Die Krim – geostrategischer Dreh- und Angelpunkt

Die Krim – geostrategischer Dreh- und Angelpunkt

Die Krim – geostrategischer Dreh- und Angelpunkt

Alexander Neu
Ein Artikel von Alexander Neu

Die Welt wandelt sich wahrlich im Zeitraffer. Der Ukrainekrieg hat den sich seit rund zwei Jahrzehnten anbahnenden Wandel der Kräfteverhältnisse manifestiert. Und dass es sich nicht um eine rein europäische, sondern tatsächlich globale Dimension handelt, zeigt das zunehmende und selbstbewusste Aufbegehren des Globalen Südens gegen den Westen, seitdem der Krieg in der Ukraine tobt. Russland scheint sich neben China an die Spitze dieses Emanzipationsprozesses setzen zu wollen – gewissermaßen der Nicht-Westen gegen den Westen. Die Unruhen in Afrika gegen ihre einstigen Kolonialherren nehmen zu, jüngst der Putsch in Niger, der scheinbar von Teilen der Bevölkerung getragen wird. Zugleich tobt der Stellvertreterkrieg in der Ukraine weiter. Beide Phänomene sind nicht getrennt voneinander zu bewerten, da sie unter derselben Überschrift zu fassen sind: Die multipolare Weltordnung ist im Entstehen – leider nicht in geordneten Bahnen, sondern durch Blut und Eisen. Von Alexander Neu.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Neuvermessung der Welt, mithin die Kräfteverschiebungen, hat einen Namen: Geopolitik und Geostrategie. Im Kontext geostrategischer Analysen stehen immer wieder geostrategisch interessante Dreh- und Angelpunkte, um die Begriffe des Geostrategen Zbigniew Brzezinski zu verwenden. Hierzu zählen im östlichen Europa zwei Binnenmeere, die Ostsee und das Schwarze Meer mit ihren jeweiligen Zugängen und der Krim im Schwarzen Meer.

Beide Meere wurden zu Zeiten der UdSSR und dem von ihr dominierten Warschauer Pakt in den Zeiten des Kalten Krieges im Wesentlichen von Moskau kontrolliert. Die Ostsee-Anrainer waren die damalige DDR, das sozialistische Polen, die UdSSR, die neutralen Länder Finnland und Schweden. Demgegenüber standen lediglich die beiden NATO-Staaten, die BRD und Dänemark am äußersten Westrand der Ostsee. Mit dem Ende des Kalten Krieges, der Auflösung des Warschauer Paktes und der UdSSR sowie dem Hinüberwechseln der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten und der baltischen Staaten, jüngst auch Finnland und demnächst wohl auch Schweden ist der Anteil Moskaus an der Ostsee auf ein Minimum geschrumpft (Region Kaliningrad sowie der östlichste Teil des Finnischen Meerbusens).

Ähnlich verhält es sich mit Blick auf das Schwarze Meer: Zu Zeiten des Kalten Krieges bildete lediglich das NATO-Mitgliedsland Türkei einen Gegenpol zur Moskauer Einflusssphäre. Neben der UdSSR waren Rumänien und Bulgarien Moskau-treue Anrainer-Staaten. Mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der UdSSR sowie dem Hinüberwechseln Rumäniens und Bulgariens in die NATO und den durch farbige Revolutionen beförderten Wunsch Georgiens und der Ukraine, in die NATO zu wollen, verlor Moskau um die 70 Prozent (einschließlich der Krim) der Küstenlinie an die von den USA geführte NATO. Allein der Verlust dieser beiden maritimen Einflussräume zeigt, wie weit Russland sich aus Osteuropa verabschiedet hatte bzw. auch verdrängt wurde und wie weit die USA in den osteuropäischen Raum via NATO-Erweiterungen vorgedrungen sind. Moskaus Ausdehnungen zur Ostsee und zum Schwarzen Meer wurden nach 1991 wieder auf die Räume des 18./19. Jahrhunderts zusammengeschrumpft – wohlgemerkt hauptsächlich selbstverschuldet durch das aktive Mitwirken des russischen Präsidenten Boris Jelzin an der Auflösungsinitiative der Sowjetunion („Belowescher Vereinbarungen“ getragen von Russland, Weißrussland und der Ukraine am 8. Dezember 1991) sowie der Erklärung von Alma-Ata am 21. Dezember 1991, in der sich die meisten Sowjetrepubliken der Auflösungsinitiative vom 8. Dezember anschlossen.

Hinzu kommt – mit Ausnahme Weißrusslands und Russlands – die geopolitische Verschiebung der Landmassen nach Osten und somit das faktische Rausdrängen Russlands aus Europa angesichts der NATO-Osterweiterungen. Erinnert man sich an die Zusagen Washingtons und Bonns gegenüber Moskau 1990, die NATO nicht über die Grenzen des wiedervereinten Deutschlands auszudehnen, so wird deutlich, wie sehr doch das kurzfristige machtpolitische Denken der Sieger des Kalten Krieges über das sinnvolle langfristige, auf Stabilität und ungeteilte Sicherheit orientierte Konzept eines „Gemeinsamen europäischen Hauses“ dominierte. Ob die NATO-Osterweiterung, statt des „Gemeinsamen europäischen Hauses“, sicherheitspolitisch im Sinne europäischer Friedensordnung und Stabilität klug war, darüber gibt es erstaunlicherweise unterschiedliche Auffassungen. Meiner Auffassung nach hätte es bei einer ernsthaften Umsetzung des europäischen Sicherheitsraumes mit ungeteilter Sicherheit von Lissabon bis Wladiwostok durch die Europäer weder den Krieg in Jugoslawien noch den gegenwärtigen (Stellvertreter-)Krieg in der Ukraine und somit nicht Hundertausende von Toten und zerstörte Infrastruktur gegeben. Ja, selbst der Krieg in Jugoslawien war bei genauer Betrachtung bereits ein Stellvertreterkrieg zwischen der siegreichen NATO und dem dahinsiechenden Jelzin-Russland der 1990er Jahre, bei dem Jugoslawien als begrenzt sowjetisch-russische Einflusszone in Einzelteile zerlegt wurde und an den Westen fiel.

Geostrategischer Wert des Schwarzen Meeres

Neben der geographisch höchst interessanten Lage des Schwarzen Meeres zur Kontrolle des südlichen Osteuropas bis hin zum Kaukasus und der Türkei gibt es zwei besondere Dreh- und Angelpunkte zur Kontrolle ebenjenes Schwarzen Meeres: Erstens, der Zugang vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer durch den Bosporus. Dieser ist Bestandteil des türkischen Staatsgebietes und wird somit vollständig auch von der Türkei kontrolliert. Das heutige Istanbul (früheres Konstantinopel) ist vermutlich unter geostrategischem Aspekt die wichtigste Stadt Europas. Und zweitens, die Krim-Halbinsel im Norden des Schwarzen Meeres. Die Krim ist mit rund 27.000 Quadratkilometern etwas größer als die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Makedonien. Die Halbinsel verfügt über keine direkte Landverbindung nach Russland. Zwar wurde nach 2018 eine Brücke über die Meerenge, die Straße von Kertsch, zum russischen Festland eröffnet – wie anfällig diese Landverbindung jedoch für Störungen durch ukrainische Angriffe ist, wurde in den letzten Monaten sehr deutlich. Zwar hat die russische Armee die Landbrücke zur Krim erobert, aber es ist derweil nicht abzuschätzen, mit welchem Ergebnis auch für die Krim der Ukraine-Krieg irgendwann enden wird.

Jedenfalls kommt es nicht von ungefähr, dass Moskau 2014 die Krim völkerrechtswidrig in die Russische Föderation integrierte, die „Volksrepubliken“ jedoch im Rahmen der Minsk-Abkommen weiterhin im Bestand des ukrainischen Staates sehen wollte. Die Wiedererlangung der Kontrolle über die Krim und die militärisch äußerst wichtige Hafenstadt Sewastopol mit dem Sitz der Schwarzmeerflotte war für Russland aus sicherheitspolitischer Perspektive so wichtig, dass es dafür sogar den Bruch mit dem Westen bereit war, in Kauf zu nehmen. Und umgekehrt, der Verlust der Krim – diese wäre bei erfolgreicher Aufnahme der Ukraine in die NATO faktisch unter die Kontrolle der USA gefallen – ist für die NATO so gravierend, dass nach 2014 die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland einen dauerhaften Tiefpunkt erlitten, der nur noch durch den Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 getoppt wird.

Wer die Krim beherrscht, kontrolliert im Wesentlichen das Schwarze Meer

Von 1991 bis 2014 besaß Russland nur einen kleinen und wenig bedeutsamen Küstenabschnitt am Schwarzen Meer, womit eine tatsächlich maritim basierte Machtprojektion kaum möglich war, hätte man den Hafen von Sewastopol nicht gepachtet. Aber dieser kurz zuvor verlängerte Pachtvertrag wäre bei einem NATO-Beitritt der Ukraine mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seitens der Ukraine und faktisch der NATO einseitig aufgekündigt worden. Mit der Übernahme der Krim hingegen konnte Russland seinen Küstenabschnitt nicht nur mehr als verdoppeln und die NATO auf Distanz halten, sondern mit der zentralen Lage im Norden des Schwarzen Meeres tief in das Schwarze Meer vordringen – mit einem unsinkbaren Flugzeugträger, der Krim. Die Nord-Süd-Ausdehnung der Krim umfasst knapp 200 km, d.h. dass die Krim sich 200 km in das Schwarze Meer hinein exponiert. Von der Südspitze der Krim bis zur türkischen Küste sind es nur noch rund 250 Kilometer Luftlinie. Die Entfernungen Russlands zu den beiden NATO-Mitgliedsstaaten Rumänien und Bulgarien wurden durch die Krim-Übernahme geradezu halbiert: Von der Südwest-Küste der Krim bis zur rumänischen Küste sind es knapp 300 Kilometer (ohne die Krim waren es fast 650 Kilometer). Ähnlich die Entfernung zur bulgarischen Küste – von 750 Kilometer auf 400 Kilometer. Ironischerweise ist so Russland näher an die zuvor nach Osten erweiterte NATO herangerückt.

Mit der exponierten Stellung der Krim können russische konventionelle Waffensysteme den größten Teil, manche Systeme sogar das gesamte Schwarze Meer abdecken, was für Russland einen militärstrategisch riesigen Vorteil darstellt. Somit teilen sich Russland und die Türkei die beiden Dreh- und Angelpunkte des Schwarzen Meeres, die Krim und den Bosporus.

Kurzum: In der Abwägung zwischen sicherheitspolitischen, geostrategischen und militärstrategischen Aspekten einerseits und der Respektierung des Völkerrechts andererseits hat sich Russland offenkundig für die Wahrung seiner unmittelbaren Sicherheitsinteressen entschieden. Diese Entscheidung liegt ganz im Erklärungsmodell der politikwissenschaftlichen Denkschule der (Neo-)Realisten.

Krim – ein dauernder Kampf um die Kontrolle der Halbinsel

Angesichts des geostrategischen Wertes der Krim nimmt es sich nicht verwunderlich aus, dass die Halbinsel in der Geschichte ein Objekt der Begierde der Anrainer-Staaten und auch raumferner Mächte war.

Im Jahre 1783 wurde die Krim in das russische Zarenreich integriert. Der berühmte Krim-Krieg von 1853-1856 endete mit der Niederlage Russlands, das sich mit dem Osmanischen Reich, Frankreich und Großbritannien im Rahmen einer der vielen Orientkrisen im Krieg wiederfand. Entgegen der Bezeichnung Krim-Krieg begrenzte sich der Krieg nicht auf die Krim. Jedoch fanden im Schwarzmeerraum und auf der Krim die Schwerpunktkämpfe statt. Russland konnte trotz Niederlage seine Souveränität über die Krim aufrechterhalten.

Auch im Zweiten Weltkrieg wurde die Krim Objekt militärischer Auseinandersetzungen. Die Wehrmacht besetzte von 1941 bis 1944 die Halbinsel.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Krim zunächst Bestandteil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) – einem Föderationssubjekt der Sowjetunion. Die militärisch wichtige Hafenstadt Sewastopol wurde hingegen direkt dem sowjetischen Gesamtstaat unterstellt. 1954 verabschiedete der Oberste Sowjet der Sowjetunion in Abstimmung mit der RSFSR und der Ukrainischen SSR ein Dekret, in dem die Krim an die Ukrainische SSR übergeben wurde. Dieser administrative Schritt hatte keinerlei völkerrechtliche Dimensionen oder Konsequenzen, da es sich um eine Übergabe innerhalb des sowjetischen Gesamtstaates zwischen zwei sowjetischen Republiken handelte. Erst mit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 wurde aus einem administrativen und symbolischen Akt eine völkerrechtliche Problematik, nämlich mit der Übernahme der Krim in die Russische Föderation. In einem Referendum stimmten laut Moskau über 95 Prozent der abgegebenen Stimmen zu Gunsten der Wiedervereinigung mit Russland. Die Wahlbeteiligung wurde mit etwa 82 Prozent angegeben.

* Exkurs *

Über die völkerrechtliche Dimension der Integration der Krim in die Russische Föderation habe ich in der Vergangenheit bereits geschrieben. Ich vermeide den Begriff der „Annexion“, da die Frage der militärischen Gewaltanwendung zur Übernahme der Krim zumindest nicht eindeutig zu beantworten ist – im Gegensatz zu der tatsächlichen Annexion anderer Gebiete der Ukraine seit dem 24. Februar 2022. Siehe hierzu auch den Beitrag des Rechtsphilosophen Reinhard Merkel.

Ich sehe jedoch den Völkerrechtsbruch Russlands, da angesichts der Integration der Krim in die Russische Föderation gegen das Interventionsverbot und die Souveränität der Ukraine verstoßen wurde. Allerdings muss in dieser Bewertung der Umstand Beachtung finden, dass auch hier der Westen entsprechende Präzedenzfälle geschaffen hat: Die einseitigen und völkerrechtswidrigen diplomatischen Anerkennungspolitiken gegenüber den jugoslawischen Teilrepubliken 1992 und der serbischen Provinz Kosovo 2008 verstoßen ebenfalls gegen die Interventions- und Souveränitätsnorm der UNO-Charta. Im innerstaatlichen Recht gibt es die Auffassung, es dürfe keine Gleichheit im Unrecht geben. Im internationalen Recht jedoch sehe ich das anders. Wenn ein Staat oder eine Staatengruppe bewusst Unrecht begeht, zum Beispiel, um machtpolitische Vorteile zu erlangen, kündigt der Staat oder die Staatengruppe faktisch den internationalen Konsens über das gemeinsam ausgehandelte internationale Recht auf. Denn internationales Recht ist Konsensrecht, verabschiedet durch die Staaten. Und Staaten, die später dem Vertragswerk beitreten, akzeptieren den rechtlichen Status quo. Wenn Staaten diesen Konsens aufbrechen, können sie von den übrigen, bis dahin rechtstreuen Teilnehmerstaaten keine fortgesetzte Rechtstreue erwarten. Sie schaffen mithin sogenannte Präzedenzfälle, also richtungsweisende Veränderungen im Staatenverkehr. Kurzum, die Causa Jugoslawien wirkt faktisch bis heute nach. Kurzfristiges machtpolitisches Agieren des Westens in der Phase der unipolaren Weltordnung fällt demselben nun gewaltig auf die Füße.

* Exkurs Ende *

Der geopolitische Dreh- und Angelpunkt im Schwarzen Meer, die Meerenge des Bosporus als auch die Halbinsel Krim sind und bleiben unter machtpolitischen Gesichtspunkten Streitobjekte, die bis zu Kriegen führten und weiterhin führen können. Ob die Ukraine ihr deklariertes Ziel, auch die Krim zurückzuerobern, tatsächlich erreichen wird, vermag niemand seriös zu beantworten. Was aber angesichts der geostrategischen Relevanz deutlich geworden sein sollte und auch von der russischen Führung mehrmals geäußert wurde, ist, dass die Krim unantastbar sei. Es geht bei der Krim um mehr als um 27.000 Quadratkilometer und 2,3 Mio. Einwohner. Es geht um Russlands Großmachtstatus im gesamten Schwarzmeerraum bis in das östliche Mittelmeer hinein. Mehr noch, es geht auch um das unmittelbare Sicherheitsempfinden Russlands mit Blick auf die Ausdehnung der NATO. NATO- und US-Flaggen auf der Krim sind für Russland unvorstellbar.

Weitere geostrategische Dreh- und Angelpunkte in europäischen Meeren sind die Insel Bornholm sowie die russische Exklave Kaliningrad an der Ostsee. Insbesondere die Exklave könnte im Falle einer weiteren Eskalation im Stellvertreterkrieg demnächst die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Titelbild: Gaulois_s/shutterstock.com

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