Die Tugendpächter – wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät

Die Tugendpächter – wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät

Die Tugendpächter – wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät

Ein Artikel von: Redaktion

Tugendhaft im Dienst des Neoliberalismus: Die US-amerikanische Professorin Catherine Liu zeigt in ihrem viel diskutierten Bestseller, der nun auf Deutsch unter dem Titel „Die Tugendpächter“ erscheint, wie die sogenannte „Professional Managerial Class“ (PMC), die linksliberale Mittelklasse der USA, fest im Dienst des Neoliberalismus steht. War sie in den 1970er Jahren noch getragen von den kreativen Freiheitsidealen der Hippies, hat sich die PMC sukzessive mit der Ideologie der Yuppies arrangiert und ist heute die wichtigste Stütze für einen sich progressiv wähnenden, globalisierten Kapitalismus. Der Individualismus dieser Tugendpächter ist fest mit der entsolidarisierenden Ideologie des neoliberalen Leistungsdenkens verzahnt. Lius linke (Selbst-)Kritik der Linken lässt sich ohne Umwege auf die urbanen Mittelklassen Europas übertragen, wie die aktuellen politischen Diskussionen hierzulande zeigen.

Als Klasse redet die PMC lieber über Vorurteile als über Gleichheit, über Rassismus als über Kapitalismus, über Sichtbarkeit als über Ausbeutung. Toleranz ist für sie die höchste säkulare Tugend – aber Toleranz hat fast keine politische oder wirtschaftliche Bedeutung. Die Rechte ist sich der liberalen Angeberei sehr wohl bewusst und hat die populären Ressentiments gegen diese Klasse von mutmaßlichen Heuchlern als Waffe eingesetzt. Fox News lebt, um es den Liberalen zu zeigen; der reaktionäre Hass auf Fachleute und auf Professionalität entspringt aber nicht der Liebe zum Volk, sondern der Treue zur besonderen Souveränität der freien Märkte, die alle sozialen Probleme lösen sollen. In der Tat brauchen die Konservativen einen funktionierenden und mächtigen PMC-Kader von ausgebremsten wie gehemmten Fachleuten, die als Boxsäcke für ihre Politik des allgemeinen Unmuts dienen. Die PMC kommt diesen Reaktionären weiterhin entgegen, indem sie populäre Maßnahmen wie Medicare for All verrät und sich stattdessen für bedürftigkeitsgeprüfte, von Denkfabriken gebraute Big Pharma und von Lobbyisten genehmigte Formen der Gesundheitsversorgung entscheidet, die es ermöglichen, Profit auf Kosten der öffentlichen Gesundheit und des Gesundheitspersonals zu machen. Die Versicherungsunternehmen haben ihre Gewinne seit Beginn der Coronapandemie verdoppelt. Ihre mächtigsten Lobbyisten haben die Demokratische Partei in ihren Bann gezogen. Wie sich herausstellt, hat die Tugend der PMC auch einen Farbton: Grün, genau wie die Dollarscheine.

Obwohl die PMC zutiefst säkularer Natur ist, ist ihre Rhetorik pseudoreligiös. Während die PMC konservative Christen mit ihrem Medienmonopol auf liberale Rechtschaffenheit erzürnt, findet sie, wie die meisten protestantischen Sekten, ihr Heil im materiellen und irdischen Erfolg. In liberalen Kreisen ist es nicht bloß kontrovers, von Klasse oder Klassenbewusstsein vor anderen Formen von Unterschieden zu sprechen; es ist ketzerisch. Man wird als »Klassenreduktionist«, beschimpft, wenn man argumentiert, dass race, Geschlecht und Klasse keine austauschbaren Kategorien sind. Sie verwenden den legalistischen und tödlichen Begriff intersektional, um der materialistischen Kritik an ihrer Politik Rechnung zu tragen. Die PMC will einfach nicht, dass ihre Klassenidentität oder ihre Interessen aufgedeckt werden. Junge Menschen, die in die sogenannten „freien Berufe” eintreten und Positionen in der Wissenschaft sowie in der Kultur- und Medienindustrie erlangen wollen, mussten sich an das Prokrustesbett von PMC-dominierten Einflussnetzwerken anpassen. Wer die Klassenkritik privilegieren will, sollte auf eine gründliche Kommunistenhetze und Fragen gefasst sein wie: „Warum tragen Sie vorzeigbare Kleidung, wenn Sie ein Sozialist sind? Sollten Sie nicht Jutesäcke tragen?” und: „Warum machen Sie gerne Sport? Ist das nicht Teil des militärisch-industriellen Komplexes?” und: „Warum fördern Sie Konflikte? Schüren Sie nicht in unverantwortlicher Weise Gewalt?” Die PMC-Eliten glauben, dass Askese das Schicksal der Linken ist und dass jede Art von sozialem Konflikt, der durch zersetzende Ungleichheit entsteht, ihre Schuld ist. Mit der Förderung dieser unbedachten Annahmen über die Linke verteidigt die PMC den Kapitalismus als Lieferanten von Luxus und Harmonie. Gabriel Winants Charakterisierung der kriegerischen Sprache der Linken ist nur ein Beispiel für die Versuche des Liberalismus, seinen Antagonisten zu disziplinieren, den Sozialismus, der sich mit der PMC anlegt. Die Linken müssen akzeptieren, dass es für uns keine Klasse ohne Klassengegensatz und Klassenwiderspruch gibt. Ich äußere mich nicht etwa zur PMC, weil ich hoffe, eine zivile Diskussion über unsere Differenzen führen zu können: Ich schreibe diese Kritik, um die historisch begründete, tugendpachtende Politik der PMC herauszustellen, die sich weigert, die sozialen und politischen Veränderungen, die wir dringend brauchen, anzunehmen und zu unterstützen.

1977 waren John und Barbara Ehrenreich die Ersten, die vorhersagten, dass die Werte und die Ideologie der PMC die liberale und schließlich die neoliberale Politik in absehbarer Zukunft dominieren würden. Seit der Veröffentlichung ihrer Abhandlung haben sich die Klasse und ihre charakteristischen Merkmale weiterentwickelt und verändert, während sich ihre Macht ausgeweitet hat und der Kapitalismus noch raubtierhafter geworden ist. In der Tat ist die Fungibilität der PMC Teil der strukturellen Dynamik der Klasse. Die Analyse der Ehrenreichs ermöglicht es uns, die Hegemonie einer Klasse zu isolieren und zu identifizieren, die in ihrer jüngsten Inkarnation verzweifelt versucht, sich an die seit den 1970er Jahren angehäufte Macht zu klammern. Die düsteren sozialen Folgen ihres Monopols auf Fachwissen sowie ihre Versuche, öffentliche Tugenden zu monopolisieren und gleichzeitig alle Versuche einer sinnvollen wirtschaftlichen Umverteilung zu blockieren, haben unserer gegenwärtigen politischen Situation Gestalt gegeben.

Die Ehrenreichs stützten sich auf Siegfried Kracauers Studie über die Angestellten der Zwischenkriegszeit in Berlin, die die verblendeten politischen Subjekte schlechthin waren. Sie verachteten jeden, der körperliche Arbeit verrichtete, und träumten von sofortigem Luxus und Reichtum, während sie mit Begeisterung ihre eigenen Kündigungen verfassten. C. Wright Mills verurteilte den Angestellten der Nachkriegszeit als hoffnungslos mit dem Verkaufen identifiziert und hielt diesen speziellen Arbeitnehmer für besonders anfällig für die Marktdisziplin und ihre vorgefertigten, verdinglichten Versionen von Persönlichkeit und Intersubjektivität. Christopher Lasch hielt die anzugtragende Angestellten- und Managerklasse für hoffnungslos und kollektiv von ihrem eigenen Narzissmus hypnotisiert. Für die Ehrenreichs verkörpert die heutige PMC all diese Eigenschaften, die von linken Sozialkritikern der Vergangenheit identifiziert wurden, aber die neuen Eliten dieser Klasse haben ihre Identifikation mit dem Kapitalismus zur Waffe gemacht. Obwohl sie auf die Vulgarität und Dummheit der Massen herabsehen, stehen sie den von ihren liberalen Vorgängern verteidigten Berufsprotokollen und -normen völlig gleichgültig, ja sogar feindselig gegenüber. In Wirklichkeit schätzen sie eine traditions- und geschichtsfeindliche Form des Unternehmertums, die auf Publicity setzt und Hierarchie und Organisation hasst.

Da Sie dieses Buch lesen, sind Sie wahrscheinlich, so wie ich, ein ambivalentes Mitglied der PMC. Ich gehöre bestenfalls zur zweiten Generation der PMC, aber mir gefällt nicht, was ich von meiner Klasse sehe, und ich bin entschlossen, für die Vergesellschaftung jener Dinge zu kämpfen, die die PMC pachten will: Tugend, Zähigkeit, Ausdauer, Gelehrsamkeit, Fachwissen, Prestige und Vergnügen sowie kulturelles und tatsächliches Kapital. Die sich verändernden Konturen einer Klasse zu definieren, der man teilweise selbst angehört, bedeutet, sich auf den schwierigen Prozess politischer Selbstkritik einzulassen, der mit einer entblößenden und brutalen Rekonzeptualisierung und Historisierung der eigenen Werte, Empfindungen und Affekte beginnt. Der Verzicht auf die eigene narzisstische Fetischisierung des Intellekts oder der Raffinesse ist kein einfacher Akt. Diese kurze Einführung soll uns dabei helfen, die notwendige Arbeit der Selbstkritik zu leisten, und gleichzeitig einige Werkzeuge bereitstellen, um PMC-Positionen in ihren am besten verteidigten Refugien anzugreifen – in politischen Organisationen, im Verlagswesen, in den Medien, in privaten Stiftungen, in Thinktanks und in den Universitäten.

Während die Rechte ein hartnäckiges Hindernis für eine wirtschaftliche Neuordnung und eine groß angelegte soziale Umverteilung darstellt, ist es jedoch in Wirklichkeit die liberale PMC, die der politischen Revolution im Wege steht, die notwendig ist, um eine andere Art von Gesellschaft und Welt zu schaffen, in der die Würde der einfachen Menschen und der Arbeiterklasse im Mittelpunkt steht. Die PMC ist zutiefst feindselig gegenüber einfachen Umverteilungsmaßnahmen, die eine Präsidentschaft von Bernie Sanders umgesetzt hätte: Sie ist gegen die Idee, Solidarität unter den Unterdrückten aufzubauen. Sie zieht Obskurantismus, Balkanisierung und die Verwaltung von Interessengruppen einer transformativen Neugestaltung der sozialen Ordnung vor. Sie will den tugendhaften Sozialhelden spielen, aber als Klasse ist sie hoffnungslos reaktionär. Die Interessen der PMC sind heute mehr denn je an ihre Konzernoberherren gebunden als an die Kämpfe der Mehrheit der Amerikaner, deren Leiden lediglich als Hintergrunddekoration für die ehrenamtliche Arbeit der PMC-Elite dient. Die Mitglieder der PMC mildern die Schärfe ihres Schuldgefühls angesichts des kollektiven Leids, indem sie ihre Qualifikationsnachweise streicheln und sich selbst einreden, dass sie besser und qualifizierter als andere Menschen sind, um zu führen und zu leiten.

Der Zentrismus der PMC ist eine mächtige Ideologie. Seine Prioritäten in Forschung und Innovation werden immer mehr von Unternehmensinteressen und dem Profitmotiv geprägt, während in den Geistes- und Sozialwissenschaften Forscher von privaten Stiftungen für ihre generelle Missachtung des historischen Wissens, ganz zu schweigen vom historischen Materialismus, belohnt werden. Die Belohnungen für die Befolgung der Direktiven der herrschenden Klasse sind einfach zu groß, aber der intellektuelle und psychische Preis, der für diese Compliance gezahlt werden muss, sollte für jedes Mitglied der Gesellschaft zu hoch sein. In der Wissenschaft hat die amerikanische PMC viel dazu beigetragen, strenge Begutachtungsverfahren durch (gleichrangige) Fachkollegen (Peer-Review-Verfahren) und Forschungsautonomie zu etablieren, aber wir können es uns nicht länger leisten, ihren hochgeschätzten Grundsatz der erkenntnistheoretischen Neutralität als Geheimwaffe gegen „Extremismus” zu verteidigen. Wir leben in einer politischen, ökologischen und sozialen Notlage: Der Klassenkampf um die Verteilung der Ressourcen ist der entscheidende Kampf unserer Zeit.

Catherine Liu: „Die Tugendpächter. Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät“, 128 Seiten, Westend Verlag 2023