„Diese Umfrage belegt, dass es eine andere Ukraine gibt“

„Diese Umfrage belegt, dass es eine andere Ukraine gibt“

„Diese Umfrage belegt, dass es eine andere Ukraine gibt“

Ein Artikel von Michael Holmes

Eine von westlichen Leitmedien ignorierte Meinungsumfrage belegt, dass eine große Minderheit der Ukrainer zentrale Meinungen der internationalen Friedensbewegung teilt. Der ukrainische Autor und Journalist Lev Golinkin beklagt, dass sowohl die Ukraine als auch der Westen unliebsame ukrainische Minderheitspositionen ausblenden. Von Michael Holmes.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Bereits am 26. Juni veröffentlichte die pro-ukrainische Internetplattform Vox Ukraine mit Sitz in Kiew die Ergebnisse einer Meinungsumfrage, in der sich eine beachtliche Anzahl von Ukrainern sowie ukrainischen Flüchtlingen im Westen kritisch gegenüber der Politik der Ukraine und des Westens äußerten:

  • 43 Prozent der Ukrainer und 36 Prozent der Flüchtlinge widersprachen der Aussage: „Nazi- und/oder Neo-Nazi-Ideologie ist nicht weit verbreitet in der Ukraine“.
  • 29 Prozent der Ukrainer und 35 Prozent der Flüchtlinge widersprachen der Aussage: „Die Revolution der Würde in der Ukraine von 2013-2014 war KEIN Putsch“.
  • 26 Prozent der Ukrainer und 29 Prozent der Flüchtlinge stimmten der Aussage zu: „Russland kämpft gegen den Westen / die NATO in der Ukraine“.
  • 25 Prozent der Ukrainer und 29 Prozent der Flüchtlinge stimmten der Aussage zu: „Der Westen nutzt die Ukraine zu eigenen Zwecken im Krieg gegen Russland“.

Der ukrainische Autor und Journalist Lev Golinkin hat in einem äußerst sehenswerten Interview mit dem linken, US-amerikanischen YouTube-Kanal „Useful Idiots“ erklärt, warum er die Ergebnisse dieser Meinungsumfrage für „erschütternd“ und höchst bedeutsam hält:

„Diese Umfrage zeigt, dass es eine andere Ukraine gibt“, erklärt Golinkin in dem Interview, „eine Ukraine, die unbequem für die amerikanische Geopolitik ist – eine Ukraine, die weggestoßen und aus dem Narrativ entfernt wurde.“

Zunächst lobt er die Autoren für die Veröffentlichung von Ergebnissen, die ihnen sicher nicht gefallen haben. Tatsächlich deuten die Autoren die unliebsamen Minderheitenmeinungen als Beleg für die Wirkmächtigkeit der russischen Propaganda. Golinkin wirft dagegen den großen Medien im Westen und in der Ukraine vor, alle Meinungen von Ukrainerinnen und Ukrainern zu ignorieren, die nicht ins Bild passen. Ihn empört die zutiefst antidemokratische, arrogante und paternalistische Annahme, Ukrainerinnen und Ukrainer seien in allen wichtigen Fragen weitgehend einer Meinung.

„Das ist eine Beleidigung von Ukrainerinnen und Ukrainern.“

Golinkin unterstreicht, dass weder Bewohner der Krim oder der von Russland besetzten Gebiete noch ukrainische Flüchtlinge in Russland oder Weißrussland befragt wurden. Wenn sich diese Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainer hätten äußern können, hätten die Minderheitenpositionen höchstwahrscheinlich noch wesentlich mehr Zustimmung erhalten. Er weist zudem darauf hin, dass es in der Ukraine gefährlich ist, die Minderheitenpositionen der Umfrage öffentlich zu äußern. Über die Berichterstattung im Westen sagt er:

„Es ist, als ob das halbe Land verschwunden ist. Es ist, als würde die chinesische Propaganda behaupten, dass alle Menschen in Amerika Joe Biden lieben.“

Westliche Medien würden jede Kritik an der Politik des Westens oder der ukrainischen Politik als russische Proaganda diffamieren, auch wenn Millionen von Ukrainern und Ukrainerinnen diese Kritik teilen.

Wir sollten die Ergebnisse dieser Umfrage vorsichtig interpretieren. Es ist sehr gut möglich, dass die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer, die dem Westen und ihrer eigenen Regierung kritisch gegenüberstehen, der russischen Regierung die Hauptschuld am Krieg geben. Die Umfrage zeigt jedoch sehr deutlich, dass die Ansichten vieler Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sehr viel nuancierter und differenzierter sind als die simple Schwarz-Weiß-Perspektive der westlichen Eliten, die kaum Grautöne zulässt. Die feinen Unterschiede könnten jedoch von größter Bedeutung sein: Wer nämlich – wie die Friedensbewegung – dem Westen sowie den Rechtsextremisten in der Ukraine einen relevanten Teil der Schuld für den Krieg zuschreibt, wird sich viel eher für eine diplomatische Lösung einsetzen.

Die Ukraine steht vor schwierigen Entscheidungen. Wer nur eine ukrainische Meinung anerkennt, stärkt den Autoritarismus in der Ukraine, der die demokratischen Überreste zu vernichten droht. Golinkin selbst ist ein gutes Beispiel für einen Ukrainer, dessen Denken über sein Heimatland wesentlich komplexer ist als die westlichen Stereotype. In einem bewegenden Essay für die New York Times hat er sein Entsetzen und seine Trauer über den russischen Angriffskrieg eindringlich geschildert: „The Ukraine of My Childhood Is Being Erased“ („Die Ukraine meiner Kindheit wird ausgelöscht“).

In einem Artikel für das Magazin The Nation hat er den weit verbreiteten Mythos widerlegt, dass das berüchtigte Azow-Regiment der ukrainischen Armee seine neo-nazistische Ideologie hinter sich gelassen habe: „The Western Media is Whitewashing the Azov Batallion“ („Die westlichen Medien beschönigen das Asow-Batallion“). In seinem autobiografischen Buch „A Backpack, a Bear and Eight Crates of Vodka“ („Ein Rucksack, ein Bär und acht Kisten Wodka“) beschreibt er die schwierige Flucht seiner jüdischen Familie von Charkiw in die USA. Die besprochene Meinungsumfrage ist ihm wichtig, weil er sich um die demokratische Meinungsvielfalt in der Ukraine und im Westen sorgt.

Interview mit Golinkin zur Meinungsumfrage (ab Minute 17:03):

Titelbild: Screenshot

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