Die massenmedialen Informationen und politischen Erklärungen über Zwischenfälle im Ostseeraum häufen sich seit über einem Jahr. Immer wieder scheinen NATO- und EU-Mitgliedsstaaten mit Russland im Ostseeraum unfreundlich aufeinanderzutreffen. Derzeit nimmt das Kriegsgeheul Züge an, die eine wachsende Irrationalität nahelegen. Seien es entdeckte Drohnen in Dänemark, wo die Russen, so die verlautbarte Vermutung, dahintersteckten, sei es die Zerstörung von Unterwasserkabeln, die auch die Russen mutmaßlich zu verantworten hätten, oder die angebliche Luftraumverletzung durch russische Kampfjets. Was sind Fakten, was ist Propaganda? Von Alexander Neu.
Die Brutkastenlüge im Vorfeld des Irak-Krieges, die angeblichen Chemiewaffen des Irak, das angebliche Massaker von Racak in der südserbischen Provinz Kosovo, all das waren propagandistische Mittel im zeitlichen Vorfeld des dann erfolgten militärischen Angriffs des Westens auf den Irak (mit UNO-Sicherheitsratsmandat 1991 und ohne 2003) und Jugoslawien (ohne UNO-Sicherheitsratsmandat und somit eindeutig völkerrechtswidrig). Und all das führt nicht dazu, dass das Vertrauen in die politischen Aussagen wächst. Der Totalausfall vieler Massenmedien im Hinblick auf ihre Kontrollfunktion bis hin zur eigenständigen Propagandahetze ist eine traurige Realität – einer demokratischen Gesellschaft schlichtweg unwürdig.
Die Dämonisierung des Feindes und damit einhergehend die behauptete Alternativlosigkeit, zum Kriege schreiten zu müssen, um das Böse zu vernichten, sind ein in der Kriegspropaganda unverzichtbares Mittel, um die Heimatfront auf Linie zu bringen. Die oben aufgeführten Propaganda-Enten mahnen zur Vorsicht. Damit sage ich nicht, dass all die jüngsten „Vorfälle“ nicht geschehen sind. Ich sage aber: Es kann sein, es kann jedoch auch anders gewesen sein.
MiG-31 nahe oder im estnischen Luftraum?
Kürzlich sollen drei MiG-31-Kampfflugzeuge beim Flug von Sankt Petersburg/Region Leningrad in die russische Exklave Kaliningrad für zwölf Minuten den estnischen Luftraum über der Ostsee durchflogen haben. Der estnische UN-Botschafter zeigte in der UNO ein ausgedrucktes Bild von einer MiG-31 im Flug. Dieses Bild sollte den Beweis liefern. Nur, was sollte es beweisen? Zu sehen war eine im Flug befindliche MiG-31 von unten. Ein Bild, was ohne Weiteres im Internet zu finden und runterzuladen sein dürfte – Infantilität pur. Schließlich wurde eine Land- und Seekarte mit der Flugroute gezeigt. Darauf befand sich ein roter Pfeil, der die Flugroute und die Verletzung des estnischen Luftraums über der Ostsee beweisen sollte. Auch das ein Beweis? So einen Pfeil in eine Land- und Seekarte kann jeder Schüler mit einem Lineal ziehen. Wo sind die Radaraufklärungsbilder, die die Flugroute identifizieren könnten? Und nein, man mag mir nicht erklären, diese gebe es nicht. Ein europäisches Land, das seinen Luftraum nicht mit Radaren überwacht, zumindest aber ein NATO-Mitgliedsstaat, dessen Partner nicht den Luftraum überwachen? Und das in einer konfliktheißen Region? Einfach lächerlich. Ach so, die Transponder waren ja abgeschaltet. Nur, es handelt sich bei der MiG-31 nicht um einen Flugzeugtyp mit Stealthfähigkeiten – mithin sind sie also deutlich auf dem Radar sichtbar. Ich kann – im Gegensatz zu unseren massenmedialen „Superexperten“, die die Aussagen der estnischen Seite und der NATO eins zu eins übernehmen, statt journalistische Professionalität zu praktizieren – nicht beurteilen, ob die drei russischen Maschinen den estnischen Luftraum verletzt haben. Dass jedoch keine ernsthaften und belastbaren Beweise vorgelegt werden, ist schon bemerkenswert. Es reiht sich ein in der Behauptung der EU-Kommissionspräsidentin, ihr Flug nach Bulgarien sei aufgrund russischer Aktivitäten behindert worden, bis „flightradar 24“ offenlegte, dass das gar nicht stimmte. Ebenso die Rakete, die ein Haus in Polen zerstörte: Sie kam von einer polnischen F-16 und nicht von den Russen, wie zuvor behauptet und später zurückgerudert wurde.
Ostseeraum im Kalten Krieg
Während der Ost-West-Konfrontation war der Ostseeraum quasi ein Gewässer des von der Sowjetunion geführten Warschauer Paktes. Die Anrainerstaaten des sowjetischen Machtblocks umfassten die DDR, Polen und die Sowjetunion – die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland gehörten zur Sowjetunion. Damit war der südliche und östliche Ostseebereich sowjetisch kontrolliert. Der Norden war neutral aufgrund der offiziellen Neutralität Finnlands und Schwedens. Lediglich am äußersten westlichen Rand der Ostsee grenzten die BRD und Dänemark an die Ostsee. Die Meerenge zwischen Dänemark und Schweden sowie ein paar „Wasserstraßen“ innerhalb des dänischen Staatsgebietes bilden die Verbindung der Nordsee mit der Ostsee.
Geostrategische Neuordnung Osteuropas nach Ende des Ost-West-Konflikts
Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde der Warschauer Pakt aufgelöst und die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht, wodurch Moskau zunächst den größten Teil des südlichen Ostseebereichs – der DDR und Polens – verlor. Mit der forcierten Auflösung der Sowjetunion 1991 erlangten die drei baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit, in dessen Folge auch der allergrößte Teil des östlichen Ostseebereichs der Moskauer Einflusssphäre entschwand. Lediglich die Exklave Kaliningrad mit der gleichnamigen Stadt Kaliningrad – der früheren deutschen Stadt Königsberg –, im Süden an Polen und Litauen angrenzend und von Russland und Weißrussland separiert, bildet noch einen Zugang zur südlichen Ostsee. Und in der östlichen Ostsee blieb nur noch der östlichste Teil des sogenannten Finnischen Meerbusens, eine 400 Kilometer lange Bucht mit einer variierenden Breite von 40 bis 120 Kilometern, an deren östlichstem Ende die zweitgrößte russische und viertgrößte europäische Stadt, St. Petersburg, liegt. Mit der deutschen Einheit 1990 und dem Beitritt Polens 1999, dem Beitritt der drei baltischen Staaten 2004 sowie dem Beitritt Finnlands 2023 und Schwedens 2004 in die NATO wurde der Ostseeraum zum vorwiegenden NATO-Meer. Diese Bezeichnung bedeutet nicht, dass die NATO eine Art Eigentumsrecht an der Ostsee hätte, wie zuvor auch der Warschauer Pakt dieses nicht hatte. Es bedeutet aber, dass diese NATO-Anrainer nun die dominanten Akteure im Ostseeraum sind.
Die Linie Sankt Petersburg mit der Exklave Kaliningrad
Die Exklave Kaliningrad ist historisch betrachtet der nördliche Teil Ostpreußens. Der südliche Teil Ostpreußens, der bis Danzig heranreicht, gehört zu Polen. Ostpreußen ist bis 1945 ein bedeutender Teil des Deutschen Reiches gewesen. Mit der Niederlage des faschistischen Deutschlands wurden die deutschen Ostgebiete (südliches Ostpreußen und Schlesien) Polen zugeschlagen und polnisch besiedelt. Lediglich der nördliche Teil mit der Regionalhauptstadt Königsberg (heute Kaliningrad) wurde Teil der Sowjetunion – präzise Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik – und russisch besiedelt. Solange die Sowjetunion existierte, spielte die Republikzugehörigkeit Kaliningrads keine Rolle. Erst mit der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 entstanden 15 selbstständige Staaten im postsowjetischen Raum. Die Region Kaliningrad wurde über Nacht zu einer Exklave der dann Russischen Föderation. Es mussten Vereinbarungen mit den neuen Transitländern Weißrussland und Litauen getroffen werden, um über deren Gebiet die Exklave Kaliningrad per Landweg erreichen und versorgen zu können.
Die seeseitige Verbindung und Versorgung Kaliningrads verläuft über Sankt Petersburg. Das bedeutet, dass die russische zivile und militärische Logistik stets an den drei baltischen Staaten (Litauen, Lettland und Estland) vorbei in den Finnischen Meerbusen, dessen nördliche Gegenküste Finnland darstellt, allesamt NATO-Mitgliedsstaaten, stattfinden muss. Damit unterliegt der Finnische Meerbusen mit den NATO-Gegenküsten in Teilen den ausschließlichen Hoheitsrechten Finnlands und Estlands. Das heißt, dass in Teilen „NATO“-Hoheitsgebiet durchschifft werden muss.
Die Distanz zwischen den beiden Gegenküsten variiert zwischen 40 und 120 Kilometer. Dort, wo die Gegenküsten des Finnischen Meerbusens zu russischem Territorium werden, verengt sich der Meerbusen bis zu einem Kanal, an dem Sankt Petersburg liegt.
Die NATO und das „Problem“ Kaliningrad
Die Exklave Kaliningrad ist der westlichste Vorposten der Russischen Föderation. Allein diese Tatsache machte die Region Kaliningrad abhängig vom Wohlverhalten der Transitländer. Als Litauen jedoch der NATO und der EU beitrat, wurde die geographische Lage Kaliningrads zur Herausforderung für die NATO. „Mitten“ im NATO-Gebiet liegt eine russische und somit feindliche Exklave – ein unsinkbarer Flugzeugträger. Auch ist dort der Mutterhafen der Baltischen Flotte der Russischen Föderation angesiedelt. Die Existenz der russischen Exklave stellt für die NATO nun ein Problem dar. Nur, um die Chronologie und damit die gewöhnungsbedürftige Argumentation zu verdeutlichen: Die russische Exklave Kaliningrad existiert seit 1991. Zuvor war die Gesamtregion sowjetisch. Die NATO-Erweiterung um das Baltikum und somit Litauen fand 2004 statt. Und nun deklariert die nach Osten vorgerückte NATO die Existenz der Exklave als sicherheitspolitisches Problem – ein schon sehr selbstbewusstes Verständnis.
Im Kontext der zugespitzten Lage erklärte im Sommer der US-Oberbefehlshaber für Europa und Afrika, General Christopher Donahue, die NATO sei in der Lage, Kaliningrad „vom Boden aus in einem bisher unerreichten Zeitrahmen und schneller zu zerstören, als wir es jemals konnten. Wir haben dies bereits geplant und haben es bereits entwickelt.“
Eine solche Äußerung eines der ranghöchsten Offiziere der USA und der NATO ist ohne politische Rückendeckung kaum vorstellbar, andernfalls hätte er zurücktreten müssen. Es war, was es ist, eine unverhohlene Drohung Richtung Moskau.
Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen
Es gilt generell die im „Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen“ aus dem Jahre 1982 vereinbarte Zwölfmeilenzone (gemeint sind Seemeilen). Das heißt, dass das „Küstenmeer“, so der Begriff für die Zwölfmeilenzone, und der darüberliegende Luftraum von der Küste aus gemessen maximal zwölf Seemeilen (22 Kilometer) in das Meer reichen. Dieser zwölf Seemeilen breite Raum gilt als Hoheitsgebiet des Anrainerstaates – es unterliegt seiner Souveränität. Danach – mit abnehmender Souveränitätsqualität – kommen die sogenannte Anschlusszone (24 Seemeilen) und abschließend die Wirtschaftszone (200 Seemeilen). Aber nur die Zwölfmeilenzone gilt als umfassender Hoheitsbereich. Überlappen sich beide Hoheitsgebiete, dann ist die ist die Zwölfmeilenzone nicht handhabbar. Die Mittellinie zwischen den Gegenküsten stellt dann die maximale Breite des jeweiligen Küstenmeeres dar (Art. 15 Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen). Unter Umständen verabreden sich beide Staaten zu einer gemeinsamen Lösung. Obschon das Küstenmeer unter die Souveränität des jeweiligen Anrainerstaates fällt, muss dieser Anrainerstaat die friedliche Durchfahrt (Artikel 17) von Schiffen anderer Flaggenstaaten hinnehmen. Eine Durchfahrt ist nicht erlaubt, wenn die friedliche Absicht nicht gegeben ist. Hierzu hat das Seerechtsübereinkommen eine Vielzahl von Kriterien (Artikel 19) benannt.
Fragen und keine klaren Antworten
Ob es nun einen internationalen Korridor im Finnischen Meerbusen gibt, da sich die Anrainer auf einen solchen verständigt haben könnten, oder aber nur die Duldung der Durchfahrt gemäß des Artikel 15 des Seerechtsübereinkommens praktiziert wird, konnte ich erstaunlicherweise nicht zweifelsfrei klären. Noch schwieriger erwies sich die Klärung der Nutzung des darüberliegenden Luftraums. Gibt es einen permanenten internationalen Luftkorridor für russische Flugzeuge respektive Flugzeuge von Drittstaaten oder nur eine Duldung des Durchflugs durch den „NATO-Luftraum“ seitens der NATO-Staaten? Sind die drei MiG-31 vom permanenten internationalen Luftkorridor, sollte es ihn denn geben, oder von der geduldeten Route, sollte es sie denn geben, abgewichen, sollten sie tatsächlich abgewichen sein? Gibt es unterschiedliche Interpretationen zwischen Estland und Russland im Hinblick auf die Rechtslage und wenn ja, wie schauen diese aus? Allein dieser Klärungskomplex hätte die Aufgabe seriöser Medienberichterstattung sein müssen, um die Öffentlichkeit zu informieren. Stattdessen ein massenmedialer Totalausfall.
Die „russische Schattenflotte“ – eine rechtliche Einordnung
Mit den EU-Sanktionspaketen gegen Russland wurden auch die russische Öltankerflotte sanktioniert bzw. Öltankern Sanktionen angedroht, die russisches Öl transportieren. Weder dürfen diese Schiffe westliche Häfen anlaufen noch erhalten sie Versicherungen. Angesichts dessen hat Russland sich eine eigene Tankerflotte aufgebaut, die das russische Öl weltweit exportiert. Da die Schiffe unter die EU-Sanktionen fallen und sodann nicht bei westlichen Versicherungen versichert werden dürfen, werden sie als illegale „Schattenflotte“ bezeichnet. Unter völkerrechtlichem Gesichtspunkt ist die Bezeichnung „Schattenflotte“ nicht wirklich anwendbar, denn die EU-Sanktionen sind sogenannte unilaterale Sanktionen der EU. Aber nur der UN-Sicherheitsrat ist autorisiert, sogenannte für die Staatengemeinschaft verbindliche multilaterale Sanktionen gegen einen Staat zu verhängen (Art. 41 UNO-Charta). Die Rechtmäßigkeit der Verhängung unilateraler Sanktionen durch Einzelstaaten oder Staatengruppen hängt von ihrer jeweiligen Qualität ab: Das Spektrum reicht von völkerrechtlich akzeptabel über mindestens fragwürdig bis eindeutig völkerrechtswidrig:
Man kann die EU-Sanktionen politisch bewerten, wie man will. Rechtlich jedoch ist kein Land gezwungen, Handel mit einem anderen Land zu treiben. Jedes Land kann also die Handelsbeziehungen zu einem Drittstaat nach eigenen Vorstellungen gestalten oder auch diese einstellen. Die konditionierte Beendigung oder Einschränkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen ist faktisch ein Druckmittel, was in der internationalen Politik zunehmend genutzt wird, um ein gewünschtes Verhalten der anderen Seite zu „befördern“. Eine solche Handlung ist nicht völkerrechtswidrig. Sie fällt allenfalls unter die nicht völkerrechtswidrige Kategorie „unfreundlicher Akt“, sofern sie nicht durch eine physische Gewaltandrohung begleitet wird, wie beispielsweise einer Seeblockade oder das Kapern von Schiffen des Landes, dass die ihm auferlegten unilateralen Sanktionen zu umgehen versucht.
Ob die EU-Sanktionen indes sicherheits- und wirtschaftspolitisch sinnvoll oder klug sind, ist eine andere Frage. Völkerrechtlich problematisch wird es allerdings, wenn die unilateralen EU-Primärsanktionen um sogenannte Sekundärsanktionen ausgeweitet werden. Das heißt, wenn die EU oder die USA Sanktionen gegen Drittländer verhängen, die ihren Handel mit Russland aufrechterhalten oder sich dem EU- und US-Sanktionsregime nicht anschließen wollen, und diese damit bestrafen wollen. So ist im 19. EU-Sanktionspaket, welches noch nicht in Kraft getreten ist, jedoch bereits am 19. September vorgestellt wurde, genau dieser Sekundärsanktionsmechanismus aufgenommen.
Die Verhängung von Sekundärsanktionen kann als Verletzung der Souveränität der betroffenen Drittstaaten gewertet und entsprechend von diesen zurückgewiesen werden. In der politischen Wirklichkeit führen diese illegalen Sekundärsanktionen indes dazu, dass sich die betroffenen Drittstaaten einem Abwägungsprozess stellen müssen: entweder die Sekundärsanktionen zu ignorieren, wie Indien, und dabei Handelseinbußen mit der EU oder den USA zu riskieren, oder sich zu beugen und damit die eigene Souveränität in nicht unerheblichem Maße zu opfern.
Jedenfalls ist der Versuch, unilaterale Sanktionen durch verstärkende Sekundärsanktionen faktisch am UNO-Sicherheitsrat vorbei zu multilateralisieren, schwerlich mit dem Völkerrecht in Einklang zu bringen, zumal es die Autorität der UNO weiter marginalisiert.
Bemerkenswert, ja geradezu amüsant ist, dass die EU selbst bis vor Kurzem noch das Instrument der Sekundärsanktionen als Völkerrechtsverstoß eingeordnet hat. Sie hatte hierzu bereits 1996 eine „EU-Blocking Verordnung (EG) Nr. 2271/96“, die Unternehmen in der EU vor US-Sekundärsanktionen schützen sollen, in Kraft gesetzt.
Die „russische Schattenflotte“ und der Westen in der Ostsee
Sollten die EU oder die NATO bzw. einzelne EU- oder NATO-Mitgliedsstaaten nun die von ihr deklarierte russische „Schattenflotte“ festzusetzen versuchen oder gar den Zugang dieser Schiffe zur Ostsee blockieren (Seeblockade), so wäre dies tatsächlich ein offener Bruch des Völkerrechts. Die Navigationsfreiheit (Artikel 17, 58, 87 und 90 des Seerechtsübereinkommens), ein hohes Gut im Völkerrecht, würde außer Kraft gesetzt. Mehr noch: Es wäre ein Verstoß gegen das Gewaltverbot der UNO-Charta (Artikel 2 Abs. 4), da die unter russischer Flagge fahrenden Schiffe die russische Staatszugehörigkeit (Art. 91, Seerechtsübereinkommen) innehaben. Die russische Seite wäre dann berechtigt, entsprechend darauf zu reagieren, und hat bereits vorsorglich Schritte angedroht.
Auch gab es in der jüngsten Vergangenheit bereits mit dem Argument des Umweltschutzes und/oder technischer Sicherheitsbedenken der „Schattenflotte“ temporäre Festsetzungen – ja, mit Blick auf ein Schiff, die „EVENT“, sogar eine Beschlagnahmung. Dies führte dazu, dass die Baltische Flotte nun offensichtlich ihre „Schattenflotte“ in der Ostsee begleitet. Jedenfalls gibt es in der politischen Debatte in Europa entsprechende Forderungen, die „Schattenflotte“ festzusetzen, wie jüngst auf dem Treffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft seitens des französischen Präsidenten Macron geäußert.
Und auch in Deutschland gibt es Forderungen (beispielsweise der Parteivorsitzende der LINKEN), die Ostsee für russische Schiffe zu schließen, also eine militärisch erzwungene Seeblockade zu verhängen. Die Unbedarftheit solcher Äußerungen und Forderungen indiziert das erschreckend geringe Niveau an Kenntnissen des Internationalen Rechts und der daraus erwachsenen möglichen militärischen Konsequenzen und sodann Gefahren für Deutschland und Europa. Eine Seeblockade der Ostsee für russische Schiffe oder eine Seeblockade vor Kaliningrad und/oder Sankt Petersburg wäre der ultimative casus belli. Eine militärische Nicht-Reaktion wäre nur bei Selbstaufgabe der russischen Souveränität denkbar. Die aktualisierte Nukleardoktrin der Russischen Föderation hat hierzu Antworten formuliert. Das sollten sich alle „Denker“ in den deutschen Redaktionsstuben, den „Think Tanks“ und der politischen Klasse in Deutschland sehr bewusst machen. Es geht nicht um Sandkastenspielchen – es geht um das Leben von über 500 Millionen Europäern.
Fazit
Der Ostseeraum ist die derzeit gefährlichste Region im Konflikt der NATO/EU mit der Russischen Föderation. Der Hintergrund ist zweifacher Natur:
Erstens der Ukraine-Krieg, der de facto auch ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland ist. Russland umgeht die gegen das Land verhängten Sanktionen im Bereich seiner Erdölexporte durch eine selbst aufgebaute Tankerflotte. Diese sogenannte „Schattenflotte“ ist dem Westen ein gewaltiger Dorn im Auge, sodass durchaus Überlegungen zur unilateralen Weiterentwicklung „internationaler Vorschriften und das Seerecht, um diese Schiffe stoppen zu können“, im Raume stehen.
Zweitens ist mit der NATO-Osterweiterung der Ostseeraum ein mare nostrum der NATO geworden. Einziges Problem: mittendrin die russische Enklave Kaliningrad.
Ungeachtet der Ostseeregion lauern zwei weitere Pulverfässer mit kurzer Lunte zwischen dem Westen und Russland: die westliche Schwarzmeerregion und die strategisch extrem wichtige Hafenstadt Odessa im Südwesten der Ukraine. Sollte die Region Odessa an Russland fallen, so wäre die Ukraine „landlocked“, das heißt vom Schwarzen Meer abgeschnitten und sodann kein Schwarzmeeranrainer mehr. Der strategische Wert – im geopolitischen Gerangel – der Ukraine sänke damit beträchtlich.
Hinzu kommt der wachsende Konflikt um die kleine postsowjetische Republik Moldawien und ihrer abtrünnigen, von Russland unterstützten Region Transnistrien. Moldawien grenzt an die Ukraine und Rumänien.
Wie bereits häufig in der Geschichte sind die Räume Osteuropas begehrte Objekte des Kampfes der Großmächte um Einflusssphären. Im Nuklearzeitalter jedoch können regionale Konflikte um Einflusssphären rasch eine unkontrollierbare globale Dimension annehmen.
Titelbild: Juan_Hernandez / Shutterstock
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