In der letzten Woche, am 2. Oktober 2025, stellten über 100 Nahostexperten ihr Positionspapier „Jenseits der Staatsraison“ in Berlin vor und forderten darin eine Neuausrichtung der deutschen Israelpolitik. Wird sich jetzt endlich etwas am deutschen „Sonderweg“ ändern? Von Maike Gosch.
Die andauernde umfassende Verwüstung des Gazastreifens und das Aushungern seiner Bevölkerung durch den Staat Israel erfordere dringend ein Handeln seitens der internationalen Gemeinschaft, heißt es in der Einleitung des Papiers mit dem Titel „Jenseits der Staatsraison: Wie historische Verantwortung, strategische Interessen und Völkerrecht in Einklang gebracht werden können – Expertenpapier für eine nahostpolitische Wende.“ Initiiert, verfasst und koordiniert wurde es von einem Kernteam um den Diplomaten Philip Holzapfel und die Politologin Dr. Muriel Asseburg mit der Unterstützung des prominenten Nahostexperten Daniel Gerlach. Weiter heißt es dort, diese menschengemachte Katastrophe sei ein Affront gegen die Menschlichkeit und gegen alles, wofür die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union stehen. Besonders deutliche Worte finden die Experten zum Konzept der „Staatsraison“, die sie als „vordemokratisch“ beschreiben, da hiermit eine politische Doktrin über nationales und internationales Recht gestellt wird und auch über die demokratische Willensbildung in der eigenen Bevölkerung, wie sie bei der Vorstellung des Positionspapiers genauer erläuterten.
In diesem Zusammenhang hatten wir auf den NachDenkSeiten ja bereits im August ebenfalls eine Neuausrichtung der deutschen Israelpolitik gefordert und das Dogma der „Staatsraison“ kritisiert. Diese Haltung findet jetzt zunehmend Zuspruch. Die Bevölkerung sieht es längst so, aber langsam schließen auch die „Eliten“ auf, wie die lange Liste der hochrangigen Unterstützer sowie die Reaktionen in der Presse (z.B. hier und hier) beweisen. Keine Rede ist jetzt von „Israelhassern“ oder „Terror-Unterstützern“, wie noch vor einiger Zeit üblich in der Berichterstattung über Demonstrationen, Aktivisten oder Journalisten (man denke an das, was der Journalist Hüseyin Doğru aktuell ertragen muss), die im Grunde einen ähnlichen Kurs vertraten und ähnliche Fragen stellten wie die Experten hier.
Stattdessen gibt es zum Positionspapier sachliche Berichterstattung und weitgehend kommentarfreie Wiedergabe der Inhalte. Das hat sicher etwas mit den Absendern zu tun, die überwiegend ein hohes Renommee genießen und tief im Establishment verankert sind. Natürlich liegt es auch an der stärkeren Bewusstwerdung (auch in Deutschland) der Verbrechen Israels und der Unhaltbarkeit der deutschen Position; und sicher auch daran, dass die hier vertretenen Positionen nicht die radikale „Avantgarde“ in der Nahostpolitik darstellen, sondern viele Inhalte und Konzepte aufrecht halten, die inzwischen – zumindest international – zu einer Mainstream-Position geworden sind, wie zum Beispiel die Empfehlungen, sich der Globalen Allianz für die Umsetzung der Zweistaatenlösung anzuschließen und den von Frankreich und Saudi-Arabien im Juli 2025 ins Leben gerufenen Prozess aktiv zu unterstützen. Generell wird aber deutlich: Die Grenzen im deutschen Diskurs über die Israelpolitik haben sich in den letzten Monaten deutlich verschoben.
Die Vorstellung des Positionspapiers fand in den Räumen der Bundespressekonferenz statt, und es war wohltuend, an diesem Ort einmal tatsächlich ausführliche und informative Antworten auf Fragen von Journalisten zu hören – man ist das ja dort gar nicht mehr gewohnt. Der offizielle Ort war auch ein gutes Symbol für die Rolle, die diese Experten im politischen Gesamtkontext zu spielen scheinen: Sie greifen dort in die Debatte ein, wo Politiker und Ministerialbeamte aktuell versagen, und zeigen auf, wie eine Politik, die sich an das Völkerrecht hält, aussehen könnte. So, wie die Global Sumud Flotilla versucht, humanitäre Hilfe zu leisten und einen humanitären Korridor für Hilfsgüter für eine ausgehungerte Bevölkerung zu öffnen, weil die internationale Politik hierbei versagt hat, so füllen auch diese Experten eine Lücke – sowohl, was das juristische Wissen und die Argumentation angeht, als auch, was strategische, politische und diplomatische Erwägungen betrifft. Und – vielleicht am wichtigsten – hierbei fand endlich ein offener und fundierter Austausch über die juristischen, moralischen und politischen Grundlagen der deutschen Israelpolitik statt, im Gegensatz zu den üblichen Ausreden, Plattitüden, „Talking Points“ und Diffamierung von Menschen mit anderer Meinung.
Interessant ist auch der Umstand, dass einige Unterstützer anonym bleiben wollten, weil sie berufliche Nachteile befürchteten. Andeutungen der Verfasser in der Präsentation ließen vermuten, dass sich hierunter auch Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes befinden und dass es einen großen Dissens innerhalb des Auswärtigen Amtes über den aktuellen Kurs der Bundesregierung und des Außenministers Wadephul in Bezug auf Israel, seine illegale Besatzung und seine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt. Dies hatten auch Presseberichte im Sommer geschildert, die über eine Gruppe von ca. 130 Beamten im Auswärtigen Amt berichteten, die intern eine Änderung der deutschen Israelpolitik forderten. Auch eine Reihe ehemaliger Botschafter und Botschafterinnen hatte Ende Juli in einem Offenen Brief Außenminister Wadephul aufgefordert, den Druck auf Israel zu erhöhen. Es brodelt also gewaltig unter (und jetzt auch über) der Oberfläche. Eventuell wird mit diesem Positionspapier auch durch die Beamten „über die Bande“ gespielt: Das, was sie intern nicht durchsetzen können, wird im Zusammenschluss mit Gleichgesinnten aus Wissenschaft und Diplomatie und über ein öffentliches Forum in die Diskussion gebracht – die Mehrheit der deutschen Bevölkerung haben sie dabei hinter sich, so fordern z.B. 80 Prozent der Deutschen einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel.
Unter den Unterstützern finden sich Vertreter eines auch in sich sehr breiten Meinungsspektrums. Diese reichen von Michael Lüders (BSW) und Melanie Schweizer (Global Sumud Flotilla) bis zu Dr. Muriel Asseburg von der staatsnahen und transatlantisch ausgerichteten Stiftung Wissenschaft und Politik. Es gibt Unterzeichner aus dem In- und Ausland, auch einige israelische Experten sind darunter. Sicher haben viele der Unterstützer inhaltliche Kompromisse gemacht und sehen sich und ihre Positionen nicht 100 Prozent in dem Papier repräsentiert. Umso erstaunlicher, dass sie dennoch für dieses Positionspapier zusammengefunden haben.
Es lohnt sich, die mündliche Präsentation und Antworten auf die Fragen der Journalisten in voller Länge anzusehen. Insbesondere die Ausführungen des Diplomaten Philip Holzapfel und die juristischen Erläuterungen von Dr. Alexander Schwarz, Jurist und Experte für Internationales Strafrecht und Völkerrecht am European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), sind sehr interessant. Es wird hier schnell deutlich, wie weit sich die Bundesregierung und das Auswärtige Amt – entgegen aller Lippenbekenntnisse – in ihrem Kurs vom internationalen Recht entfernt haben.
Es bleibt abzuwarten, inwieweit die konkreten Handlungsempfehlungen eine Änderung der aktuellen Politik nach sich ziehen. Vieles spricht dafür, dass das nun geschehen wird. Aber auch hier – wie bei dem „Friedensprozess“ und dem Ringen um eine Zweistaatenlösung seit Jahrzehnten – besteht die Gefahr, dass dadurch auf Zeit gespielt wird. Man kann den Initiatoren glauben, dass sie es mit der Initiative ernst meinen. Das wurde in ihren Antworten bei der Präsentation sehr deutlich. Dennoch kann diese Initiative als Ventil für die aufgestaute Empörung der Bevölkerung über die Kriegsverbrechen Israels und die Mittäterschaft Deutschlands fungieren und es damit (ungewollt) der Politik ermöglichen, weiter in Zeitlupe und viel zu kleinen Schritten Konzessionen zu machen, während der Völkermord an den Palästinensern und die ethnische Säuberung des Gazastreifens und des Westjordanlandes ungehindert voranschreiten. Aber dennoch ist diese Initiative sehr zu begrüßen – sickert durch sie doch endlich juristische Klarheit, strategische Vernunft und moralische Verantwortung in die – allem Anschein nach – bisher hiergegen hermetisch abgeschottete Haltung der Bundesrepublik hinein.
Quelle: Screenshot – „Vorstellung des Expertenpapiers in der Bundespressekonferenz am 02. Oktober 2025“
Gazakrieg – Italien und Spanien demonstrieren, Deutschland schweigt
Dieter Hallervorden reagiert auf Hilferuf der Gaza-Flottille: „Ein Skandal für Israel“
Gaza-Flotilla: Das Desinteresse der Bundesregierung gegenüber Hilferuf der eigenen Staatsbürger
Die aktuellen Anerkennungen Palästinas – Symbolpolitik oder Wendepunkt?