Bildungs-Notstand – Anmerkungen zu einem vernachlässigten Problemfeld

Bildungs-Notstand – Anmerkungen zu einem vernachlässigten Problemfeld

Bildungs-Notstand – Anmerkungen zu einem vernachlässigten Problemfeld

Heinz Klippert
Ein Artikel von Heinz Klippert

Der desolate Zustand des deutschen Schulwesens ist offenkundig. Laut neuester IGLU-Studie vom April 2023 hat ein Viertel der deutschen Viertklässler größte Schwierigkeiten damit, Texte sinnentnehmend zu lesen und relevante Informationen zu erfassen (vgl. Frankfurter Rundschau vom 17.5.2023, S. 5). Ähnliche Defizite zeigen sich u.a. auch in Mathematik und einigen weiteren Fächern (vgl. PISA-Studien). Wichtig: Diese Defizite hängen hochgradig mit der sozialen Herkunft der Kinder und der völlig mangelhaften Bildungs-, Migrations- und Integrationspolitik zusammen. Die Hauptleidtragenden dieser Politik sind Kinder mit Migrationshintergrund und/oder solche aus sozial schwachen bzw. bildungsfern eingestellten Elternhäusern. Von Chancengerechtigkeit kann also kaum die Rede sein! Von Dr. Heinz Klippert.

Die Bildungskrise im Aufriss

Die angedeuteten Leistungsdefizite und Ungerechtigkeiten sind allerdings nur eine Seite des aktuellen Bildungsnotstands. Die andere Seite betrifft die sehr substanziellen materiellen und personellen Mängel im Bildungsbereich. Zwar verweisen Politiker bei jeder sich bietenden Gelegenheit gerne auf den „üppigen Bildungsetat“ und die Wertigkeit anspruchsvoller Bildung. Das ändert aber nichts daran, dass das Bildungswesen insgesamt deutlich unterfinanziert ist. Das bestätigt u.a. das 2022er-Kommunalpanel der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), demzufolge sich der aktuelle „Investitionsstau“ im Schulbereich auf sage und schreibe 45,6 Milliarden Euro beläuft. Notwendige Modernisierungsinvestitionen unterbleiben, werden abgespeckt oder auf die lange Bank geschoben. Diese Praxis signalisiert einmal mehr: Der Bildungsbereich ist und bleibt ein eher nachrangiges Politikfeld.

Die Folge dieses Investitionsstaus sind vielerorts heruntergekommene Schulgebäude, Schulhöfe, Toilettenanlagen und Sportstätten, antiquierte Klassenzimmer, Schulmöbel und Digitalausstattungen, fehlende Lehrerarbeitsräume, Konferenzräume, Differenzierungsräume sowie Lehr- und Lernmittel. Doch das ist längst nicht alles. Eklatante Mangelsituationen zeigen sich auch beim Personal, d.h. bei der Versorgung der Schulen mit Lehrkräften, Schulpsychologen, Sozialpädagogen und sonstigen Förderkräften für die schulinterne Betreuungs- und Differenzierungsarbeit. Wie der Bildungsforscher Klaus Klemm in seinem für den Verband Bildung und Erziehung erstellten Gutachten zum Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland feststellt, werden bis zum Jahr 2030 rund 81.000 Lehrkräfte fehlen. Hinzu kommt ein durch diverse Reformvorhaben wie Inklusion, Individualisierung und Ganztagsbetreuung ausgelöster zusätzlicher Bedarf an rund 74.000 Lehrkräften (vgl. Klemm 2022).

Alles in allem fehlen laut Klemm-Gutachten bis 2030 also ca. 155.000 Lehr- und Förderkräfte – vorausgesetzt, die Bildungspolitik hält am bisherigen Trott fest. Das verschärft nicht nur die bestehenden Lern-, Leistungs-, Motivations- und Mobilisierungsprobleme in den Schulen, sondern steht auch in krassem Gegensatz zu den seit Jahrzehnten zu hörenden politischen Bekundungen, dass die Steigerung der Bildungsqualität und Chancengerechtigkeit hierzulande höchste Priorität habe. Die Realität sieht leider deutlich anders aus. Dass diese Mängel den wirtschaftlichen und politischen Erfordernissen im Lande zuwiderlaufen, ist ein offenes Geheimnis und sollte die Bildungsverantwortlichen dringend dazu veranlassen, die finanziellen, sächlichen und personellen Rahmenbedingungen im Schulbereich zu verbessern.

Bildungsgipfel reichen nicht

Der letzte Bildungsgipfel am 14. und 15. März 2023 in Berlin bestätigte mal wieder, dass es um die in Aussicht gestellte Qualitätsoffensive im Bildungsbereich eher schlecht bestellt ist. Geladen waren laut Ministerium rund tausend Vertreter/innen von Bund, Ländern, Kommunen, Universitäten und sonstigen Organisation, um zwei Tage lang über die aktuellen Herausforderungen im Schul- und Bildungswesen zu sprechen und zukunftsweisende Reformideen zu entwickeln. Doch außer abstrakten Reden, Appellen und Problemanzeigen kam bei diesem Gipfel wenig heraus – zumal die entscheidungsbefugten Landes-Bildungsminister bis auf zwei Ausnahmen erst gar nicht in Berlin erschienen. Dieser bewusste Affront spiegelt die ganze Zerstrittenheit und Problemlöse-Unfähigkeit der im föderalen Interessengeflecht gefangenen politischen Verantwortungsträger (vgl. Klippert, 2023, S. 132 ff). Abgrenzung ist in; Alleingänge ebenso. Das erschwert die dringend notwendigen Reformprozesse.

Diese föderalen „Grabenkämpfe“ sind ein wichtiger Grund für die alarmierende Stagnation und Problemverschleierung im Schul- und Bildungsbereich. Politik ist nur zu oft Symbolpolitik in dem Sinne, dass schillernde Problemlöseanstrengungen versprochen, aber nur selten eingehalten werden. Es wird abgelenkt und schöngeredet. Viele Landespolitiker/innen tendieren bewusst dazu, ihr eigenes Süppchen zu kochen und Reformvorstöße konkurrierender Bundesländer eher zu torpedieren als eine gemeinsame gesamtstaatliche Reformpolitik zu suchen und zu betreiben. Die Folge dieser föderalen Rivalitäten ist das fatale Hinauszögern und Verwässern gesamtstaatlicher Investitionsprogramme und Modernisierungsanstrengungen. Ein typisches Beispiel für diese lähmende Wirkung des Föderalismus sind die jahrelangen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern in Sachen „Digitalpakt Schule“.

Das Paradoxe an diesem politischen Hickhack war, dass das allseits geforderte 5-Milliarden-Paket des Bundes für die Digitalisierung von Schule und Unterricht jahrelang kaum genutzt wurde, weil mehrere Bundesländer die Vorgaben/Vorschläge der Bundesebene zur Mittelverwendung und Mitfinanzierung der Länder als politische Anmaßung und Bevormundung deuteten und deshalb ziemlich kompromisslos ablehnten. Lieber verzichteten sie auf eine durchgreifende Digitalisierungsoffensive in den Schulen. Kein Wunder also, dass sich viele ausländische Beobachter verwundert die Augen reiben, wenn sie die Kleinkariertheit und Kompliziertheit des bundesdeutschen Bildungsföderalismus sehen und dessen Innovationsträgheit erkennen. Wirksame Modernisierungsprozesse verlangen anderes!

Sondervermögen für Bildung!?

Angesichts des desolaten Zustands unseres Bildungswesens fordern diverse Lehrerverbände, Politiker/innen und Parteien seit kurzem ein 100-Milliarden-Sondervermögen des Bundes zur Sanierung und Modernisierung des Schul- und Bildungswesens. Die Argumentation rekurriert dabei berechtigterweise auf die Tatsache, dass für andere Krisenherde (Bundeswehr, Energiekrise, Bankenkrise etc.) in den letzten Jahren im Handumdrehen große Investitionssummen locker gemacht wurden. Warum also nicht auch zur Bekämpfung der aktuellen Bildungskrise ähnlich verfahren und die gleiche Entschiedenheit an den Tag legen?! Diese Frage beherrschte beispielsweise die Bundestagsdebatte am 2. März 2023 – ausgelöst durch einen entsprechenden Antrag der Fraktion Die Linke. Zuvor waren schon ähnliche Forderungen seitens der SPD-Vorsitzenden Saskia Esken sowie mehrerer Lehrerverbände erhoben worden – stets verbunden mit dem Plädoyer für eine deutliche Ausweitung der Bundes-Kompetenzen als Voraussetzung für eine stringentere gesamtstaatliche Reformpolitik.

Vieles spricht dafür, dass diese Vorstöße in die richtige Richtung zielen. Wer die aktuelle Bildungskrise wirksam bekämpfen will, muss in der Tat klotzen und darf nicht länger kleckern, wie das die „Schwarze-Null-Finanzpolitik“ jahrzehntelang nahegelegt hat. Diese höchst einseitige Sparpolitik rächt sich nun. Das zeigt zum einen der erwähnte Investitionsstau, zum anderen aber auch die alarmierende Tristesse in vielen Bildungseinrichtungen. Für den Bildungsstandort Deutschland ist das alles andere als verheißungsvoll. Allerdings bedeutet finanzielles Klotzen noch lange nicht, dass die überfällige Modernisierung und Effektivierung der Bildungsarbeit dann auch stattfindet. Geld alleine reicht nicht! Dazu braucht es auch und zugleich überzeugende Innovationsstrategien und -akzente, die nachhaltige Verbesserungen im Schulalltag sichern (vgl. Klippert 2023, S. 160 ff). Finanzspritzen hat es schließlich auch in der Vergangenheit schon gegeben. Nur sind sie oft recht wirkungslos verpufft.

Wenn sich die Probleme stauen

Die Crux der sich zuspitzenden Defizite im Bildungsbereich ist die, dass sich bei vielen Bürger/innen berechtigte Zweifel an der Problemlösefähigkeit des politischen Systems einstellen. Diese Zweifel betreffen die politischen Institutionen und Entscheidungsträger genauso wie die administrativen Prozesse und föderalen Zuständigkeitsregelungen, wie sie hierzulande an der Tagesordnung sind. Wie problemlösefähig ist unser System tatsächlich? Diese Frage sorgt bei vielen Menschen mittlerweile nicht nur für ziemliche Ernüchterung und/oder Verbitterung, sondern auch für wachsenden Unmut, der durchaus das Zeug dazu hat, sich zu einer veritablen Legitimationskrise unseres demokratischen Gemeinwesens auszuwachsen. Eine Demokratie nämlich, die innenpolitische Probleme nicht zügig zu lösen vermag, muss sich nicht wundern, wenn sie ins Kreuzfeuer der Kritik gerät und Demonstrant/innen verschiedenster politischer Couleur auf die Straßen und Marktplätze treibt.

Genährt wird diese schwelende Legitimationskrise ja nicht nur durch den skizzierten Bildungsnotstand und die offenkundige Unfähigkeit des politischen Systems, diesem wirksam abzuhelfen. Ähnliche Zweifel an der Problemlösefähigkeit unserer Politiker/innen entzünden sich auch an vielen anderen Stellen, an denen sich die Problemlagen zuspitzen und das Vertrauen in die etablierte Demokratie erschüttern (vgl. Blasberg 2022). Das beginnt bei den dramatischen Problemen im Gesundheitswesen, bei der Einkommensverteilung und bei der Altenpflege und reicht über Wohnungsnot, Inflation, Migrationsprobleme, Energiekrise und Umweltkrise bis hin zum Fehlen funktionsfähiger Infrastruktur in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens (Straßenbau, Brückenbau, Stromtrassen, Bahnverkehr etc.). Viele Menschen haben schlicht und einfach den Eindruck, dass das etablierte Regierungssystem die bestehenden Probleme mehr verschleiert als löst. Die aktuelle Bildungskrise ist nur eine Spitze des Eisbergs.

Wenn also derzeit lauthals über „Klimakleber“ und andere systemkritische „Provokateure“ geklagt wird, dann sollten sich die etablierten Parteien und Politstrategen zuallererst einmal nach den eigenen Versäumnissen und Glaubwürdigkeitsdefiziten fragen und endlich mit der peinlichen Schönfärberei und/oder Panikmache aufhören. Denn Protestbewegungen werden letztlich nur deshalb stark und zum Strohhalm der Benachteiligten und Unzufriedenen in unserer Gesellschaft, weil es die etablierte Politik nicht schafft, die existenziellen Probleme der Bürger/innen hinreichend zupackend und sozialverträglich zu lösen. Der skizzierte Bildungsnotstand spiegelt dieses irritierende „Staatsversagen“ und sollte Grund zum Nachdenken sein.

Literaturhinweise

Blasberg, A.: Der Verlust. Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam. Hamburg 2022.

Klippert, H.: Die gelähmte Bildungsrepublik. Plädoyer für eine veränderte Bildungspolitik. Weinheim und Basel 2023.

Klemm, K.: Entwicklung von Lehrkräftebedarf und -angebot in Deutschland bis 2030. Expertise im Auftrag des Verbandes Bildung und Erziehung, Essen 2022.

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