Die ersten israelischen Soldaten verlassen den Gazastreifen – Rückzug, Abzug oder lediglich eine Variante des Krieges?

Die ersten israelischen Soldaten verlassen den Gazastreifen – Rückzug, Abzug oder lediglich eine Variante des Krieges?

Die ersten israelischen Soldaten verlassen den Gazastreifen – Rückzug, Abzug oder lediglich eine Variante des Krieges?

Ein Artikel von Jürgen Hübschen

Am 31. Dezember 2023 sind die ersten israelischen Soldaten aus dem Gazastreifen nach Israel zurückgekehrt. Ob es in absehbarer Zeit weitere Truppenreduzierungen geben wird, bleibt abzuwarten. Jetzt stellt sich erst einmal die Frage, ob es sich bei der aktuellen Reduzierung um einen Abzug oder einen Rückzug handelt und was die Gründe für die Verringerung der israelischen Truppen im Gazastreifen sind. Hat Israel seine Kriegszeile erreicht oder diese aufgegeben, oder handelt es sich lediglich um eine neue Phase dieses Krieges? Ist es ein Signal an die eigene Bevölkerung, dass auch dieser Krieg ein Ende haben wird? Hat die israelische Regierung sich eigenständig zu diesem Schritt entschlossen, oder ist dieser auf Druck der US-Regierung und der zunehmenden weltweiten Kritik an der Art der israelischen Kriegsführung erfolgt, durch die mittlerweile ca. 22.000 Palästinenser, darunter fast die Hälfte Frauen und Kinder, zu Tode gekommen sind. Oder war der Grund die zunehmende Gefahr einer Regionalisierung des Krieges und damit möglicher neuer Fronten für Israel, für die man ebenfalls Soldaten benötigen würde? Der Versuch einer Analyse von Jürgen Hübschen.

Mögliche Gründe für die Verringerung der militärischen Präsenz Israels im Gazastreifen

Mögliche innenpolitische Gründe

Zunächst einmal kann es für die Entscheidung handfeste innenpolitische Gründe geben.

Die evakuierten Menschen

Da ist in erster Linie die Evakuierung von ca. 100.000 israelischen Bürgern aus den Grenzgebieten zum Gazastreifen und zum Libanon zu nennen. Diese Menschen sind in sicherere Regionen Israels gebracht worden und leben dort hauptsächlich in großen Hotelanlagen. Die Kosten dafür trägt die Regierung. Aber neben der finanziellen Belastung des Staates gibt es natürlich auch Probleme mit der Versorgung dieser Menschen, nicht mit Nahrungsmitteln, sondern mit allen anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Die Evakuierten konnten beim Verlassen ihrer Häuser und Wohnungen ja nur das Nötigste mitnehmen, und die Kinder haben ihre Kitas und Schulen verlassen müssen. Die sozialen Spannungen, die sich für die betroffenen Menschen zunehmend ergeben, werden natürlich noch dadurch verschärft, dass viele der Evakuierten Angehörige bei der kämpfenden Truppe haben oder diese zu den Geiseln gehören, die sich immer noch in den Händen der Hamas oder anderer islamistischer Gruppen befinden.

Das Schicksal der israelischen Geiseln

Die Zahlen der noch immer in der Hand der Hamas und anderer islamistischer Organisationen befindlichen Geiseln sind nicht genau bekannt, aber es dürften immer noch zwischen 100 und 110 Personen sein. Niemand weiß, wie es den Geiseln geht, und die Sorgen der Angehörigen wachsen mit jedem weiteren Tag, vor allem, weil wiederholt tote Geiseln gefunden wurden bzw. drei sogar von israelischen Soldaten erschossen wurden.
Dazu kommt, dass viele der freigelassenen Geiseln von Misshandlungen durch Angehörige der Hamas sprechen. Inwieweit diese Aussagen zutreffen, kann man nicht beurteilen.

Die Belastungen der israelischen Wirtschaft

Neben den Kosten für die Kriegsführung geht das israelische „Taub Center for Social Policy Studies“ von einem Rückgang der israelischen Wirtschaft von mehr als zwei Prozent aus, Tendenz steigend. Hauptgrund dafür sind die für den Krieg eingezogenen Reservisten – man spricht von bis zu 350.000 Soldaten –, die ja in Friedenszeiten alle einer zivilen Beschäftigung nachgehen. Diese Arbeitskräfte fehlen jetzt in allen Wirtschaftsbereichen und natürlich auch in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheits- und auch im Bildungswesen.

Die Entwicklungen im Westjordanland und an der israelisch-libanesischen Grenze

Die israelischen Soldaten, die im Gazastreifen gebunden sind, fehlen natürlich für andere Bereiche, in denen die Sicherheitslage ausgesprochen instabil ist. Das gilt einmal für das Westjordanland, in dem die Siedler ganz offensichtlich – quasi im Windschatten des Gaza-Krieges – immer mehr Gewalttaten gegenüber den Palästinensern begehen, und zwar vielfach unter den Augen israelischer Milizen. Aber zum Zweiten trifft es ganz besonders auf das Gebiet südlich der israelisch-libanesischen Grenze zu, also für den Norden Israels. Dort wird die militärische Lage von Tag zu Tag brisanter, sodass man schon fast von einer zweiten Front sprechen kann. Entscheidend hat zur Verschärfung der Lage der Tod des stellvertretenden Führers der Hamas im Libanon, Saleh al-Arouri, beigetragen. Nach bislang vorliegenden Hinweisen wurde er in Beirut mit Hilfe einer israelischen Drohne liquidiert. Mit ihm starben nach Aussage des libanesischen Chefs der Hamas, Ismail Haniyeh, sieben weitere Angehörige der Hamas.

Das Urteil des israelischen Supreme Court

Last, but not least hat auch das aktuelle Urteil des obersten israelischen Gerichts die innenpolitische Lage des Landes verändert und auch die Regierung Netanjahus erheblich geschwächt. Das Gericht hatte mit 8:7 Stimmen ein Gesetz, das die Position der Justiz entscheidend geschwächt hätte, abgelehnt, obwohl das israelische Parlament diesem im Juli zugestimmt hatte. In Israel hatte es monatelang massive Proteste gegen dieses Gesetz gegeben, die nur wegen des Überfalls der Hamas vom 7. Oktober aufgehört hatten. Auch viele Reservisten hatten sich an diesen Demonstrationen beteiligt und angekündigt, nicht mehr für den Dienst in den Streitkräften zur Verfügung zu stehen, falls die Regierung Netanjahus nicht von diesem Gesetz Abstand nehmen würde. Wegen des Krieges hatten sie sich dann doch für die Verteidigung ihres Vaterlandes zur Verfügung gestellt, was aber an ihrer Grundhaltung gegenüber der Regierung nichts geändert haben dürfte.

Mögliche außenpolitische Gründe

Die Haltung der US-Regierung

In einem sehr intensiven Telefongespräch hatte US-Präsident Biden den israelischen Premierminister in den Weihnachtstagen noch einmal dringend aufgefordert, seine Strategie zur Eliminierung der Hamas zu ändern. Biden hatte Netanjahu letztlich sogar davor gewarnt, eine Kriegsführung fortzusetzen, bei der immer mehr Zivilisten zu Tode kommen. Er wird dem Premier sicherlich auch klargemacht haben, dass sein Krieg sofort beendet sein würde, falls die USA ihre militärische Unterstützung einstellten. Bislang hatte Netanjahu diese amerikanischen Mahnungen und Warnungen in den Wind geschlagen, aber musste mittlerweile wohl einsehen, dass er ohne US-Unterstützung langfristig in einem Krieg scheitern würde, in dem es ihm nicht zuletzt um das eigene politische Überleben geht.

Vielleicht hat das Treffen seines wichtigsten Beraters Ron Dermer mit dem US-Außenminister Tony Blinken und dem Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jake Sullivan am 26. Dezember 2023 im Weißen Haus zu einem Meinungsumschwung Netanjahus geführt. In diesem Gespräch war Israel noch einmal nachdrücklich aufgefordert worden, statt des bislang üblichen Bombardements der Infrastruktur im Gazastreifen konkrete Operationen gegen die Kämpfer der Hamas durchzuführen, auch auf die Gefahr hin, größere eigene Verluste in Kauf zu nehmen. Wörtlich hieße es seitens des Weißen Hauses „maximize focus on high-value Hamas targets.“

Zunehmende Gefahr einer Regionalisierung des Krieges

Eine weitere Sorge der USA und wohl auch Israels ist mit Sicherheit eine mögliche Ausweitung des Krieges. Dabei sieht Washington nicht nur die Entwicklung an der israelisch-libanesischen Grenze, sondern auch z.B. die Liquidierung eines Hamas-Führers im Ausland, wie jetzt ganz konkret in Beirut. Es muss in diesem Zusammenhang bezweifelt werden, ob Israel diese Operation vorher mit den USA abgestimmt hat. Washington ist nämlich sehr bemüht, dass es nicht zu einer direkten Konfrontation mit dem Iran kommt, dem stärksten Verbündeten der Hisbollah im Libanon. Weitere Sorgen bereiten Washington sicherlich auch israelische Luftangriffe gegen Ziele in Syrien, und zwar nicht nur auf die Flughäfen von Damaskus und Aleppo, sondern auch gegen iranische Milizen in Syrien.

Die USA mussten zur Kenntnis nehmen, dass sie als engster Verbündeter Israels selbst ins Fadenkreuz arabischer und iranischer Milizen geraten. Es gab Anschläge gegen US-Einrichtungen in Syrien und vermehrt im Irak. Auch die Raketenangriffe der Huthis auf Ziele in Israel und zunehmend gegen die internationale Schifffahrt im Bereich des Roten Meeres verwickeln die USA immer mehr in den Nahostkrieg. Amerikanische Kriegsschiffe haben aktuell drei Boote der Huthis, mit denen ein Containerschiff angegriffen werden sollte, versenkt und die jemenitischen Kämpfer getötet. Mittlerweile gibt es sogar Überlegungen der USA und Großbritanniens, Einrichtungen der Huthis im Jemen direkt anzugreifen. In all diesen Szenarien spielt der Iran im Hintergrund eine wichtige Rolle, und das macht die amerikanischen Operationen besonders brisant.

Auch die Rolle der Türkei muss im Auge behalten werden, schließlich hat sich Präsident Erdogan ohne Wenn und Aber auf die Seite der Hamas gestellt und die eigene Bevölkerung massiv gegen Israel demonstrieren lassen. Insgesamt besteht die Gefahr, dass die Regierungen der arabischen Staaten durch die eigene Bevölkerung, die sich mit den Palästinensern solidarisiert, so unter Druck geraten, dass sie praktisch zu Maßnahmen oder sogar militärischen Operationen gegen Israel gezwungen werden könnten, um die eigene Macht nicht zu gefährden.

Weltweite Kritik an der israelischen Kriegsführung

Ein weiterer Grund für die Verringerung der militärischen Präsenz Israels im Gazastreifen könnte die weltweite Kritik an Israels Kriegsführung sein. Niemand auf der Welt akzeptiert, was Israel mit der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen macht. Das Recht auf Selbstverteidigung, das niemand Israel nach dem Überfall der Hamas abspricht, rechtfertigt aber nicht den Tod von 22.000 Palästinensern und noch viel mehr verwundeten und traumatisierten Zivilisten, nicht zu vergessen die Vertreibung von fast zwei Millionen Menschen innerhalb des Gazastreifens und die weitgehend zerstörte zivile Infrastruktur in diesem Küstenstreifen.

Allen Bewohnern des Gazastreifens werden aufgrund der israelischen Angriffe die menschlichen Grundbedürfnisse verweigert, und es gibt für niemanden dieser leidenden Menschen irgendeine Zukunftsperspektive – und das alles geschieht vor den Augen der Weltbevölkerung. Unmittelbar nach dem 7.Oktober waren die Sympathien und das Mitgefühl der meisten Menschen auf der Seite Israels, aber das hat sich seit Wochen in das Gegenteil verkehrt.
Vielleicht hat die Regierung Netanjahus doch endlich eingesehen, dass man einen Kampf gegen die Weltmeinung nicht gewinnen kann und endlich irgendein Signal erforderlich ist, dass man diese nicht weiter völlig ignorieren wird.

Die ersten israelischen Soldaten verlassen den Gazastreifen – Rückzug oder Abzug?

Die genauen Gründe für die israelische Truppenreduzierung im Gazastreifen sind nicht bekannt. Möglicherweise handelt es sich sozusagen um eine Mischung aus den dargestellten Begründungen. Handelt es sich also jetzt um einen Abzug oder einen Rückzug? Ein Abzug würde bedeuten, dass die israelische Regierung der Meinung ist, man brauche nicht mehr so viele Soldaten im Gazastreifen. Ein Rückzug dagegen wäre das Zugeständnis oder zumindest ein Hinweis, dass man seine Ziele im Kampf gegen die Hamas nicht erreichen könne, die eigenen Verluste zu hoch würden oder die Soldaten in einem anderen Bereich dringender benötigt würden.

Der ehemalige israelische Brigadegeneral Yossi Kuperwasser ordnet die Maßnahme in Bezug auf den Norden des Gazastreifens als einen Abzug ein, indem er sagt: „We can dilute our forces there, because we´ve taken control. To hold on, you need fewer than it took to take over.” (Wir können dort unsere Truppen ausdünnen, weil wir den Raum kontrollieren. Um etwas zu halten, braucht man weniger Soldaten als es zu erobern.) Mick Mulroy, ein ehemaliger Pentagon-Experte für den Mittleren Osten, bewertete die Verringerung der israelischen Militärpräsenz im Gazastreifen mit den Worten: „The troop withdrawal does not mean that the war is close to conclusion,“ but it could mean „a lower intensity phase for the near future.“ („Ein Truppenrückzug heißt nicht, dass der Krieg kurz vor dem Ende ist“, aber er könnte bedeuten, „dass es in der nahen Zukunft eine weniger intensive Phase gibt.“ Der israelische Militärsprecher, Rear Admiral Daniel Hagar, betonte ausdrücklich, dass die Demobilisierung einiger Soldaten kein Hinweis dafür wäre für „any compromise of Israel´s intention to continue fighting until it destroys Hamas, and the fighting across Gaza remained intense.“ (auf irgendeinen Kompromiss hinsichtlich Israels Absicht, den Kampf fortzusetzen bis die Hamas zerstört ist.“ Und er fügte hinzu, dass dieser Krieg noch für das ganze Jahr andaure („He expected warfare throughout this year.“) und dass es durchaus sein könne, dass einige Reservisten in 2024 noch einmal eingezogen würden. („that some troops would be called back to service in 2024.”)

Zusammenfassende Bewertung

Aus meiner Sicht handelt es sich bei der Truppenreduzierung im Norden des Gazastreifens um eine Mischung aus einem Abzug und einem Teilrückzug. Dieser erste Abzug erfolgt nämlich nicht wirklich freiwillig und ist auch nicht darin begründet, dass die Truppen nicht mehr gebraucht würden. Das Gegenteil könnte nämlich sehr schnell der Fall sein, weil die Hamas militärisch noch nicht annähernd besiegt ist. Nein, dieser Abzug ist in der Hauptsache sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch ein dringend notwendiges Signal.

Der eigenen Bevölkerung will man demonstrieren, dass man militärisch im Kampf gegen die Hamas so erfolgreich war, dass bereits die ersten Reservisten entlassen werden können. Dass diese Männer und Frauen zu Hause z.B. dringend auf ihren zivilen Arbeitsplätzen gebraucht werden, muss man ja nicht ausdrücklich erwähnen… Man wird dieses erste Signal der „Normalisierung“ vermutlich dadurch noch verstärken, dass die ersten evakuierten israelischen Bürger in die Grenzregion zum Gazastreifen zurückkehren können, wie es der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant am Abend des 1. Januar 2024 bereits angedeutet hat. Ob das auf Dauer allerdings so bleiben kann, muss sich erst einmal zeigen.

Außenpolitisch handelt es sich um den – wie ich fürchte untauglichen – Versuch, der Welt klarzumachen, dass ein Ende des Krieges und damit die angestrebte Vernichtung der Hamas möglich sei, obwohl davon noch nicht einmal in Ansätzen die Rede sein kann. Aktuell bleibt jetzt erst einmal abzuwarten, ob der in Kürze zu erwartende Besuch von US-Außenminister Blinken in Israel die Gesamtsituation entscheidend verändert.

Dafür müsste es aus meiner Sicht einen sofortigen Waffenstillstand und im Gegenzug die Freilassung aller israelischen Geiseln geben. Parallel dazu müssten massive Hilfslieferungen für die palästinensische Bevölkerung auf den Weg gebracht werden, um eine konkret drohende Hungernot noch abzuwenden. Ohne großen Zeitverzug müssten unter Vermittlung der Vereinten Nationen konkrete Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern beginnen, begleitet vom schrittweisen Abzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen, die durch eine arabische Friedenstruppe ersetzt würden.

Bis jetzt ist die israelische Truppenreduzierung nicht mehr als eine neue Phase oder Variante des Krieges, in dem wie immer die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten den Preis bezahlt.

Titelbild: Melnikov Dmitriy/shutterstock.com

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