Die Berichterstattung des russischen Fernsehens zum Gaza-Krieg bemüht sich um Objektivität. Es gibt keine emotionalisierenden Berichte. Palästinenser aus Gaza kommen fast nicht zu Wort. Viele Artikel in russischen Medien enden mit einem Absatz, in dem es um den „Beginn des Konfliktes“ geht, den Angriff der Hamas auf israelische Zivilisten im Oktober 2023. Warum ist das so? Ein Kommentar von Ulrich Heyden (Moskau).
Auch der israelische Generalstabschef kommt in den russischen Nachrichten zu Wort, mit einer Stellungnahme zu den Zielen bei der Eroberung von Gaza-Stadt. Man werde die 2.500 Hamas-Mitglieder finden, verspricht der Militär, und man spürt, dass er sein Versprechen nicht einhalten kann. In ihren Berichten aus Israel bemühen sich russische Korrespondenten um einen sachlichen Ton. Aber man merkt, dass sie keinerlei Sympathie mit dem Feldzug der israelischen Armee in Gaza haben.
Doch ich finde, das ist zu wenig. Die Flüchtlingsströme aus Gaza sind kein großes Thema in den russischen Medien. Auch über die Sumud-Flotte, die sich auf den Weg nach Gaza gemacht hat, gibt es fast keine Berichte.
In Talk-Shows geht es um andere Themen, wie den Besuch von Trump in London. Man lacht hämisch über Trump, der von der ehemaligen Weltmacht England Tribut einfordere.
Aber ist das ein so wichtiges Thema im Vergleich zur Flüchtlingskatastrophe in Gaza, frage ich mich? Baut Russland nicht an der multipolaren Welt? Sind seine natürlichen Bündnispartner nicht die Opfer von Kolonialismus, also auch die Palästinenser? Warum wird über ihr Elend zurückhaltend berichtet? Liegt es daran, dass Russland sich nicht weiter vorwagen will wie die arabischen Staaten? Oder will man die Zuschauer nicht überlasten mit Kriegsbildern, führt man doch einen Krieg in der Ukraine und findet dieser Krieg doch auch im eigenen Land statt, mit Angriffen ukrainischer Drohnen auf russische Grenzregionen und Raffinerien und Rüstungsbetriebe?
Russische Hoffnungen auf die westliche Öffentlichkeit
Möglicherweise gibt es unter den russischen Medien-Machern auch die Hoffnung, dass sich in den westlichen Ländern, die Netanjahu unterstützen, eine breite Widerstandsfront aufbaut, und eine starke russische Stimme zum Thema Genozid in Gaza gar nicht nötig ist.
Nach Meinung von Pjotr Akopow, Kommentator der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti, ist die Position von Netanjahu stark angeschlagen. Am 13. September schrieb der Kommentator, „von Israel wenden sich gezwungenermaßen seine festesten Unterstützer ab – Großbritannien und Frankreich (nur Deutschland hält sich noch zurück), weil es sich die herrschenden Eliten nicht leisten können, die öffentliche Meinung zu ignorieren und so zu tun, als ob es einen Genozid in Gaza nicht gibt“.
Zu den USA schreibt der Kommentator, „Trump kann Netanjahu nicht ewig decken, insbesondere wenn der israelische Ministerpräsident Aktionen macht wie die Attacke auf Katar“.
Zu der Flottille Sumud kommentiert Akopow, „es besteht kein Zweifel daran, dass Israel die Flotte nicht nach Gaza lässt, aber Versuche diese Flotte aufzuhalten, wird Opfer zur Folge haben, was ein weiterer Schlag gegen die noch verbliebene Reputation von Netanjahu in Europa sein wird“.
Die USA hätten versucht, Netanjahu bei der Aussiedlung der Palästinenser aus Gaza zu helfen. „Aber es wird keine Aussiedlung geben – und das ist das wichtigste Resultat des zwei Jahre dauernden Widerstandes der Palästinenser.“ Alle würden sehen, dass Netanjahu „nichts gelingt“. „Die Palästinenser gehen nicht weg, und die Zeit, die Kraft und die Unterstützung von außen, um den Genozid in Gaza fortzusetzen, hat Netanjahu nicht mehr.“
Diese Beschreibung der Lage ist sehr hoffnungsvoll. Aber meiner Meinung nach überschätzt Akopow die Kraft der öffentlichen Meinung in der westlichen Welt. Noch ist der Punkt nicht erreicht, wo Netanjahu die Segel streichen muss.
Erinnerungen an Grosny
Die aktuelle Situation in Gaza ist der Situation in Grosny, der Hauptstadt des von Russland 1996 faktisch abgespaltenen Territoriums „Itschkerija“, ähnlich. Für die Russen ist das eine traumatische Erinnerung. Der Kampf um Gaza-Stadt erinnert an Grosny und an die Tatsache, dass die Einnahme einer Großstadt nur unter sehr großen Opfern auf beiden Seiten zu erreichen ist.
Die russische Armee bombardierte Grosny 1999/2000, als die Stadt unter Kontrolle von islamistischen Radikalen stand, die von Geldgebern aus dem wahhabitischen Lager in den arabischen Staaten unterstützt wurden.
Damals organisierte das russische Notstandsministerium Flüchtlings-Korridore für die Menschen in Grosny. Unter den Flüchtlingen waren damals auch zehntausende Russen.
Vor Grosny gab es Flüchtlingslager, die ich damals besuchte. Nicht vergessen werde ich eine Äußerung von Walentina Matwijenko, der Vorsitzenden des russischen Föderationsrates, die im Gespräch mit tschetschenischen Flüchtlingsfrauen in vorwurfsvollem Ton fragte, „warum unterstützt ihr die Terroristen?“ Ich stand damals auf der Seite der tschetschenischen Zivilbevölkerung. Und mir stockte der Atem bei dieser Belehrung.
Der Krieg in Tschetschenien dauerte von 1994 bis 1996 und von 1999 bis 2003. Den Krieg hatte Wladimir Putin von seinem Amtsvorgänger Boris Jelzin, dem Liebling des Westens, geerbt. Jelzin stachelte den tschetschenischen Separatismus erst an, um sich gegen Gorbatschow durchzusetzen und dann im Dezember 1994 selbst schlecht ausgerüstete russische Truppen mit jungen Wehrpflichtigen nach Grosny zu schicken.
Russen und Tschetschenen achten sich wieder
Ein russischer Kommentator sagte am Mittwoch in einer Debatte über den Gaza-Krieg auf Radio Sputnik – sehr klug, wie ich fand -, Russland habe in Tschetschenien gegen islamistischen Terrorismus gekämpft, aber Russland habe einen Weg gefunden, wieder mit den Tschetschenen zusammenzukommen.
Warum war das möglich? Weil Russland keinen Krieg gegen die tschetschenische Kultur führte, sondern gegen Islamisten, die mit der Besetzung eines Krankenhauses in Südrussland, Terroranschlägen auf Wohnhäuser in Moskau und die Moskauer U-Bahn und der Besetzung einer Schule im Nordkaukasus Angst und Schrecken verbreiteten.
Zugegeben: Die Stimmung in Russland war bis zum Ende des Tschetschenien-Krieges eindeutig anti-tschetschenisch. Nicht wenige Russen hegten Rachegedanken.
Aber es gibt einen Unterschied zum Krieg in Gaza. Während die Regierung Israels die Palästinenser seit Jahrzehnten als eine Art Untermenschen behandelt, sind die Tschetschenen jetzt wieder Teil der russländischen Völkerfamilie. Grosny und ganz Tschetschenien wurden wieder aufgebaut, mit neuen Moscheen und modernen Gebäuden. Tschetschenen kämpfen Schulter an Schulter mit Russen im Ukrainekrieg. Tschetschenen arbeiten in Moskau auf dem Bau oder sind als Sicherheitskräfte in Supermärkten im Einsatz.
Ja, es gibt in der russischen Bevölkerung Vorbehalte gegen Arbeitsmigranten aus islamisch geprägten Staaten. Aber die Führung Russlands – und insbesondere Wladimir Putin – betonen immer wieder, dass Russland ein Viel-Völker-Staat ist und sich nur deshalb auch in schwierigen Zeiten behaupten kann.
Nicht alles ist in Russland ideal. Aber das heutige Verhältnis zwischen Russen und Tschetschenen zeigt, dass Russland einen Weg gefunden hat, mit einem kleinen Volk ein friedliches Auskommen zu finden.
Von Ulrich Heyden erschien: Mein Weg nach Russland. Erinnerungen eines Reporters, Verlag Promedia, Wien 2024
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