Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Ein Artikel von Peter Rohleder

Nicht selten stelle ich mir die Frage, was mich als nicht gläubiger Mensch mit dem christlichen Weihnachtsfest verbindet. Zum einen sind das positive Erinnerungen an Weihnachtsfeste in meiner Kindheit, wo auch ich typische Weihnachtsfeste mit Geschenken, Weihnachtsbaum und Christmette gefeiert habe – so, wie es in christlich geprägten Familien üblich ist. Aber es gibt auch eine ganz andere Geschichte, die zu erzählen sich mir immer wieder aufdrängt. Sie hat sich mir so eingeprägt, dass sie sich spätestens Anfang Dezember, wenn, wie man sagt, die Advents- oder Weihnachtszeit beginnt, immer wieder in meinem Kopf meldet. Von Peter Rohleder.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Eigentlich hätte sie schon vor Jahren aufgeschrieben gehört, aber zu meiner Schande muss ich gestehen, dass sie in der übrigen Zeit des Jahres auch oftmals wieder in Vergessenheit gerät. Die Geschichte wurde mir vor ca. 40 Jahren von einem Zeitzeugen berichtet. Der Zeitpunkt, als sich der Vorgang zugetragen hat, war im Jahre 1944, ist also mittlerweile schon fast 80 Jahre her. Der Zeitzeuge, der sie mir und einigen Kollegen aus dem gewerkschaftlichen Umfeld damals, aus Anlass eines Interviews mit ihm, erzählte, war der Gewerkschafter, Antifaschist, ehemalige Kommunist und spätere Sozialdemokrat Josef Schappe aus Ratingen. Von denen, die ihn kannten, wurde er eher Jupp genannt.

Wichtige Daten zu seiner Biografie finden sich z.B. in der Wikipedia, und diese an dieser Stelle zu wiederholen, würde den Rahmen der Geschichte sprengen. Jupp Schappe gehörte als aktiver Widerstandskämpfer schon seit 1938 zu den ersten Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald auf dem Ettersberg in der Nähe von Weimar. Er war dort später Mitglied der illegalen Widerstandsgruppe, dem internationalen Lagerkomitee, und wurde erst 1945 durch den gelungenen Aufstand der Häftlinge – vor dem Hintergrund der heranrückenden US-amerikanischen Truppen – befreit.

Bevor ich diese Geschichte, so wie ich sie von Jupp Schappe gehört habe, nacherzähle, ein paar Details, die zum besseren Verständnis vorangestellt werden müssen:

Aufgrund der großen Anzahl von Häftlingen im Lager konnte die SS das Lager organisatorisch nicht allein verwalten und bediente sich dazu von ihr eingesetzter sogenannter Funktionshäftlinge. In der Regel und zumindest in der Anfangszeit waren das Häftlinge, die wenig Probleme damit hatten, sich von der SS in deren Sinne benutzen zu lassen – meistenteils Häftlinge mit kriminellem Hintergrund.

Andererseits wurde den politischen Häftlingen schnell klar, dass man in der Tätigkeit als Funktionshäftling an eine Reihe von Informationen herankommen konnte, die es ermöglichten, den illegalen Widerstand effizienter zu organisieren. Sicherlich war das ein Spiel auf des Messers Schneide, denn letztendlich kam es der SS darauf an, dass die Vernichtungsmaschine reibungslos funktionierte. Und wenn das nicht der Fall war, wurde der Funktionshäftling dafür verantwortlich gemacht und in der Regel auch bestraft.

Alle Häftlinge wurden gemäß ihrem Vergehen in bestimmte Schubladen gesteckt, um sie zu kategorisieren. Dazu diente ein farbiger Stofffetzen am Häftlingsanzug, ein roter, grüner oder rosa Winkel – Letzterer für homosexuelle Häftlinge. Der grüne Winkel war für kriminelle oder vormals kriminelle Häftlinge gedacht, hat also nichts mit „grün“ im heutigen Kontext zu tun. Der rote Winkel war für politische Häftlinge, also in der Regel Kommunisten oder Sozialdemokraten. Mit der Zeit gelang es, der SS schmackhaft zu machen, dass ganz bestimmte Häftlinge sich als Funktionshäftlinge eigneten; das waren in der Regel politische Häftlinge, die mit dem roten Winkel.

Diese Funktionshäftlinge bekamen durch ihre Tätigkeit jedoch auch Zugriff auf entscheidende Schnittstellen im Lagerbetrieb – an Informationen, die für das Organisieren des Widerstandes im Untergrund wichtig waren und es letztendlich auch ermöglichten, dass das Lager im Frühjahr 1945 noch vor dem Eintreffen amerikanischer Truppen befreit werden konnte.

Die Häftlinge wohnten im Lager in sogenannten Blöcken. Das waren Baracken, wo die Häftlinge – u.a. getrennt nach nationaler Zugehörigkeit mit zu wenig Essen und unter vielerlei sonstigen Entbehrungen, wenn sie nicht tagsüber in den Arbeitskommandos zur Zwangsarbeit eingeteilt waren – ihr trauriges Dasein fristen mussten. Die jeweiligen Blockältesten hatten als Funktionshäftlinge dafür zu sorgen, dass die ausgehungerten Gestalten des jeweiligen Blocks morgens vollzählig bei jedem Wetter draußen zum Appell antraten. Und wenn die Häftlinge am Morgen nicht vollzählig antraten, musste oftmals in bitterer Kälte bei unzureichender Kleidung so lange ausgeharrt werden, bis sich auch der letzte Häftling auf dem Appellplatz eingefunden hatte.

Diese Blockältesten, sofern sie einen politischen Hintergrund hatten, sorgten im günstigsten Fall jedoch auch dafür, dass es in dem Block „gerecht“ zu ging – soweit man sich des Wortes „gerecht“ unter diesen Bedingungen überhaupt bedienen darf. Insbesondere bedeutete dies, dafür zu sorgen, dass die dem Block zustehenden unzureichenden Brotrationen zumindest gerecht unter allen Häftlingen verteilt wurden.

Da machte es schon einen Unterschied, ob an dieser entscheidenden Stelle ein politischer Häftling als Funktionshäftling saß oder ob ein in seinem früheren Leben vielleicht krimineller Häftling dafür sorgte, dass das wenige, zum Überleben Notwendige nicht noch unter der Hand verschachert wurde. Ein Krümel mehr oder weniger Brot konnte darüber bestimmen, ob man die schwere Arbeit zumindest zeitweise überleben konnte.

Das nur zum Hintergrund der im Folgenden nacherzählten Geschichte.

Jupp Schappe war durch Umstände, die jetzt aufzuführen zu weit reichen würde, als deutscher Antifaschist Blockältester vom Polenblock geworden, also einer Baracke, in der hauptsächlich polnische Häftlinge untergebracht waren. Es war, wie Jupp Schappe erzählte, anfangs nicht einfach, die Rolle als Blockältester in der Polenbaracke zu übernehmen. Aufgrund nachvollziehbarer Erfahrung war auch ein deutscher Blockältester zuerst einmal ein Deutscher. Und als Deutscher und Angehöriger eines Landes, das ihr Heimatland überfallen hatte, war auf den ersten Blick somit auch er für die prekäre Lage der polnischen Häftlinge in dem KZ verantwortlich. So zumindest dachten nicht wenige der polnischen Häftlinge. Anfangs, so Jupp Schappe in seiner Erzählung, kam im versuchten Gespräch mit den polnischen Häftlingen kein Ton über deren Lippen.

Dass man zwischen deutschen Mithäftlingen und deutschen Peinigern in SS-Uniform unterscheiden musste, war manch einem also zunächst nicht so richtig klar.

Es war ein Teil der Elite des europäischen Widerstands aus vielen Nationalitäten, der sich dort im Lager wiederfand. Willi Bleicher, Marcel Paul, Emil Carlebach waren einige wenige Namen von Mithäftlingen, die in den Erzählungen von Jupp Schappe immer wieder auftauchten und über deren Biografie man heute auf einschlägigen Seiten im Internet nachlesen kann. Dort übrigens lernte Jupp Schappe auch den polnischen Häftling Jan Izydorczyk, kennen, mit dem ihn, so erzählte er, später noch eine lange Freundschaft verband.

Es war der Dezember 1944, also der Monat, an dessen 24. in aller Welt das christliche Weihnachtsfest bzw. Heiligabend gefeiert wird. Als Atheist, was die deutschen Kommunisten zu der Zeit in der Regel fast alle waren, so erzählte Jupp Schappe, war der 24. Dezember für ihn kein anderes Datum wie viele andere. Einige Tage vor dem Heiligen Abend kam ein polnischer inhaftierter Priester zu Jupp Schappe und sagte: „Die Polen sind alle katholisch. Wir wollen am Heiligen Abend in der Baracke Christmette abhalten.“

In seiner Erzählung schilderte Jupp Schappe den sich daran anschließenden Dialog wie folgt: „Dann habe ich diesem Priester vorgelesen, dass jede religiöse Haltung, jede Art und Gottesdienst im Lager verboten sind. Er gab vor, dieses zu wissen. Und wer, glaubst Du, gehört von uns beiden keiner Kirche an und ist auch nicht der Meinung, dass es so etwas, was die Kirche propagiert, gibt? Stell Dir vor, die Sache geht hoch. Wer wird da zuerst gehängt?”

Der katholische Priester war klug genug zu verstehen, dass der die Verantwortung tragende Blockälteste derjenige war, der dieses Risiko zu tragen hatte. Darauf, so schilderte es Jupp Schappe, antwortete dieser Priester: „Ich weiß, dass sie Antifaschist sind. Und ohne dass alle Völker, alle Menschen, also auch die gläubigen Christen gegen den Faschismus zusammenhalten, werden wir den Faschismus nicht besiegen.” Offenbar hatte die ausgeübte Funktion als Blockältester, der darauf bedacht war, dass es „gerecht” zuging, dazu geführt, dass die inhaftierten Polen mittlerweile zwischen der deutschen SS und den einsitzenden deutschen Antifaschisten zu unterscheiden vermochten.

Dass diese Aktion durchgeführt wurde, so Jupp Schappe, war unter den Antifaschisten durchaus umstritten. Eigentlich war das Risiko zu groß, durch eine illegale Christmette den Widerstand zu gefährden. Aber letztendlich setzte sich die Einsicht durch, draußen bei bitterer Kälte, am Abend des 24. Dezembers, Wache zu halten, während die Polen, ca. 1.200 an der Zahl, in ihrer Baracke eng aneinander stehend ihre Christmette feierten.

Am nächsten Tag wurde nicht zur Arbeit ausgerückt, weil die SS ihr Julfest feierte. Denn ohne Bewachung durften die Häftlinge natürlich nicht arbeiten. Morgens, so erzählte Jupp Schappe, kam ein junger Pole zu ihm und gab ihm ein Stück Brot. „War Brot zu viel?“ so Jupp Schappe. „Nein”, so der junge Pole, der vorgab, er hätte als junger Mann eigentlich Geistlicher werden wollen. Aber er hätte sich niemals vorstellen können, dass ein Antifaschist, noch dazu ein deutscher Kommunist, draußen Wache hält, um den katholischen Polen zu ermöglichen, Christmette zu feiern.

Noch niemals, so Jupp Schappe, habe er so viel Freundlichkeit erlebt wie nach diesem Ereignis. „Was hast Du mit denen angestellt, dass die jetzt so freundlich sind”, habe er sich von den anderen Kameraden vom internationalen Lagerkomitee fragen lassen müssen.

Es gab durchaus auch Genossen, die die Meinung vertraten, dass man dieses Risiko eigentlich nicht hätte eingehen dürfen. Na ja, die Sache war nochmal gut gegangen.

Wie oben schon gesagt: Wenn das Weihnachtsfest mal wieder vor der Tür steht, erinnere ich mich gerne an diese Begebenheit, die Jupp Schappe vor mittlerweile mehr als 40 Jahren erzählt hat.

Jupp Schappe ist 1994 in Ratingen gestorben, eine Straße ist nach ihm benannt.

Titelbild: Everett Collection/shutterstock.com