SPD-Steuer- und Abgabenkonzept: Orientierung auf den Sankt Nimmerleinstag

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Eigentlich sind die „Orientierungspunkte der SPD für eine integriertes Steuer- und Abgabensystem eines sozialen Deutschlands“ [PDF – 248 KB] aktuell keiner gründlichen Würdigung wert, denn sie sollen frühestens ab 2011 umgesetzt werden. Was Aussagen über Steuern und Abgaben vor einer Wahl wert sind, das haben wir bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer erleben müssen. Was die wirtschaftliche Situation im Jahre 2011 für eine Finanzpolitik erforderlich macht, weiß heute noch kein Mensch. Und ob die Haushaltslage dann eine über Steuern finanzierte Senkung der Sozialversicherungsabgaben zulässt, steht in den Sternen. Das Papier ist eine eher aus der Hüfte geschossene Reaktion der SPD auf die populistische Steuersenkungskampagne der CSU und ihres Wirtschaftsministers Glos. Wolfgang Lieb

Interessant sind die „Orientierungspunkte“ allenfalls deshalb, weil sie Aufschluss über das derzeitige wirtschafts- und finanzpolitische Konzept der SPD geben können. Genauer müsste man sagen, sie verraten, dass die SPD kein Konzept hat und, wenn ja, ein falsches.

So ist die Einleitung des Papiers ein weiterer Versuch, die angeblich positiven Auswirkungen der Agenda-Politik zu beweihräuchern. Da wird dann einmal mehr die Legende von den zu hohen Sozialabgaben aufgetischt; deren Senkung von 42,1 % am Ende der Kohl-Ära auf mittlerweile 39% habe unübersehbare positive Wirkungen auf dem Arbeitsmarkt.

Unerwähnt bleibt dabei natürlich, dass im EU-27-Vergleich Deutschland bei den „Lohnnebenkosten“ insgesamt auf Platz 14 und bei den gesetzlichen Sozialabgaben gar erst auf Platz 17 landet. Die angeblich zu hohen „Lohnnebenkosten“ waren ohnehin ein Mythos, der den Abbau der Sozialleistungen – von den Rentenkürzungen bis zur Heranziehung der Patienten bei den Gesundheitskosten – legitimieren sollte. Dass mit der Senkung der Sozialabgaben zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden seien, gehört allenfalls in den Katechismus neoliberaler Glaubenssätze.

Über die Auswirkungen der Senkung der Sozialabgaben für die Arbeitslosenversicherung, für die gesetzliche Rente und für das Gesundheitssystem (bei dem die Beitragssätze im Übrigen gestiegen sind) wird in dem Papier vorsichtshalber nicht gesprochen.

Gar nicht erwähnt wird auch, dass diejenigen, die die Rentenkürzungen durch eine private Riester-Vorsorge kompensieren müssen (sofern sie das können) 4 % ihres Bruttoeinkommens nunmehr ohne Arbeitgeberbeteiligung zusätzliche zu den 19,9% Rentenbeiträge bezahlen müssen.

Auch die Senkung der des Eingangssteuersatz bei der Einkommensteuer von 25,9 % auf 15 % und des Spitzensteuersatzes von 53 % auf 42 % mit einem Entlastungsvolumen 58,5 Milliarden Euro wird bejubelt. Die Entlastung sei zum Großteil den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute gekommen.

Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt allerdings die OECD: Durchschnitts- und Geringverdiener hätten in Deutschland von den Steuer- und Abgabensenkungen kaum oder gar nicht profitiert, Alleinerziehende mit geringen Löhnen zahlten sogar mehr als früher, meldete die Süddeutsche Zeitung (vom 12. März 2008 S. 17). Deutschland ist sogar der einzig ausgewiesene OECD-Staat, bei dem von 2000 bis 2006 die Steuer- und Abgabenbelastung der unteren bis mittleren Einkommensbezieher – die zwischen 33 bis 67 % des Durchschnittseinkommens beziehen – angestiegen ist. Diejenigen, die zwischen 150 bis 200 % des Durchschnittseinkommens beziehen, wurden danach am stärksten entlastet.

Der Satz „jeder muss seiner Leistungsfähigkeit entsprechend zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen!“ ist also durch die zurückliegende Agenda-Steuer- und Abgabenpolitik sträflich missachtet worden.

„Deutschland hat heute 1,5 Millionen weniger Arbeitslose als vor drei Jahren sowie so viele Beschäftigte wie nie zuvor. Dies haben wir erreicht durch einen intelligenten Mix aus notwendigen Konsolidierungsmaßnahmen, gezielten Konjunkturimpulsen, Zukunftsinvestitionen und der notwendigen Reformen der sozialen Sicherungssysteme“, heißt es stolz in dem Steuer- und Abgabenkonzept der SPD.

Ehrlicher wäre es, zu sagen, Deutschland hat dank der Weltkonjunktur und dank des Nachholbedarfs an privaten Ausrüstungsinvestitionen ein leichtes Wachstum und das hat die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt etwas belebt.

Ja, in der Arbeitslosenstatistik tauchen 1,5 Millionen Arbeitslose weniger auf, aber tatsächlich würden weitere gut 1,5 Millionen Männer und Frauen eine reguläre Beschäftigung ergreifen, wenn sie denn eine fänden. Sie finden aber keine, und trotzdem tauchen sie in der Arbeitslosenstatistik nicht auf. 625.000 Menschen, die zur “stillen Reserve” gerechnet werden, tauchen in der Statistik nicht auf, weil sie sich, frustriert über ihre schlechten Vermittlungschancen, erst gar nicht bei den Arbeitsagenturen melden.

Zählt man alles zusammen, so sagt Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), “kommt man in Deutschland auf gut fünf Millionen Menschen, die gerne arbeiten würden”. Das sind gut 1,5 Millionen mehr als in der amtlichen Statistik.

Ja, die Zahl der Beschäftigten hat sich wieder erhöht, aber zur ganzen Wahrheit gehört, dass der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an allen Beschäftigten von 75,0 % in 1995 auf nur noch 68,2 % im Februar 2008 zurückgefallen ist. Darüber hinaus übten 2,15 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zusätzlich einen geringfügig entlohnten Nebenjob aus. 2,7 Millionen Arbeitslosengeldempfänger gelten nicht als arbeitslos, weil sie einen so niedrigen Lohn für ihre Arbeit beziehen, dass sie „aufstocken“ müssen, um überleben zu können. Die Zahl der ausschließlich geringfügig entlohnt Beschäftigten hat nach ersten Hochrechnungen der Bundesagentur für Arbeit im Februar 4,89 Millionen betragen. Über ein Drittel der Zunahme an der Erwerbstätigkeit entfällt auf unsichere und in der Regel schlecht bezahlte Zeitverträge.

Es ist zwar verständlich, dass eine Regierungspartei alles versucht, um ihre zurückliegende Politik schön zu reden, aber mehr Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit würde mehr zur Glaubwürdigkeit beitragen als die ständigen Glaubwürdigkeitsdebatten, ob man nun mit der Linkspartei zusammenarbeiten darf oder nicht.

Neben der eher ärgerlichen Selbstbeweihräucherei gibt es in dem Papier natürlich auch richtige Aussagen, so wenn es gegen das Steuersenkungskonzept der CSU geht:

„Mehr Netto ohne mehr Brutto geht nur zulasten eines handlungsfähigen Staates. Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten.“
Mehr Netto ohne mehr Brutto geht aber auch zu Lasten der Arbeitnehmer, wie die folgende Grafik zeigt:

Veränderung des Jahresnettoeinkommens

Quelle: sueddeutsche

Richtig ist auch, dass – dank der Unternehmensteuersenkungspolitik der Regierungen Schröder und Merkel – Deutschland „mit 22 % eine der niedrigsten Steuerquoten unter den Industrienationen hat. Eine noch geringere Steuerquote ist kein Wert an sich.“

Und richtig ist auch der Vorhalt gegen das CSU-Steuerentlastungskonzept, dass dadurch etwa eine Familie mit zwei Kindern unter Berücksichtigung des Kindergelds bis zu einem Brutto-einkommen von 37.610,- Euro überhaupt nicht entlastet würde, weil sie im Ergebnis keine Einkommensteuer bezahlt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch Rentnerinnen und Rentner, die heute wegen ihres geringen Einkommens schon keine Steuern zahlen, würden durch weitere Steuersenkungen nicht entlastet.

Was aber sowohl die CSU als auch die SPD bei ihren Steuerkonzepten gerne unter der Decke lassen, das ist die Tatsache, dass die Umsatz- und Verbrauchssteuern sowie die Mineralöl- bzw. die Energiesteuer inzwischen ca. 43 % des gesamten Steueraufkommens ausmachen, also erheblich mehr als die Lohnsteuer. Über eine Rücknahme der 3-%igen Erhöhung der Mehrwertsteuer, die vor allem Haushalte getroffen hat, die den größten Teil ihres Einkommens verkonsumieren müssen, wird leider nicht nachgedacht.

Konsolidieren – Investieren – Entlasten, so lautet die Überschrift der Orientierungspunkte der SPD, und genau in dieser Reihenfolge wollen die Sozialdemokraten auch vorgehen. Diese Rangfolge belegt einmal mehr, dass in der SPD gesamtwirtschaftliches Denken verloren gegangen ist.

Seit Eichels Sparpolitik hätten die Sozialdemokraten eigentlich die Erfahrung machen können, dass Sparenwollen und Sparenkönnen zwei paar Stiefel sind. Eichel hat ja Jahr für Jahr gespart und musste Jahr für Jahr mehr Nettokredite aufnehmen. Erst mit dem Anspringen der Konjunktur konnte der Staat wieder mehr einnehmen und wurde das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts überhaupt erst realistisch, und das trotz des Steuersenkungswahns bei den Unternehmenssteuern, bei der Streichung der Spekulationssteuer und trotz des Absturzes der Vermögenssteuer.

In einer Phase, in der sich das Wachstum deutlich abschwächt, in der der Bedarf an Arbeitskräften zurückgeht, in der die Industrie ein Auftragsminus verzeichnet, in der der Hauptwachstumsfaktor Export durch die internationale Finanzkrise schwächelt, wo die privaten Konsumausgaben immer noch erst mit einem Plus von 0,3% gegenüber dem Vorquartal zu Buche schlagen und wo darüber hinaus die Sparquote der Menschen in Erwartung eines konjunkturellen Rückgangs auf die Rekordhöhe von 14,8 Prozent ansteigt , wäre es allerhöchste Zeit dass der Staat gegensteuert.

Aber nein, auch für die SPD haben „Haushaltskonsolidierung und ein Etat ohne Neuverschuldung Vorrang“. Und dann folgt wieder der törichte Vergleich der gesamten Volkswirtschaft mit der Sicht eines Familienvaters oder eines einzelnen Unternehmers: „Nur ein Staat, der wieder Spielräume erwirtschaftet, kann zugunsten der Menschen neue Chancen schaffen“.

Hatte denn der „Sparkommissar“ Eichel mit seiner Konsolidierungspolitik Erfolg? Konnte er eine „Konsolidierungsdividende“ erwirtschaften? Steinbrück kann sich seiner Konsolidierungserfolge doch nur deshalb rühmen, weil die Konjunktur angesprungen ist und die Steuereinnahmen wieder gestiegen sind.

In der derzeitigen labilen Konjunkturlage müsste eine Politik Vorrang haben, die alles daran setzt den Aufschwung zu stabilisieren, damit die Steuern sprudeln, damit mehr Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden und die Löhne steigen, damit die sozialen Sicherungssysteme finanziert werden können. So könnten eine „Dividende“ auch für den Staatshaushalt erwirtschaftet und Investitionen für die Zukunft etwa in Bildung getätigt werden, damit auch unsere Kinder „mehr Netto“ hätten.

In dem Papier heißt es zwar richtigerweise, „langfristiges Wachstum wiederum erleichtert den Rückgang der Schulden in Relation zum BIP (Rückführung der Schuldenstandsquote). Damit verringert sich die Last des Schuldenbergs“, nur wie man dieses Wachstum heute mit einem Vorrang für die Konsolidierungspolitik bis 2011 stabilisieren will, darauf gibt es keine Antwort.

Das Versprechen, „Zukunftsinvestitionen“ zu fördern, könnte sich bei einer konjunkturellen Abschwächung oder gar bei einer Rezession, wie in der Vergangenheit, wo die staatliche Investitionsquote wie im Jahr 2005 auf den niedrigsten Stand absackte, rasch als leeres Versprechen herausstellen.

Entlastung durch niedrigere Sozialabgaben?
„Wir wollen die Sozialabgabenbelastung insbesondere bei mittleren und niedrigen Einkommen senken, wodurch auch arbeitsintensive Unternehmen entlastet werden. Dies hat Priorität vor weiteren Steuersenkungen.“

An dieser Forderung ist so viel richtig, dass ein Großteil der mittleren und vor allem der niedrigen Einkommen durch weitere Lohnsteuersenkungen nicht oder nur wenig entlastet würden, weil sei keine oder nur geringe Steuern abführen müssen. Wie die oben angeführte OECD-Statistik zeigt, ist Deutschland in der Tat das einzige Industrieland, wo die Abgabenbelastung der mittleren und unteren Einkommen in den letzten Jahren gestiegen ist.

So verlockend sich das anhört, Sozialversicherungsabgaben durch eine Steuerfinanzierung abzusenken, so gefährlich ist das – wie die Erfahrung zeigt – gerade in Deutschland. Steuerabhängige Sozialversicherungen bedeutete bei uns – anders als etwa in Schweden – stets soziale Absicherung nach Kassenlage.

Wurden nicht die Hartz-Reformen damit begründet, dass die Arbeitslosigkeit nicht mehr finanzierbar sei? Wurden nicht behauptet, die Kürzungen bei der gesetzlichen Rente und der Verweis auf die private Vorsorge zur Erhaltung einer auskömmlichen Rente seien zwingend, weil die staatlichen Zuschüsse zur Rente den Haushalt sprengten?

Gibt es nicht seit Jahrzehnten eine Kampagne gegen den „überdehnten“ und viel zu teuren Sozialstaat? Waren nicht gerade die Sozialtransfers aus dem Staatshaushalt zentrales Angriffsziel der Sparpolitik? Es war ja nicht einmal möglich, die versicherungsfremden Leistungen der Rentenversicherung aus Steuergeldern zu finanzieren, also die Leistungen, die aus der gesetzlichen Rente laut Sozialgesetzbuch finanziert werden müssen, ohne dass eine Beitragszahlung der Leistungsempfänger zugrundeliegt, wie etwa die Leistungen für Kindererziehungszeiten oder Ersatzzeiten etwa für den Wehrdienst oder die vereinigungsbedingten Leistungen oder die Leistungen für Aussiedler etc. Wie sollte es dann gelingen, eigentliche Beitragsleistungen durch Steuergelder zu ersetzen?

(Zwischenbemerkung: Achten Sie doch nur einmal auf die Rezeption der Anhebung der Spitzensteuersätze bis hin zur ach so „linken“ taz).

Die staatlichen Zuschüsse zur Senkung der Sozialversicherungsabgaben würden zum jährlichen Streit- und Streichungsobjekt bei künftigen Haushaltsverhandlungen.
Die Leistungen der sozialen Sicherungssysteme, also die Renten oder das Arbeitslosengeld wären nicht mehr „erworbene“ Ansprüche, die wenigstens in gewissen Umfang einen eigentumsähnlichen Schutz genössen, sondern sie würden abhängig von der Haushaltslage. Und das für alle Versicherten, denn wenn die Kassen nicht mehr ausreichend bezuschusst würden, wären Kürzungen der Leistungen für alle unumgänglich. (Siehe die Rente.)

Sozialleistungen nach Kassenlage eben.
Das wird in dem SPD-Papier auch unverhohlen ausgesprochen, wenn es da heißt: „Sobald die Haushaltslage es zulässt, werden wir die durch das Wirtschaftswachstum entstehenden zusätzlichen Steuereinnahmen einsetzen, um neben mehr Zukunftsinvestitionen die Sozialversicherungsabgaben zu senken.“
Die offene Frage ist nur: Wann lässt die Haushaltslage es zu?

Daran mag man erkennen, dass die Orientierungspunkte der SPD für ein integriertes Steuer- und Abgabensystem sich wohl kaum auf das Jahr 2011 hin orientieren, sondern eher auf einen Sankt Nimmerleinstag.

In der Gegenwart und in absehbarer Zukunft führt eben kein Weg daran vorbei, dass die Dynamik der durchschnittlichen Bruttolöhne auf die Summe der Sozialabgaben einwirkt, dass die sozialen Sicherungssysteme von der Entwicklung der Beschäftigung und des Erwerbsbeteiligungsgrades abhängen, dass es vor allem wichtig wäre die Lohnstruktur von Billiglöhnen und (unfreiwilliger) Teilzeitarbeit) wieder wegzuführen.

Das wären die Ansatzpunkte für „mehr netto“ und für eine bessere Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Und wenn dann noch die Bürgerversicherung hinzukäme, umso besser.

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