denn zu tun, wenn wir an die Kinder und Jugendlichen denken, die unter den „Corona-Maßnahmen“ leiden? Kommt da noch etwas auf uns zu?

Nehmen wir einmal die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) und der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) vom 21. April 2021 über „Hospitalisierung und Sterblichkeit von COVID-19 bei Kindern in Deutschland“. Da heißt es: „Die nun seit Beginn der Pandemie gemachte Beobachtung, dass von den schätzungsweise 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland nur etwa 1.200 mit einer SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus (< 0,01%) behandelt werden mussten und 4 an ihrer Infektion verstarben (< 0,00002%), sollte Anlass sein, Eltern übergroße Sorgen vor einem schweren Krankheitsverlauf bei ihren Kindern zu nehmen. In der Saison 2018/19 wurden nach Angaben des RKI insgesamt 7.461 Kinder unter 14 Jahren mit Influenza als hospitalisiert gemeldet, 9 Kinder verstarben. Nach Angaben des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur lag im Jahr 2019 die Zahl der durch einen Verkehrsunfall getöteten Kinder bei 55, nach Angaben der DLRG die Zahl der ertrunkenen Kinder bei 25. Diese Zahlen sollen und dürfen keinesfalls gegeneinander aufgerechnet werden, mögen aber bei der Einordnung helfen“, so die Fachgesellschaften.

Für die vielen Millionen Kinder, Jugendlichen, Eltern und Großeltern ist diese Erkenntnis eine enorm wichtige Nachricht. Wenn man sie versteht, kann man Angst und Panik abbauen.

Jeder und Jede kann sich ja mal fragen, wie oft diese bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnis öffentlichkeitswirksam im Laufe der letzten Monate verbreitet wurde. Dem stelle man dann Darstellungen und Behandlungen von Kindern in diversen Medien als buchstäblich „die“ Viren-Verbreiter schlechthin gegenüber. Wir erinnern uns an eine Berichterstattung, die den Eindruck erweckt hat, wenn Kinder schon nicht durch die Verbreitung des Virus ihre Großeltern umbringen, so hätten sie zumindest das gleiche Infektions-, Erkrankungs- und Sterberisiko wie die Erwachsenen. Spätestens in ein paar Jahren würden sie dann, so die Prognose, mit furchtbaren Long-Covid-Erkrankungen gehandicapt sein. Die Vertreter all dieser unbewiesenen Behauptungen mit katastrophalen Konsequenzen für die Freiheit und das Recht von Millionen Kindern haben bis heute nichts davon selbstkritisch hinterfragt (und konnten sich dabei auf Journalisten verlassen, die sie regelmäßig nicht mit vorhandenen empirischen Widersprüchen und gegenläufigen Forschungsergebnissen konfrontieren).

Nochmal zur Ausgangsfrage: Kommt da noch etwas auf uns zu?

An der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Sozialsystemen lassen sich Konsequenzen beobachten. So berichteten verschiedene Untersuchungen, wie der Nationale Bildungsbericht 2020 für die BRD und der UNESCO-Weltbildungsbericht 2020, über eine deutlich werdende Verstärkung sozialer Ungleichheit durch Corona(-Maßnahmen). Im Nationalen Bildungsbericht 2020 hieß es etwa, dass „die Corona-Krise 2020 (…) die Gefahr einer weiteren Schere zwischen sozial benachteiligten und privilegierteren Kindern und Jugendlichen vor Augen geführt hat“.

Gerade erst war davon zu hören, dass in den USA die Corona-Politik laut einer Studie „zu einem dramatischen Anstieg der Suizidversuche von US-Amerikanerinnen im jugendlichen Alter geführt“ hat. Die Rede ist von 50 Prozent mehr Selbstmordversuchen.

Zugleich überschlagen sich ja fast die medialen Jubelmeldungen aus den (Börsenblättern der) USA, dass alle wieder super happy sind, Kosmetik und Kondome wie nur was kaufen und die Gesellschaft wunderbar wieder aufblüht. Da sind die von Ihnen genannten Zahlen fast schon sowas wie „Nestbeschmutzung“ und „Spielverderberei“ und werden deshalb in unseren Medien möglichst kleingehalten.

Tatsächlich weisen sie auf Probleme hin, die wir auch in Deutschland beobachten.

Der dazu passende, dem Neoliberalismus gemäße entpolitisierende, individualisierende Ansatz der Wahrnehmung und Verarbeitung gesellschaftlicher Probleme lässt sich auch z.B. an Aussagen der Bundeskanzlerin Angela Merkel veranschaulichen.

Welche Aussagen meinen Sie?

Ich zitiere aus der Hannoverschen „Neuen Presse“ vom 27. Mai 2021: „Sie lasse sich nicht anhängen, dass sie Kinder quäle, soll eine gereizte Angela Merkel in einer der endlosen Länderchefrunden gemurrt haben. Und scherzte in einem Gespräch mit 14 Elternteilen: ‚Eigentlich müsste ich zu jedem von Ihnen nach Hause kommen und mich drei Stunden um Ihre Kinder kümmern, damit Sie auch mal Sport machen können oder Zeit für etwas anderes haben‘.“ (Neue Presse v. 27.5.2021)

Was ist Ihre Kritik an der Aussage?

In ihrem Missverständnis der Lage und Probleme von vielen Millionen Kindern und Familien wird ihr gar nicht klar, dass es weder darum geht, ihr persönliche Kinderquäl-Gelüste zu unterstellen, noch sie als Haushaltshilfe oder Babysitterin einzustellen. Kaum eine Familie würde darauf wirklich Wert legen. Vielmehr geht es doch um die allgemeine politische Priorisierung und gesetzlich vorgeschriebene Kindeswohlvorrang-Prüfung bei allen politischen Entscheidungen, welche (mindestens) im Laufe des letzten Jahres ziemlich in den Hintergrund getreten sind. Da reicht es dann auch nicht, nach über einem Jahr in Online-Konferenzen Interesse an Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen, Eltern, Armutsbetroffenen, „Tafel“-Verantwortlichen usw. zu bekunden und dann bei den notwendigen Konsequenzen und Maßnahmen höchstens zu kleckern, statt zu klotzen. Auch hier gilt die alte Fußball-Weisheit: Entscheidend ist auf dem Platz.

Gerade erst ist die Aufnahme der Kinderrechte in unsere Verfassung gescheitert.
Vorab: Würden Sie uns bitte erklären, was genau Kinderrechte sind?

Die Kinderrechte (z.B. auf Schutz, Leben, Nicht-Diskriminierung, Beteiligung, Förderung, Bildung, Gesundheit usw.) der UN-Kinderrechtskonvention sind in Deutschland als Bundesgesetz für alle gesetzgebende, rechtsprechende und ausführende Gewalt sowie für alle nicht-staatlichen Bereiche bindend. Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, die sogenannte UN-Kinderrechtskonvention, ist in Deutschland seit April 1992 in Kraft. In ihr sind Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte von Kindern festgeschrieben. Die damalige Bundesfamilienministerin Angela Merkel hat sie übrigens vor 30 Jahren als Gesetz in den Bundestag mit-eingebracht. Im Zentrum der Konvention steht die Anerkennung von Kindern als eigenständige (Rechts-)Subjekte und damit Träger/innen von Menschenrechten.

Sie waren selbst an den Verhandlungen beteiligt, haben sich eingebracht. Würden Sie bitte Ihre Rolle skizzieren? Was haben Sie gemacht?

Zwar haben wir noch Anfang 2020 bei uns an der Hochschule Magdeburg-Stendal im Audimax des Standorts Stendal mit der parlamentarischen Staatssekretärin Caren Marks über den Gesetzentwurf zu Kinderrechten im Grundgesetz diskutiert und zum Thema der Corona-(Maßnahme-)Folgen bei Kindern wurde ich im September 2020 in die Kinderkommission des Deutschen Bundestages eingeladen und auch am 31. Mai 2021 war ich Sachverständiger in der Anhörung des Familienausschusses des Bundestages zu einem Teil des sogenannten Aufhol-Pakets, aber an den Verhandlungen über den Gesetzentwurf war ich nicht beteiligt.

Nun sind die Verhandlungen gescheitert. Was sind die Gründe?

Man wird den Verdacht nicht los, dass die Kinder und deren Rechte offenbar auf dem kompromisslosen Koalitions-Altar geopfert wurden. Der Grund ist vermutlich der, dass sich die Regierungsfraktionen im Maskenskandal und Bundestagswahlkampf nichts mehr schenken. Damit wären die Kinder abermals Opfer dieser Bundesregierung bzw. betriebe die Regierung erneut Politik auf Kosten der Kinder.

Fest steht: Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung will das Kindeswohl nicht „vorrangig“, sondern nur „angemessen“ berücksichtigen. Außerdem sollen die Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen nur auf „rechtliches Gehör“ beschränkt werden.

Das ist klar ein Rückschritt zum Status Quo der seit 1992 als Bundesgesetz verankerten UN-Kinderrechtskonvention.

Womöglich könnte der Entwurf aber auch als Ausdruck der realen Umsetzungsprobleme bei den Kinderrechten in der Corona-Krise angesehen werden. Insofern ist der im Juni von der nebenberuflichen Familienministerin und hauptberuflichen Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) als gescheitert ausgerufene Gesetzentwurf zu Kinderrechten im Grundgesetz (Art. 6) tatsächlich kein großer Schaden.

Allerdings hätte selbst eine auch nur symbolische Erwähnung der Kinderrechte insofern mindestens Signalwirkung gehabt, als dass die vielen Juristen und Beamten inner- und außerhalb des Bundestages gezwungen gewesen wären, sich wenigstens einmal während der Ausbildung mit der UN-KRK auseinanderzusetzen. Ähnliches gilt für die zukünftigen Lehrer, Erzieherinnen und Sozialarbeiter.

Was hätte anders laufen müssen?

Bestehende Rechtsansprüche von Kindern gegenüber der Gesellschaft werden oft – wenn überhaupt – vor allem auf Fürsorge und Kinderschutz reduziert und ein Ende ist nicht wirklich absehbar, eine wie auch immer aussehende sogenannte Normalisierung nach der Pandemie wird nicht per Knopfdruck möglich sein. Somit kann hier ohne Gegensteuerung leider nur ein Rückschritt diagnostiziert bzw. prognostiziert werden. Bedauerlicherweise droht deshalb auch bei der nächsten Ansteckungswelle eine ähnlich missachtende Vorgehensweise, da nicht wirklich kritisch aufgearbeitet wurde, wie bislang mit Kindern und Jugendlichen umgegangen wurde. Somit müssen die Interessen von Kindern und die Kinderrechte in der Pandemie deutlicher gestärkt werden.

Es ist bitter zu beobachten, wie seit Jahren die Kinderrechte und die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von politischer Seite gefeiert wurden, aber seit März 2020 oft selbst die minimalsten kinderrechtlichen Grundlagen weggewischt werden. Selbst die geringsten Versuche, Kinder, Jugendliche und Jugendverbände auch nur annähernd in Entscheidungsprozesse einzubinden, sind kaum zu erkennen.

Und so wird es wohl weitergehen?

Trotz gegenläufiger Impulse durch Landeskinderbeauftragte z.B. in Sachsen-Anhalt und Hessen weisen zumindest viele Indizien darauf hin. Wie die allzu selektive und überwiegend kinderbeteiligungs-freie Öffnung von Schulen, Kitas und Offener Jugendarbeit aufzeigte, liefen viele Maßnahmen auch weiterhin (und dann auch während des zweiten Lockdowns nach dem November 2020) auf Aussperrung und Entrechtung vieler Millionen Kinder hinaus, was ebenfalls als Rückschritt im Verhältnis zur ganz und gar nicht beschönigenswerten Vor-Corona-Zeit betrachtet werden muss.

Wie haben sich denn die Parteien positioniert?

Von ganz rechts bis zuweilen auch nach links wird manchmal gemutmaßt, von den einen gefürchtet und von den anderen gehofft, dass die Stärkung von Kinderrechten einer Schwächung von Elternrechten gleichkäme. Dies ist ein kolossales Missverständnis, welches nicht versteht, dass Elternrechte an das Kindeswohl gebundene Rechte sind und kein Willkürrecht oder Gebrauchsrecht über eine Sache und auch nicht (bzw. nicht mehr wie bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) das Recht auf Gewalt und Misshandlung von Eltern bzw. Vätern an ihnen buchstäblich gehörenden oder zumindest hörigen Objekten.

Starke Kinderrechte und starke Elternrechte sind also kein Widerspruch?

Absolut nicht. Im Gegenteil. Beide funktionieren am besten zusammen. Da wir allerdings in einer kapitalistischen Klassengesellschaft leben, verstehe ich das Misstrauen sowohl der einen wie auch der anderen, ohne deren Meinung zu teilen. Es passiert nämlich zu oft, dass einer (erwerbstätigen) Alleinerziehenden mit drei Kindern zwar nicht mit ein paar hundert Euro ausgeholfen wird, um wenigstens eine Zwei- oder Drei-Zimmerwohnung zu erhalten. Wenn diese Mutter dann unter der gesamten Belastung und Enge buchstäblich zusammenbricht und eines der Kinder zu vernachlässigen droht, ist das Jugendamt zur Stelle und die Inobhutnahme, Unterbringung bei Pflegeeltern oder gar Heimunterbringung lässt sich der Staat bis zu 5.000 Euro monatlich kosten. Wer nun die Interventionsschwelle, ab der der Staat eingreifen muss, mithilfe einer Grundgesetzänderung herabsenken will, muss sich bewusst sein, welche Implikationen das hat, solange präventive sozialstaatliche Hilfen und Wohnungspolitik ausgeblendet werden.

Warum ist es offensichtlich so ein großes Problem, die Kinderrechte fest in unserer Verfassung zu verankern?

Das frage ich mich auch manchmal, denn in fast allen Bundesländern und in der sogenannten EU-Grundrechte-Charta stehen sie ja bereits, ohne dass Elternrechte deshalb eingeschränkt würden.

Was wären denn sinnvolle Maßnahmen?

Sinnvolle Maßnahmen bestünden zunächst einmal darin, eine ehrliche Bestandsaufnahme dessen vorzunehmen, wie sich Deutschland in der Corona-Krise entwickelt hat. Viele Millionen Menschen wurden in Kurzarbeit geschickt. Durch das wegfallende Einkommen entstehen tendenziell Armutslagen und soziale Polarisierung. Durch Corona-Maßnahmen werden die Bildungsungleichheiten noch zunehmen. Hinzu kommt, dass die in der Regel etwa 20 Prozent höheren Einkommen der Männer wieder deutlicher an Bedeutung gewinnen und die Re-Traditionalisierung geschlechtlicher Arbeitsteilung begünstigt wird, gerade wenn die Kinder zuhause bleiben müssen. Eine Re-Privatisierung sozialer Risiken wird befördert, wonach jeder seines eigenen gesundheitlichen, familiären und gesellschaftlichen Glückes Schmied sei. Dies sind eindeutige Hinweise auf einen gesellschaftlichen Rückschritt im neoliberalen Zeitalter.

Dringend sind Maßnahmen gegen Armut und zur sozialen Absicherung der Kinder und Familien zu ergreifen. Diese müssen allerdings deutlich über den Kinderfreizeitbonus und die zwei vorangegangenen Kinderboni hinausgehen. Auch die kinderrechtlichen Prinzipien des Kindeswohlvorrangs, des Schutzes, der Förderung und vor allem der Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Jugendverbänden müssen (wieder) aufgebaut beziehungsweise umgesetzt werden. Damit verbunden sind Maßnahmen für einen pandemiegerechten Ausbau der sozialen Infrastruktur im Wohnumfeld – vor allem mittels Jugendhilfe und offener Arbeit.

Halbwegs aufgeklärte Staaten wie Frankreich oder Dänemark haben unterdessen während der Corona-Krise selbstverständlich beschlossen, dass Unternehmen keine Staatsgelder und Kurzarbeits-Vergünstigungen auf Kosten der Solidargemeinschaft erhalten, wenn sie gleichzeitig noch Milliarden an Dividenden für ihre Hauptanteilseigner ausschütten. Dieses Minimum an bürgerlicher Vernunft ist in Deutschland selbstverständlich nicht gegeben und der medien-öffentliche Aufschrei der Empörung darüber hält sich ebenso in Grenzen.

Ist denn überhaupt genügend Geld für diese Maßnahmen da?

Das ist es. Die Entwicklungshilfe-NGO „Oxfam“ verdeutlicht das in ihrem Bericht zum „Ungleichheits-Virus“ vom 25.1.2021. Darin erläutert sie erneut, wie stark die soziale Spaltung weltweit von der Corona-Krise vorangetrieben wurde: „Das Vermögen der (im Dezember 2020) zehn reichsten Männer der Welt ist seit Februar 2019 – trotz der Pandemie – um fast eine halbe Billion US-Dollar auf 1,12 Billionen US-Dollar gestiegen. Dieser Gewinn wäre mehr als ausreichend, um die ganze Weltbevölkerung gegen Covid-19 zu impfen und sicherzustellen, dass niemand durch die Pandemie in die Armut gestürzt wird.“ (Oxfam 2021, S. 4) Zugleich weist Oxfam darauf hin, dass auch in Deutschland veritable Krisen-Gewinnler zu verzeichnen sind.

Zum weiteren Nachweis der Tatsache, dass Geld genug vorhanden ist, kann man sich auch anschauen, was das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung zur sozialen (Vermögens-)Ungleichheit in seinem Wochenbericht vom 3. Februar 2021 anhand der Erbschaften in Deutschland verdeutlicht hat.

Nämlich?

Demnach hat sich in den vergangenen 20 Jahren „das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland auf 13,8 Billionen Euro mehr als verdoppelt. Davon könnten nach Schätzungen des DIW Berlin jedes Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt werden“ (Baresel u.a. 2021, S. 64). Diese intergenerationale Vermögensweitergabe ohne marktwirtschaftlichen Leistungsanspruch verteilt sich nur sehr schicht- bzw. klassenspezifisch auf die Erbengeneration.

Deshalb ist auch das Gerede von der sogenannten Verlierer-Generation Corona mit Blick auf soziale Ungleichheit zu hinterfragen.

Wie meinen Sie das?

Nun ja, schließlich differieren auch die Folgen für die sogenannte „Generation Corona“, die mit der Pandemie aufwachsen muss, je nach sozialer Lage. So ist nicht allzu viel zu halten von Zwangsläufigkeit suggerierenden Prognosen neoliberaler Bildungsökonomen, die sich bereits jetzt fast darauf festlegen wollen, wie viel Gehalt, wie viele Jahre Lebenseinkommen und wie viel Rente die sogenannte Corona-Generation alleine durch den ersten Lockdown 2020 schon verloren hat. Eine nüchterne Beschäftigung mit den Generationen, die ihre Schulabschlüsse während des Zweiten Weltkrieges oder während der gesellschaftlichen Umbruchsphasen um 1968 oder um 1989/90 mit ziemlich geringem Schulbesuch absolviert haben, zeigt doch sofort, dass auch die Bewertung von schulischen sowie beruflichen Qualifikationen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen unterworfen ist.

In vielen Zwangs-Prognosen werden dagegen zumeist gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ausgeblendet sowie die real existierende soziale Ungleichheit innerhalb der jeweiligen Generation. Kurz gesagt: Wer jetzt wohlhabend aufwächst sowie reich erbt und wer dann durch keine wirksamen Reichen-, Vermögen- und Erbschaftsteuern an den Kosten der Corona-Krise beteiligt wird, kann in der Regel die praktisch alle betreffenden psychosozialen Belastungen leichter bewältigen. Die anderen mehr als 90 Prozent der jungen Generation werden dafür allerdings sehr hart arbeiten und dafür sehr viel bezahlen müssen, wenn dies nicht durch veränderte Kräfteverhältnisse und gerechtere Verteilungspolitik korrigiert wird.

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