Nord-Stream: Die Terroristen haben (vorerst) gewonnen – Und niemanden kümmert’s

Nord-Stream: Die Terroristen haben (vorerst) gewonnen – Und niemanden kümmert’s

Nord-Stream: Die Terroristen haben (vorerst) gewonnen – Und niemanden kümmert’s

Ein Artikel von: Tobias Riegel

Das Kanzleramt soll aktuell im Zusammenhang mit dem Nord-Stream-Anschlag interne Ermittlung wegen Geheimnisverrats beim BND veranlasst haben. Diese Meldung ruft die fortgesetzte Untätigkeit von Medien und Politik beim bislang gravierendsten Terroranschlag gegen Infrastruktur in diesem Jahrhundert in Erinnerung. Wirft man einen Blick zurück zu den hysterischen Reaktionen auf andere Terroranschläge, erscheint das momentane Schweigen noch bizarrer. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das Medium Business Insider (BI) hat kürzlich getitelt: „Anschlag auf Nord-Stream-Pipelines: Kanzleramt soll interne Ermittlung wegen Geheimnisverrats beim BND veranlasst haben“. Ein Mitarbeiter des BND soll demnach Informationen über die Ermittlungen an die Presse weitergegeben haben. Das österreichische Medium Exxpress schreibt zu dem BI-Bericht: „Grund für die hohe Nervosität sind Berichte darüber, dass die Spuren zu den mutmaßlichen Tätern bei Nord Stream in die Ukraine führen. Dem Medium sollen Unterlagen vorliegen, die auf eine Tatbeteiligung von ukrainischen Staatsbürgern hindeuten.“

Es gibt zu diesen mutmaßlichen internen Ermittlungen beim BND noch zu wenige Hintergründe, um den Schritt abschließend zu beurteilen. Aber der Vorgang gibt Anlass, nochmals auf das inakzeptable politisch-mediale Verhalten rund um den Anschlag auf die Pipelines einzugehen.

Ein monumentales Bild

Das Attentat gegen die deutsche Energieversorgung fand schließlich bereits in der Nacht zum 26. September 2022 statt. Es ist also fast ein Jahr verstrichen. Mit jedem Tag der politischen und journalistischen Untätigkeit drängen sich Fragen stärker auf: Wann machen sich Journalisten und Politiker durch Untätigkeit zum Komplizen? Wann ist von einer unterlassenen Hilfeleistung gegenüber den Bürgern zu sprechen?

Der Anschlag hat keine (bekannten) direkten Todesopfer gefordert. Trotzdem ist er das bislang gravierendste Attentat gegen Infrastruktur in diesem Jahrhundert: Die Dreistigkeit der Tat selbst, die wirtschaftlichen Konsequenzen für EU-Länder, das mit dem Anschlag einhergehende Umweltverbrechen, die geopolitische Demütigung – all das fügt sich zu einem geradezu monumentalen Bild.

Wo bleibt die Terror-Hysterie?

Auch der Umgang mit Sprache und Symbolik wird im Zusammenhang mit dem Terrorakt gegen Nord-Stream einmal mehr verändert. „Normalerweise“ würde unter großem Tamtam umgehend die Reparatur der zerstörten Pipeline in Angriff genommen oder zumindest in emotionalem Tonfall angekündigt. Diese (zumindest angekündigte) Instandsetzung würde zum großen symbolischen Akt der Gegenwehr überhöht: Schließlich hätten ja die Terroristen „bereits gewonnen“, wenn man sich ihren Worten oder Taten füge (oder eigentlich schon, wenn man ihnen verhandele) – wie uns in anderen Terrorzusammenhängen intensiv eingeimpft wurde: Man dürfe sich diesen Menschen keinesfalls „beugen“. Heute dagegen wird es einfach so hingenommen, dass im Fall Nord-Stream Terroristen bislang einen großen und inakzeptablen Sieg davontragen.

Sie klingen noch nach, die martialischen oder kitschigen Phrasen, die den Bürgern beim islamistischen Terror nach dem 11. September 2001 in den USA oder nach den Anschlägen auf das französische Satireblatt Charlie Hebdo 2015 präsentiert wurden: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, „Je suis Charlie“ und so weiter. Im Vergleich mit diesem intensiven medial-politischen Dauerfeuer erscheint das aktuelle Schweigen noch bizarrer. Und wo bleiben die gestellten Fotos, auf denen sich EU-Politiker zur Solidarität gegen einen Terrorakt versammeln, bei dem man nicht ausschließen kann, dass er gar von US-amerikanischer Seite initiiert wurde?

Dieser Vergleich sagt selbstverständlich nicht aus, dass die damaligen politisch-medialen Reaktionen auf Terroranschläge angemessen gewesen wären! Jeder Vorgang muss zudem einzeln betrachtet werden. Der Vergleich hilft aber, die große Heuchelei zu illustrieren – damals und heute.

Wen belasten die Indizien?

Zur Frage einer mutmaßlichen(!) US-Täterschaft und zur alternativen „Ukraine-Version“: Viele starke Indizien sprechen für staatliche Akteure (bei beiden Varianten). Zwar sprechen viele Indizien zusätzlich für eine US-amerikanische Urheberschaft des Verbrechens (siehe hier oder hier oder hier) – das ist aber selbstverständlich noch kein belastbarer Beweis. Es wäre aber doch Anlass genug, endlich ernsthaft in diese Richtung zu ermitteln.

Hintergründe dazu, wie etwa die USA und ihr LNG-Markt indirekt von erliegenden russischen Gaslieferungen profitieren könnten, werden etwa hier oder hier oder hier beschrieben. Mit welch manipulativen Methoden manche Medien die USA im Falle der Nord-Stream-Anschläge in Schutz nehmen, wird hier beschrieben.

Meiner Meinung nach ist es angesichts der Abhängigkeit der ukrainischen Regierung von den USA auch nicht entscheidend, ob die konkreten ausführenden Agenten aus den USA oder der Ukraine stammen – wenn man eine Verantwortung auf staatlicher Ebene voraussetzt. Kürzlich wurde dazu irgendwo dieses Bild beschrieben: „Nicht ich habe mein Gegenüber zusammengeschlagen – es waren doch nur meine Hände.“ Seymour Hersh ist auf die Ukraine-Theorie hier eingegangen.

Regierung steht vor dramatischen Fragen

Aus Sicht der Bundesregierung wäre die aktuell „beste“ Variante die, dass die Pipelines von Ukrainern (ohne staatliche Verbindungen und auch ohne „Auftrag“ aus den USA) gesprengt wurden. Da aber bei gegenwärtigem Kenntnisstand dringend von Akteuren mit staatlicher Unterstützung auszugehen ist, müsste eine potenzielle Konsequenz aus der Ukraine-Variante die Ächtung der ukrainischen Regierung als Terroristen und in der Folge das Ende der Unterstützung für diese Gruppe sein (ihre Verwicklung vorausgesetzt).

Noch problematischer könnte es sich allerdings für die Bundesregierung entwickeln, wenn der Version, die von einer mutmaßlichen US-Urheberschaft des Terrors ausgeht, endlich ernsthafte Nachforschungen folgen würden. Denn die Fragen, die sich bei einer Konkretisierung von Vorwürfen gegen offizielle Stellen in den USA stellen würden, wären noch erheblich zahlreicher und die sich aufdrängenden geopolitischen Konsequenzen noch dramatischer.

Viele Medien schweigen

Da belässt man es doch lieber beim Schweigen: Bei Google-News findet sich unter dem Suchbegriff „Nord Stream interne Ermittlung wegen Geheimnisverrats beim BND“ kein einziges großes deutsches Medium, das die vom Business Insider vermeldete Nachricht aufgreift (Stand 11.8., 8 Uhr). In der zweiten Reihe hat die Volksstimme darüber berichtet. Viele Journalisten möchten ganz offensichtlich Erinnerungen an den Anschlag vermeiden: Jede Erinnerung würde den dringenden Handlungsbedarf in der Sache unterstreichen. Zusätzlich würde sie ein Licht auf das mediale Verhalten der letzten Monate werfen.

Titelbild: Illustration der Explosion der Nord-Stream-Pipelines – shutterstock / apprenticebk