Der Terroranschlag auf die Pipeline Nord Stream 2 im September 2022 war ein beispielloser Angriff auf die deutsche Infrastruktur und Energieversorgung. Umso skandalöser ist die Untätigkeit, die die Ermittlungsbehörden bei dem Fall bisher an den Tag gelegt haben. Die nun vermeldete Verhaftung eines Verdächtigen wirft aber mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
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Es gibt neue Entwicklungen im Fall der Anschläge auf die deutsch-russische Pipeline Nord Stream 2, wie etwa die Berliner Zeitung in diesem Artikel berichtet: Demnach hat die Bundesanwaltschaft in der Nacht zu Donnerstag aufgrund eines Europäischen Haftbefehls den ukrainischen Staatsangehörigen Serhii K. in der Provinz Rimini (Italien) festnehmen lassen, wie der Generalbundesanwalt (GBA) mitteilt.
Der Beschuldigte sei des gemeinschaftlichen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion (§ 308 Abs. 1 StGB), der verfassungsfeindlichen Sabotage (§ 88 Abs. 1 Nr. 3 StGB) sowie der Zerstörung von Bauwerken (§ 305 Abs. 1 StGB) dringend verdächtig. Weitere Infos finden sich in dem oben verlinkten Artikel.
Verschiedene Theorien zum Vorgang der Anschläge
Es gibt verschiedene Theorien zum Vorgang der Anschläge und zur Herkunft der Täter: nichtstaatliche ukrainische Einzeltäter; ukrainische Täter mit Verbindungen zu staatlichen ukrainischen bzw. US-amerikanischen Stellen; – oder aber US-amerikanische Täter unter Anleitung eines US-Geheimdienstes. Die letzte Variante wird unter anderem vom US-Investigativ-Journalisten Seymour Hersh formuliert.
Die erste Theorie der „nichtstaatlichen Einzeltäter“ wurde kurz nach den Anschlägen eher von westlichen Mainstream-Journalisten nahegelegt. Von dieser allzu unrealistischen Version haben sich manche deutsche Medien später aber wieder abgewandt – nachdem auch westliche Medien wie etwa das Wall Street Journal (WSJ) den Standpunkt vertreten hatten, dass die Nord-Stream-Attacken vom damaligen Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte organisiert worden seien und auch Präsident Selenskyj der Operation (vorübergehend) grünes Licht gegeben habe. So entstand eine absurde Gleichzeitigkeit: Während auch große deutsche Medien über die im WSJ-Bericht unterstellte staatliche Mittäterschaft der Ukraine schrieben, verweigerten viele deutsche Journalisten trotzdem den Schritt, darum die weitere Unterstützung der Ukraine infrage zu stellen. Von den Fragen, die eine erwiesene Täterschaft eines US-Geheimdienstes aufwerfen müsste, mal ganz zu schweigen.
Was die oben beschriebenen Theorien gemeinsam haben, ist, dass die Täter sehr wahrscheinlich im Kreise der „Verbündeten“ Deutschlands (Ukraine und/oder USA) zu suchen sind: Die zu Beginn von vielen deutschen Stimmen vertretene Variante, nach der Russland seine eigenen Pipelines gesprengt habe, ist mittlerweile weitgehend verstummt. Die aktuelle Verhaftung soll mutmaßlich die Version von der für den Anschlag genutzten Segelyacht (zumindest scheinbar) stützen.
Die NachDenkSeiten sind in zahlreichen Artikeln auf die Nord-Stream-Anschläge und die skandalöse Verweigerung einer seriösen Aufklärung eingegangen, eine Auswahl der Beiträge finden Sie unter diesem Text.
Reaktionen auf die Verhaftung
Der russische Botschafter in Deutschland, Sergej Netschajew, sagte der Berliner Zeitung: „Die russische Seite besteht weiterhin auf einer objektiven und vollständigen Ermittlung des Terroranschlages auf die Nord-Stream-Pipelines, der Feststellung und Ahndung der Täter und Organisatoren.“ Die Sprengungen seien „eklatante Akte des internationalen Terrorismus“. Die russische Nachrichtenagentur Tass schreibt laut Medienberichten:
„Laut dem russischen Außenminister Sergej Lawrow ist Moskau davon überzeugt, dass die Sabotageakte an der Nord-Stream-Pipeline mit US-Unterstützung durchgeführt wurden. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat Ermittlungen wegen eines Akts des internationalen Terrorismus eingeleitet.“
Die Vorsitzende des BSW, Sahra Wagenknecht, forderte einen Untersuchungsausschuss des Bundestags. Sie sagte der Berliner Zeitung, dieser „staatsterroristische Akt“ müsse konsequent aufgeklärt werden. Es sei „komplett abwegig, dass der nun Festgenommene und seine Mittäter ohne Rückendeckung der ukrainischen Führung und der damaligen Biden-Administration in den USA handelten“. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj „sollte vor einem Untersuchungsausschuss im Bundestag aussagen müssen“. Es sei „völlig absurd, dass Deutschland viele Milliarden für Ukraine-Hilfen ausgibt, aber niemals Aufklärung von Selenskyj einforderte“. Auch die Frage nach einer Entschädigung müsse gestellt werden.
Aufreizend ist angesichts des bisherigen Verhaltens der deutschen Ermittler zum Nord-Stream-Anschlag, wenn diese jetzt ihrerseits eine Aufklärung „einfordern“: So sprach Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) nach der nun bekannt gewordenen Festnahme in Italien laut AFP von einem „beeindruckenden Ermittlungserfolg“. Die Sprengung der Pipelines müsse aufgeklärt werden, „auch strafrechtlich“, betonte sie.
Die Verhaftung wirft Fragen auf
Der aktuelle Vorgang der Verhaftung eines ukrainischen Verdächtigen wirft meiner Meinung nach unter anderem die folgenden spekulativen Fragen auf:
- Legt der Zeitpunkt der Verhaftung des Ukrainers während der aktuellen Friedensverhandlungen zwischen Russland und den USA nahe, dass damit nun die Ukraine zu Zugeständnissen im Verhandlungsprozess bewegt werden soll – indem droht, dass das Land demnächst (dann auch endlich ganz „offiziell“) als Terrorstaat identifiziert werden könnte und dadurch der „Heiligenstatus“ der Ukraine verloren geht?
- Oder soll – im Gegenteil – durch die Verhaftung die umstrittene „Yacht-Theorie“ und damit eher eine Einzeltäterschaft radikaler Individuen ohne staatliche Kontakte gestützt werden? Und soll dadurch wiederum eine naheliegende Beteiligung/Führung des Anschlags durch US-Geheimdienste verschleiert werden?
- Oder ist der jetzige Zeitpunkt der Verhaftung einfach nur Zufall und man sollte den europäischen Ermittlern ein Kompliment zu ihrem Erfolg machen?
Titelbild: shutterstock / apprenticebk
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