ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel – Geschichtsrevisionismus ist offenbar wieder salonfähig

ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel – Geschichtsrevisionismus ist offenbar wieder salonfähig

ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel – Geschichtsrevisionismus ist offenbar wieder salonfähig

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Aus Sicht der AfD-Vorsitzenden war der 8. Mai 1945 nicht etwa ein Tag der Befreiung, sondern eine Niederlage. Dass ihr Parteifreund Tino Chrupalla zu dieser Gelegenheit an einem Empfang der „ehemaligen Besatzungsmacht“ Russland teilgenommen hat, ist für sie reine Symbolik. Sie würde nie die „Niederlage des eigenen Landes befeiern“ – schon gar nicht mit den „ehemaligen Besatzern“. Das ist starker Tobak und zeigt einmal mehr, dass Geschichtsrevisionismus in der AfD allgegenwärtig ist. Doch anders als z.B. bei Gaulands „Vogelschiss-Rede“ blieb der Sturm der Entrüstung bei Politik und Medien diesmal aus. Offenbar ist es wieder salonfähig, die Niederlage des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg als „unsere“ Niederlage zu deuten – zumindest dann, wenn es um den Krieg im Osten geht. Nicht die nicht sonderlich überraschende Identifikation Weidels mit dem Dritten Reich, sondern die ausbleibende Kritik daran ist ein mahnendes Zeichen für die Verfasstheit des politischen Diskurses. Da waren wir schon mal weiter. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Matthias Deiß: „Im Mai, am Tag der deutschen Kapitulation, sehen wir den Co-Vorsitzenden der AfD, Tino Chrupalla, zu Gast in der russischen Botschaft. Sie waren nicht da. Warum eigentlich?“

Alice Weidel: „Na ja gut, also, es ist alles Symbolik. Dem Tino Chrupalla ist es sehr gelegen gewesen, an diesem Empfang teilzunehmen. Ich habe natürlich für mich entschieden – das ist eine persönliche Entscheidung gewesen – aus politischen Gründen daran nicht teilzunehmen. Also hier die Niederlage des eigenen Landes zu befeiern, mit einer ehemaligen Besatzungsmacht; das ist etwas, wo ich für mich persönlich entschieden habe, auch mit der Fluchtgeschichte meines Vaters, daran nicht teilzunehmen.“

Quelle: ARD Sommerinterview (ab Minute 2:50)

Ob der 8. Mai als Tag der Befreiung oder als Tag der Niederlage gesehen werden soll, war in der jungen Bundesrepublik eine durchaus kontroverse Debatte und vor allem im konservativen politischen Lager wäre Weidels Aussage damals auf breite Unterstützung gestoßen. Revisionisten und Altnazis waren im damaligen politisch-gesellschaftlichen Gebräu aus Vertriebenenverbänden, CDU und FDP weitaus einflussreicher, als es uns die heute erzählte Geschichte weismachen will. Man sollte vor diesem Hintergrund nicht vergessen, dass der damalige Kanzler Willy Brandt, der den 8. Mai selbstverständlich als Tag der Befreiung ansah, noch in den frühen 1970ern aufgrund seiner aussöhnenden Ostpolitik aus den Reihen von CDU/CSU als „Vaterlandsverräter“ beschimpft wurde. Erst 1985 markierte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner Rede zum 40. Jahrestag der Befreiung eine Zäsur im bürgerlich-konservativen Lager.

Völkerrechtlich ist es natürlich unstrittig, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ist. Ob man diesen Tag für Deutschland als Niederlage oder Befreiung ansieht, ist jedoch keine völkerrechtliche Frage, sondern eine Frage, mit welchem Deutschland man sich identifiziert; mit dem Deutschland Willy Brandts oder mit dem Deutschland Adolf Hitlers? Mit einem „Volk der guten Nachbarn“ oder einem Volk, das nach innen wie nach außen gemordet und geschändet hat wie wohl kein anderes Volk in der Menschheitsgeschichte? Nach Weizsäckers Rede 1985 schien es so, als habe unsere Gesellschaft diese Frage beantwortet. Alice Weidels Aussagen zeigen, dass dies nicht so ist. Das ist traurig, aber angesichts des immer wieder offen zutage tretenden Geschichtsrevisionismus von Teilen der AfD auch nicht wirklich überraschend.

Wirklich traurig ist, dass Weidels Aussagen keinen Sturm der Entrüstung auslösten. Der ARD-Journalist Matthias Deiß hakte nicht einmal nach, sondern nickte andächtig und nutzte Weidels Antwort als Vorlage für eine Folgefrage, wie sie es „mit dem russischen Regime“ halte. Die Gretchen-Frage unserer Zeit. Nicht ihr Geschichtsrevisionismus zum „Hitler-Regime“, sondern ihre – aus Sicht des ARD-Journalisten – nicht deutlich genug artikulierte Abgrenzung zum „Putin-Regime“ wurde also als problematisch gesehen. Im Print-Artikel der Tagesschau zum Sommerinterview taucht das „Niederlage-Zitat“ noch nicht einmal auf. Bei der ARD hat man mit derartigen Äußerungen offenbar kein Problem. Wo sind wir nur hingekommen?

Was unterscheidet Weidels „Niederlage des eigenen Landes“ von Höckes „Denkmal der Schande“ oder Gaulands „Vogelschiss“? Es ist der antirussische Unterton. Hätte Weidel – rein hypothetisch – ihre Teilnahme an einer Siegesfeier der West-Alliierten mit der Begründung abgesagt, sie wolle die Niederlage des Landes nicht zusammen mit einer ehemaligen Besatzungsmacht befeiern, wäre der Sturm der Entrüstung wohl vorprogrammiert. So lange es aber gegen Russland geht, scheint jedoch der Weidel’sche Geschichtsrevisionismus durchaus opportun und salonfähig zu sein. Ist die AfD in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Nein. Der bellizistische anitrussische Mainstream von Medien und Politik ist bei dem Geschichtsrevisionismus der AfD angekommen. Und das ist noch schlimmer.

Titelbild: Screenshot ARD