Krieg ohne Krieger – oder: Das phantomhafte Töten und Sterben an der Front

Krieg ohne Krieger – oder: Das phantomhafte Töten und Sterben an der Front

Krieg ohne Krieger – oder: Das phantomhafte Töten und Sterben an der Front

Leo Ensel
Ein Artikel von Leo Ensel

Seit über anderthalb Jahren bekämpfen sich russische und ukrainische Soldaten auf dem Gebiet der Ukraine. Täglich sterben zahllose Soldaten zu beiden Seiten der Front. Doch vom wechselseitigen Töten und Sterben bekommen wir nichts mit: Die Kämpfer – und vor allem die Toten und Verletzten unter ihnen – bleiben auf gespenstische Weise unsichtbar. Von Leo Ensel.

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Über anderthalb Jahre dauert inzwischen der – ja, wie soll man eigentlich schreiben?

„Völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg auf die Ukraine“? – Das wäre nicht falsch, ist aber nur die halbe Wahrheit, denn Kiew beschießt seit über neun Jahren die russische oder mit Russland sympathisierende Bevölkerung im Donbass und kappt die Wasserversorgung für die Bewohner der Krim.

„Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland auf ukrainischem Territorium“? – Der tobt ebenfalls bereits erheblich länger, denn sowohl die USA als auch Russland sind seit mehr als neuneinhalb Jahren verdeckte oder offene ‚Player‘ in der Ukraine.

Die „militärische Spezialoperation“? – Die nennen mittlerweile auch in Russland immer mehr Menschen beim richtigen Namen: Krieg!

Anyway: Über anderthalb Jahre ist es mittlerweile her, dass der Krieg in der Ukraine mit Russlands direktem militärischen Eingreifen auch außerhalb der Rebellengebiete im Donbass und auf der Krim eine neue brandgefährliche Dimension erreicht hat. Auf dem Gebiet der Ukraine kämpfen seitdem russische Soldaten – die meisten von ihnen, sieht man von professionellen Söldnerbanden wie der bis vor kurzem aktiven „Wagner“-Gruppe ab, sicher nicht freiwillig – gegen ukrainische Wehrpflichtige, die ihrerseits von, meist rechtsextremen, Paramilitärs, westlichen „Interbrigaden“ und ultranationalistischen russischen Putin-Gegnern personell unterstützt werden. Seit Monaten ist dieser Krieg festgefahren zu einem an die Gefechte des Ersten Weltkriegs erinnernden Stellungs- und Zermürbungskrieg, in dem mit erheblichen Verlusten an Menschen und unter in Kaufnahme der Verseuchung weiter Flächen durch Minen, Uran- und Streumunition verbissen um jeden Quadratkilometer Terrains gekämpft wird und von dem immer mehr Militärfachleute offen einräumen, dass er für keine Seite zu gewinnen ist.

Die im Dunklen sieht man nicht

Seit Kriegsbeginn hämmern uns die westlichen Leitmedien unisono im Dauerstaccato ein, dass (nahezu) alle ukrainischen Soldaten gut und (nahezu) alle russischen abgrundtief böse, wenn nicht teuflisch seien. (In Russland ist es selbstverständlich umgekehrt.) Dass es sich zumindest bei den regulären russischen Soldaten um Männer handelt, die in ihrer überwiegenden Mehrzahl in diesen Krieg, der nicht ihrer ist, von ihrer Obrigkeit hineingezwungen werden und dass auch die ukrainischen Männer im mittlerweile auf 60 Jahre hochgesetzten wehrpflichtigen Alter aufgrund der verhängten Ausreisesperre so gut wie keine Möglichkeit haben, sich dem Kriegsdienst zu entziehen – es sei denn, es gelingt ihnen, von der allgegenwärtigen Korruption zu profitieren; sprich: sie entstammen privilegierten Familien oder sind finanziell potent genug, sich frei zu kaufen –, dass wir es also auf beiden Seiten überwiegend mit zwangsverpflichteten Männern zu tun haben, das mag hier in seltenen Fällen mental vielleicht noch präsent sein, emotional ist es längst inexistent. Und das soll es ja auch sein! 

Diese Soldaten kämpfen tagtäglich. (Genauer: Sie müssen das!) Das heißt: Sie greifen an und sie verteidigen. Sie sitzen in Panzern, Kampfhubschraubern und -flugzeugen und sie sind hinter der x-ten Verteidigungslinie in Schützengräben verschanzt. Sie bedienen Raketenwerfer, Langrohrkanonen, Mörser und Haubitzen, sie starten Drohnen und Marschflugkörper, sie schießen mit Panzerfäusten, Granaten, Raketen, Schmetterlingsminen, Streumunition und abgereichertem Uran. Sie beschießen militärische und sie beschießen zivile Ziele. Kurz: Sie zerstören, sie verletzen, sie töten. Und sie werden verletzt und getötet.

Von all diesen direkten Kampfhandlungen bekommen wir, die ,mündige Bürger‘ genannten Medienkonsumenten im Westen, aber auch in der Ukraine und in Russland so gut wie nichts mit. Und das obwohl, wie immer wieder berichtet, in der Ukraine täglich solch astromische Mengen von Munition verballert werden, dass EU wie USA mit der Produktion mittlerweile gar nicht mehr nachkommen! (Die völkerrechtlich verbotene Streumunition wurde von den USA ja angeblich nur geliefert, weil nichts Anderes mehr im Angebot war.)

Die Kämpfer aber, ob Russen oder Ukrainer – und vor allem die Toten und Verletzten unter ihnen – bleiben auf gespenstische Weise unsichtbar. Ominöse Sprachfloskeln wie die mittlerweile hüben wie drüben eingebürgerte vom berüchtigten „Bachmuter Fleischwolf“ eröffnen zwar einen grauenerregenden Phantasieraum, sehen tun wir jedoch – vorausgesetzt, wir verlassen uns auf die Leitmedien aller kriegführenden Parteien – so gut wie nichts! Keine Soldatenleichen, kein verzweifelt nach seiner Mutter wimmernder Kämpfer, dem die Gedärme aus dem Leibe hängen, kein Leichengestank quillt uns aus Drohnenbildern der Bachmuter Ruinen entgegen und auch die zahllosen Amputierten und anderen Kriegsversehrten – das Wall Street Journal berichtete am 1. August diesen Jahres, „zwischen 20.000 und 50.000 Ukrainer“ hätten seit Kriegsbeginn „ein oder mehrere Gliedmaßen verloren“ – werden wir erst viel, viel später zu Gesicht bekommen. Eine ‚feindübergreifende Allparteienkoalition‘ der Verteidigungsminister, Regierungssprecher und Medien verschont uns mit allem gnädiglich. 

Kurz: Die Informationen vom wechselseitigen Abschlachten an der Front bleiben völlig abstrakt. Gefühle lösen sie – im Gegensatz zu den fast täglichen Bildern von den zivilen Opfern in ihren ausgebombten Häusern – nicht aus. 

Vom ‚Informationsdesaster‘ zu ‚Embedded Journalists‘

Nicht nur die USA, auch die manifest kriegführenden Akteure in der Ukraine haben aus dem seinerzeitigen ‚Informationsdesaster‘ der US-Army und ihrer GIs im Vietnamkrieg gelernt: Damals lieferten mutige Kriegsberichterstatter noch weitestgehend unzensierte Bilder vom Morden, vom Töten und vom Sterben direkt von der Front frei Haus, die weltweit über die Bildschirme flimmerten und auf den Titelseiten der tonangebenden Zeitungen erschienen – und vor allem die junge Generation in den Ländern des Westens zu Protest- und Verweigerungsaktionen auf die Straße trieben. Spätestens seit dem Golfkrieg 1991 werden wir, wenn überhaupt, nur noch mit – den Militärs und Machthabern genehmen – klinisch-reinen Bildern und Filmen von „Embedded Journalists“ beliefert.

(Dass, wie in allen Kriegen, auch im Ukrainekrieg alle Seiten alles dafür tun, die Verluste der gegnerischen Seite möglichst hoch- und die der eigenen möglichst herunterzuschreiben, die realen Zahlen der Getöteten und Verletzten aber als streng gehütetes Staatsgeheimnis versiegeln, versteht sich von selbst. Schließlich soll die ‚Moral‘ von Kämpfenden und Heimatfront nicht gefährdet werden!)

Und so kommt es, dass wir bezogen auf die Zahlen der zivilen Kriegsopfer besser informiert sind als über die der Soldaten: Vom 24. Februar 2022 bis zum 30. Juni 2023 dokumentierte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte für die Ukraine 9.171 getötete und 15.993 verletzte Zivilisten. (Die Dunkelziffer dürfte sicher deutlich höher liegen.) Was die Zahl der Kämpfer angeht, so sprach der ranghöchste Militär der USA, der Vorsitzende des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, Mark Milley, im November letzten Jahres für beide Seiten von insgesamt mehr als 100.000 getöteten oder verwundeten Soldaten. (Militärexperten schätzen die Relation von Getöteten zu Verwundeten auf eins zu drei oder vier. Wir hätten es also mit jeweils 20.000 bis 33.000 Toten unter den Soldaten zu tun.) Mittlerweile dürfte sich die Zahl auf beiden Seiten – besonders allerdings auf der ‚angreifenden‘ ukrainischen – deutlich erhöht haben, zumal derselbe General kürzlich davor warnte, die ukrainische Gegenoffensive werde „lange dauern, und sehr, sehr blutig werden.“

Amputiert, aber sexy!“ – Der zynische Trost

Einen indirekten Eindruck von dem, was sich jeden Tag zu beiden Seiten der Front abspielen mag, erhalten wir immerhin durch einen medizinischen Fachartikel, den eine sich „Global Surgical and Medical Support Group“ nennende US-Organisation im August veröffentlichte. (Ich zitiere hier aus einem zusammenfassenden Bericht, der gerade im Schweizer Infosperber erschien.) 

Das Pikante: Das Hauptanliegen dieser „Globalen chirurgischen und medizinischen Unterstützungsgruppe“, die bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine eintraf, ist trotz ihres humanitär klingenden Namens nicht in erster Linie, verletzten ukrainischen Soldaten medizinische Hilfe anzubieten. Ziel ist vielmehr, wie bereits die Überschrift des Artikels ungeniert verrät, „Lektionen aus dem Krieg in der Ukraine und Anwendungen für künftige Konflikte mit nahezu ebenbürtigen Gegnern“ zu ziehen. „Der Konflikt mit der Ukraine bildet eine einmalige Gelegenheit für die Vereinigten Staaten, sich auf einen potenziellen, künftigen Konflikt mit nahezu ebenbürtigen Widersachern vorzubereiten – gegnerische Nationen mit gleichwertiger militärischer Stärke“ [gemeint sind China und Russland; d.V.], schreibt die Gruppe einleitend. 

Ein wahres Himmelsgeschenk, dieser Krieg in der Ukraine! Hatten die USA in den letzten Jahrzehnten doch nahezu alle Kriege – ob gegen „den Terror“ oder zu eliminierende Diktatoren – gegen erheblich schwächere Gegner und dazu zumeist auch noch aus der Luft oder via Joystick geführt. Unmöglich, nicht an die Ärzte zu denken, die das U.S. Strategic Bombing Survey wenige Monate nach den ersten beiden Atombombenabwürfen in die weitgehend zerstörten und verstrahlten Städte Hiroshima und Nagasaki schickte und deren Job es nicht etwa war, den zahllosen verletzten, hochtraumatisierten Menschen medizinische Hilfestellung zu leisten, sondern die bis dato völlig unbekannten Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf den menschlichen Organismus wissenschaftlich zu erforschen!

Die konkreten, zum Teil verheerenden Verletzungen und Probleme bei der Ersten Hilfe, die die Autoren auf der ukrainischen Seite der Front beobachteten, dürften mutatis mutandis auch für deren russische Gegner zutreffen: 

  • Beim Einsatz panzerbrechender Munition starben z.B. in leichteren Fahrzeugen als Panzer Dreiviertel der Menschen sofort. Bei einem Menschen in 60 Metern Entfernung verbrannten 80 Prozent der Hautoberfläche; drei Tage später verstarb er.
  • Über 70 Prozent der Verletzungen würden von Artilleriefeuer und Raketenbeschuss stammen, was zu massiven „Polytraumata“ an multiplen Organen führe. Obwohl die allermeisten Soldaten in der Ukraine Helm und Körperschild trügen, würden oft Fremdkörper durch den Schild hindurch oder seitlich oder unterhalb des Schilds eindringen. Einer der Gründe: Im Moment der Bedrohung rissen die Soldaten die Arme hoch, um ihren Kopf schützen.
  • Bei Raketen- und Artilleriebeschuss komme es regelmäßig zu Schädel-Hirn-Traumata, die allerdings oft noch durch andere Wunden und Verletzungen überschattet würden.
  • Jeder vierte Verwundete, der frontnah behandelt werde, befände sich wegen des starken Blutverlustes im Schockzustand.
  • Blutkonserven, die über 40 bis 50 Prozent der Eingelieferten benötigten, könnten nicht immer verabreicht werden, da die für das Kühlen bzw. Auftauen der Konserven benötigten Stromgeneratoren in Frontnähe die Sicherheit gefährdeten. 
  • Der Nachschub für chirurgische Ersthelfer an der Front gerate regelmäßig unter Beschuss und da feindliche Drohnen und Flugkörper bis weit ins Hinterland reichten, seien Verletzte und Helfer selbst in geschützten Anlagen noch nicht sicher. Ambulanzen und Gesundheitseinrichtungen würden zudem gezielt angegriffen. Das Gleiche gelte für die Kommunikation zwischen Helferteams und Front.

Momentaufnahmen, die – mehr haben wir im Moment kaum zur Verfügung – immerhin die Phantasie anstacheln könnten! Für die bereits erwähnten 20.000 bis 50.000 Ukrainer allerdings, denen infolge von Kriegsverletzungen bereits ein oder gar mehrere Gliedmaßen amputiert werden mussten, hatte ein Kolumnist der New York Times einen höchst originellen Trost parat. Er zitierte die Frau eines Amputierten mit den Worten: „Er ist sehr sexy ohne Bein!“

Wäre es angesichts dieser Gräuel und dieser Zynismen nicht endlich an der Zeit, allen Kämpfenden dies- und jenseits der Front die guten Worte Bertolt Brechts entgegenzuschleudern: „Habt doch endlich Mitleid mit Euch selber!“ Und wäre es nicht an der Zeit, die hoffentlich kampfesmüde Gewordenen durch eine internationale Kraftanstrengung für ein sofortiges Schweigen der Waffen zu erlösen, damit es statt eines ‚Kriegs ohne Krieger‘ endlich nur noch ‚Krieger ohne Krieg‘ gibt?

Dieser Artikel ist zuerst bei Globalbridge erschienen.

Titelbild: Drop of Light / Shutterstock

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