Vertrauen wieder aufbauen. Das ist die zentrale Aufgabe für 2024

Vertrauen wieder aufbauen. Das ist die zentrale Aufgabe für 2024

Vertrauen wieder aufbauen. Das ist die zentrale Aufgabe für 2024

Albrecht Müller
Ein Artikel von: Albrecht Müller

Wie im Hinweis Nr. 7 von heute berichtet wurde, hat der russische Präsident bei seinen Neujahrsgrüßen eine Auswahl getroffen: dem Papst gratulierte er, dem deutschen Bundeskanzler nicht; dem brasilianischen Präsidenten Ja, dem US-amerikanischen Nein; Gerhard Schröder Ja, der amtierenden EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Nein, auch Angela Merkel Nein. Wir sind offensichtlich umgeben von Politikerinnen und Politikern, die sich gegenseitig nicht mehr vertrauen. Kann uns das egal sein? Weil ich die gefährliche Phase des Kalten Krieges in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts persönlich erlebt habe und dann das Glück hatte, mit dabei zu sein, als Vertrauen wieder aufgebaut wurde, beunruhigt mich die aktuelle Entwicklung. Albrecht Müller.

Vertrauen wieder aufbauen – das ist zu Beginn des Jahres 2024 die deutlich erkennbare politische Aufgabe Nummer 1. Diese Aufgabe anzupacken ist möglich und kann erfolgreich sein. Deshalb komme ich zu Beginn des Jahres 2024 auf diese für das Zusammenleben der Völker entscheidende politische Konzeption und ihre Umsetzung in der jüngeren Geschichte unseres Landes zurück:

Der schreckliche Ausgangspunkt war gekennzeichnet von einer rassistisch anmutenden Aggression der führenden Politiker Westdeutschlands gegen die im Osten, gegen die Russen und auch gegen alle anderen Völker im Osten, die Deutschen in der DDR, jedenfalls ihre Führung inbegriffen.

Das Nachkriegsbekenntnis „Nie wieder Krieg“ wurde vom damaligen Bundeskanzler Adenauer mit tatkräftiger Unterstützung der westlichen Alliierten abgelöst durch die Gründung der Bundeswehr und Aufrüstung. Diese politischen Entscheidungen und Taten waren jeweils propagandistisch untermalt und begleitet. In unserer „Serie alter, interessanter Dokumente“ haben wir auf den früheren Bundesinnenminister (CDU) und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann (SPD) hingewiesen. An seiner politischen Biografie kann man gut studieren, wie die Belebung des Kalten Krieges in den fünfziger und beginnenden sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts aussah und welche kritischen Folgen das für unser Land hatte. Siehe dazu die Rede des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann vom 23. Januar 1958 und hier Die Spiegel-Geschichte zur Rede von Gustav Heinemann und Thomas Dehler. Gustav Heinemann hatte in der dokumentierten Rede skizziert, welche großen Chancen der Verständigung, des Sich-Vertragens und Sich-Vertrauens in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland bestanden und mutwillig verspielt worden waren. Treibende Kraft waren Adenauer und seine CDU.

Ende der Fünfzigerjahre gab es dann im Kreis um den damaligen Regierenden Bürgermeister Willy Brandt erste Überlegungen dazu, wie der Westen und wie Westdeutschland aus der Konfrontation herauskommen könnten und zu diesem Zweck Vertrauen wieder aufbauen könnten. 1963 dann testeten der damalige SPD-Vorsitzende Brandt und sein Mitarbeiter Egon Bahr, damals Pressesprecher des Berliner Senats, die von ihnen formulierte Parole und Konzeption „Wandel durch Annäherung“. Das geschah auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing.

Als Außenminister der Großen Koalition mit der CDU/CSU und Bundeskanzler Kiesinger konnte Willy Brandt dann 1966-1969 im Gespräch mit den Alliierten und in Kontakten mit Vertretern des „feindlichen“ Ostens ausloten, ob die Politik der Verständigung und des Vertrauensaufbaus eine Chance hat. In seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler hieß es dann am 28. Oktober 1969: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Das war aktive Vertrauensbildung und ist auch so begriffen worden.

In den Texten zur 1975 zusammentretenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) taucht dann der Begriff „Vertrauensbildende Maßnahmen“ auf. Siehe hier. In Ost und West hatte man die Bedeutung der Vertrauensbildung für Zusammenarbeit und Frieden erkannt.

Es ist schon sehr seltsam, dass solche grundlegenden und für unser Überleben wichtigen Gedanken und Erkenntnisse später verloren gehen können und dann Sprüche geklopft werden, die das Gegenteil bedeuten und bewirken. Zum Beispiel vom heutigen Verteidigungsminister Pistorius, wenn er erklärt, wir müssten „kriegstüchtig“ werden. Oder wenn Angela Merkel nachträglich erklärt, die Minsker Abkommen seien eine Art Hinhaltetaktik gewesen. „Das Minsker Abkommen war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, wie man heute sieht“, sagte Merkel in einem Interview mit der Zeit.

Es ist erstaunlich, dass und wie sich Vertrauen und Misstrauen zwischen Völkern im Zeitablauf verändert haben, genauer müsste man wohl sagen: verändert worden sind. Denn die grundlegende Änderung im Umgang mit Russland zum Beispiel ist ja nicht vom Himmel gefallen, sondern Teil einer gemachten Stimmung und Meinung. Und auch die 1969 entschiedene und verkündete Bereitschaft der westdeutschen Bundesregierung, die sogenannte Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen, war ein bewusster Akt mit dem Ziel, Vertrauen aufzubauen.

Das Vertrauen zwischen West und Ost, das Vertrauen zwischen dem Westen und Russland ist heute wieder weitgehend zerstört. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen. Wir tun gut daran, uns besserer Zeiten zu erinnern und daraus zu lernen. Wenn wir den Frieden erhalten wollen, dann sollten wir Vertrauen neu schaffen, Vertrauen wieder aufbauen. Damit sollten wir 2024 beginnen. Dass die in der Politik verantwortlichen Menschen das begreifen, wäre mein sehnlichster Wunsch für das Neue Jahr.

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