Ramon Schack im Gespräch: „Welche Werte sind es denn, auf denen unsere Politik angeblich basiert?“

Ramon Schack im Gespräch: „Welche Werte sind es denn, auf denen unsere Politik angeblich basiert?“

Ramon Schack im Gespräch: „Welche Werte sind es denn, auf denen unsere Politik angeblich basiert?“

Ein Artikel von Michael Holmes

Ein Interview mit Ramon Schack, freier Journalist, Beiträge für die Neue Zürcher Zeitung, die Süddeutsche, die Welt, die Berliner Zeitung, ehemaliger Redakteur beim Neuen Deutschland, Moderator des Videopodcasts Impulsiv TV. In diesem Interview spricht er über die aktuelle Weltlage, Rechtspopulismus, Wokeness, die Ampel-Regierung und sein neues Buch „Das Zeitalter der Idiotie – Wie Europa seine Zukunft verspielt“, das fesselnde Reiseberichte aus allen Weltregionen enthält. Schack zeichnet nuancenreiche Portraits von Ländern wie Äthiopien, Irak, Kasachstan, Ecuador und Malaysia. Auch seine Reisen durch Deutschland zeigen sein feines Gespür für erhellende Details. Das Gespräch führte Michael Holmes.

Michael Holmes: Ramon, Dein Buch hat mir Spaß gemacht. Es ist mit Leichtigkeit geschrieben. Du schreibst viel über den Alltag. Du sprichst sehr offen mit Menschen aus allen Schichten, den Armen, den Reichen, der Mittelklasse. Um Dir ein gutes Bild zu verschaffen, versuchst Du, die Kultur und wirtschaftliche Lage der Menschen zu erfassen und das dann mit der Politik im Land und der größeren Geopolitik zu verbinden. Du hast starke Meinungen, hältst Dich aber zurück, weil Du die Menschen selbst sprechen lassen willst. Es ist schwer, einen gemeinsamen Nenner in diesen Reiseberichten zu finden, weil Du Dich von großen Ideologien fernhältst. Aber überall, wo Du hingereist bist, hat sich der Westen in jüngster Zeit und in der modernen Geschichte eingemischt – die USA oder Europa – und meist nicht zum Besten der Menschen. Du zeigst ein Land USA und ein Europa, deren Außenpolitik geprägt ist von Arroganz, Heuchelei ohne Grenzen und einer – trotz des ideologischen Eifers – gnadenlosen, brutalen, egoistischen Machtpolitik. Gaza hast Du zwar nicht bereist, aber ich halte die westliche Unterstützung für Israel für den Kulminationspunkt des Zeitalters der Ideologie. Du warst im Iran, Irak und in Ägypten für Dein Buch. Befürchtest Du, dass sich dieser Krieg auf die Region ausbreitet, auf den Libanon, den Iran oder Syrien?

Ramon Schack: Michael, die Gefahr der Ausbreitung dieses Krieges besteht auf jeden Fall, das ist ja schon im Gange. Die Israelis bombardieren regelmäßig Syrien und Libanon, schon seit Jahren. Der Versuch, den iranischen Einfluss in diesen Ländern mit Luftschlägen zurückzudrängen – wie es die Israelis erklären –, geht schon seit Jahren voran. Durch diesen schrecklichen Ausbruch des Krieges in Gaza, den wir seit dem 7. Oktober erleben – nach dem schrecklichen Anschlag – scheint sich die israelische Militärstrategie auf einen Mehrfronten-Krieg einzurichten. Wenn man sich einmal kurz militärstrategisch die Geografie in Erinnerung ruft: Israels Schwäche ist die Knappheit des Raumes, gerade im Zeitalter der Raketenangriffe. Israel ist an seiner sogenannten Wespentaille nur etwa 25 Kilometer breit. Wir haben auch die Bedrohung durch Raketen aus dem Norden, vor allem aus dem Libanon durch die Hisbollah.

Die Hisbollah ist ein anderer Gegner als die Hamas, das hat sich schon im Krieg 2016 gezeigt. Das ist auch der israelischen Armeeführung bekannt. Deshalb scheint man auch zu zögern. Netanjahu warnte schon 1999 in einer Rede vor der UN vor der atomaren Bewaffnung des Iran, es sei fünf vor zwölf. Seitdem wird dieses Schreckgespenst von Israel, den USA und Europa instrumentalisiert. Der Iran – so die Theorie – würde sofort einen nuklearen Angriff auf Israel starten. Bis heute hat diese atomare Bewaffnung nicht stattgefunden, wobei man es nicht ausschließen sollte: Allein als Rückversicherung, um nicht angegriffen zu werden, könnte der Iran – wie auch Nordkorea – eine Bombe bauen. Israel und auch die Amerikaner haben sich ja in den letzten 20 Jahren nie gescheut, verfeindete Staaten anzugreifen. Beim Iran ist das aus guten Gründen bislang nicht passiert. Der Iran ist aufgrund seiner Geografie, seiner Sozialstruktur, seiner Geschichte und seiner militärischen Kompetenz ein anderer Gegner als etwa der Irak oder Afghanistan – und selbst da hat das ja nicht geklappt, langfristige militärische Erfolge zu erzielen.

George Bush fantasierte damals von den Leuchttürmen der Demokratie, die angeblich im Irak entstehen sollten. Der iranische Einfluss konnte sich ausbreiten, dadurch, dass die schlimmsten ideologischen Gegner des Irans, nämlich das national-arabische Baath-Regime von Saddam Hussein, gestürzt wurden, sodass die schiitische Mehrheitsbevölkerung politisch zum Durchbruch kam. Seitdem ist der Irak ein enger Verbündeter des Iran. So konnte der Iran seinen Einfluss erstmal richtig ausbreiten bis hin zum Libanon. Dadurch ist für Israel ein Alptraumszenario entstanden. Der Versuch, das Regime von Assad in Syrien zu beseitigen, ist ja kläglich gescheitert, endete in einem Blutbad. So ist der „schiitische Gürtel“ intakt. Wobei Assad kein Schiit, sondern Alawit ist. Aber das Regime kooperiert mit den Schiiten, weil der gemeinsame Gegner der sunnitische Fundamentalismus wie der des IS ist. Der Iran als Epizentrum des politischen Shia-Islams hat etwa 90 Millionen Einwohner und ist der größte Staat der Region. Den Iran zu erobern – wie man es mit dem Irak tun konnte –, ist aus geografischen, demografischen und militärischen Gründen nicht so leicht möglich.

Du hast Russland und Kasachstan bereist. Was müssen die Menschen im Westen verstehen daran, wie Russland die Weltlage sieht, wie Russland die Ukraine sieht? Was verstehen wir nicht an Russland in Deinen Augen?

Wir müssen darauf hinweisen, dass die Reisen nicht alle zur gleichen Zeit stattfanden, sodass das Buch nicht immer eine aktuelle geopolitische Reflexion bietet. Aber es geht darüber hinaus, in den Alltag und die Geschichte. Zu Russland: Als Annalena Baerbock noch letztes Jahr verkündete, die Sanktionen würden Russland ruinieren, hat sie anscheinend nur an den europäischen Teil Russlands gedacht – ein Fehler, den auch Napoleon machte. Sie hat vergessen, dass Russland auch ein riesiges asiatisches Land mit ganz eigenen Wurzeln ist. Was im westlichen Denken nicht vorkommt, sind etwa die kulturellen und religiösen Wurzeln in Russland und in der Ukraine. Unter Selenskyj versucht die Ukraine, sich von der russischen orthodoxen Kirche zu lösen. Aber das zeigt ja, dass das eine große Rolle spielt.

Für Putin war seine Amtszeit wohl auch ein Transformationsprozess. Er war ja ein Kind der Sowjetunion. Aber in seiner Rede zum Einmarsch in die Ukraine hat er auch mit den Ikonen der Sowjetunion abgerechnet. Als ich 2014 Russland bereiste, fiel mir auf, wie der Wiederaufbau orthodoxer Kirchen mit einer Sowjet-Nostalgie einherging. Inzwischen scheint man etwas Neues entstehen zu lassen, aber mit slawischen Wurzeln. Putin gilt vielen orthodoxen Menschen als Schutzherr der Orthodoxie. Bei uns im Westen wird von feministischer oder einer werteorientierten Außenpolitik schwadroniert. Das sind Worthülsen, die nicht weiter definiert werden. Denn man könnte ja die Frage stellen: Welche Werte sind das denn, auf denen unsere Politik angeblich basiert? Das Problem der Ampel-Regierung war, dass sie keine eigenen geopolitischen Konzepte hatte, sondern willfährig den Vorgaben Washingtons folgte. Die Gefährdung Europas zieht sich wie ein roter Faden durch mein Buch. Ich versuche, von Asien, von Afrika, von Lateinamerika und Ozeanien aus meinen Blick auf Europa zu werfen und den Niedergang Europas in der weltweiten politischen Bedeutung zu reflektieren.

Was Du jetzt gesagt hast, klingt fast so, als ließen sich diese Länder nicht verändern, sie waren seit Jahrhunderten so. Das ist nicht Deine These. Ich verstehe Dich so, dass sich viele große, alte Zivilisationen – wie auch der Iran und China – vom Westen respektlos and aggressiv behandelt fühlen, gedemütigt und beleidigt. Wir sind immer mehr in einer Weltlage, in der sie sich das nicht mehr gefallen lassen müssen. Jetzt stehen wir vor der Entscheidungsfrage: Können wir uns arrangieren und Kompromisse machen? Können wir zuhören oder nur Lektionen erteilen? Die Alternative ist Krieg, Wirtschaftssanktionen, mehr Krieg, mehr Sanktionen – im Nahen Osten, mit Russland, mit China. Am Ende könnten in verschiedenen Weltregionen Konflikte zu einem Weltkrieg eskalieren.

In den frühen 1990er-Jahren fiel das Narrativ von Fukuyamas Buch vom Ende der Geschichte auf fruchtbaren Boden, also der Glaube, dass der Weg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion frei ist für eine Welt, die nur noch westlichen, meistens amerikanischen Demokratievorstellungen und vor allem wirtschaftlichen Vorstellungen entspricht, die früher oder später autokratische Systeme wie Dominosteine kippen wird. Interessanterweise haben diese Theoretiker die Vision des Marxismus übernommen, der ja auch glaubte, ans Ende der Geschichte zu gelangen und der ja gerade gescheitert war. Diese Erwartung des Westens wurde bitter enttäuscht, da das Drehbuch nicht funktionierte. Nicht nur, dass diese Entwicklung zum Stillstand kam, sie entwickelte sich sogar zurück.

Der phänomenale Aufstieg der Volksrepublik China von einem Land der Dritten Welt, das es noch in den ersten Jahren nach dem Tod von Mao war, legt unter Deng Xiaoping die schöpferische und geschäftstüchtige Ader der Chinesen explosionsartig frei – sukzessive, nicht in einer Schocktherapie. Lange dachte man im Westen: Na ja, die öffnen sich ein bisschen, mal gucken. Die ‚Amerikanisierung‘ der Welt – wie die Globalisierung fälschlicherweise genannt wurde – führte auch zur Sinisierung – zur Übernahme von chinesischen Sitten und Begrifflichkeiten, nicht unbedingt im Westen, aber natürlich in vielen Teilen der Welt.

Von dieser Entwicklung wurde ich Zeuge. Auf meinen Reisen habe ich den Einfluss der Volksrepublik überall vernommen. Dicht gefolgt von dem Prozess, der jetzt im Gange ist, der indische Aufstieg, der meiner Meinung nach noch einen stockenden Motor darstellt, aber auch langsam auf die Fahrbahn kommt. Indien hat ein paar strukturelle Probleme zu lösen, von der Infrastruktur angefangen. Aber ich glaube, Indien ist dann auch ziemlich auf der Überholspur. Ich habe im Hotel in Sri Lanka viele neureiche Inder getroffen.

Ich war doch sehr erstaunt, da das Indien, das ich aus den 90er-Jahren kannte, eine höchstens sehr schmale Schicht von privilegierten Eliten hatte. Jetzt merkst Du schon, dass doch dieser Aufstieg von einigen Hundert Millionen Menschen aus der Armut in den Mittelstand von einigen Millionen Menschen im größten Land der Welt gewaltige Auswirkungen hat.

Wenn wir jetzt so stark die Ukraine unterstützen, muss man das auch zu Ende denken. Bis vor Kurzem war es die Forderung nach Leopard-Panzern. Das haute nicht hin. Ukrainische Soldaten verbrennen in Leopard-Panzern. Jetzt kommen die nächsten, immer stärkeren Waffen. Wenn jetzt immer mehr Öl ins Feuer gegossen wird, muss ja Russland irgendwann anders reagieren, als wir uns das vorstellen. Wenn jetzt Langstreckenwaffen gefordert werden, die bis weit ins russische Land schießen. Was erwarten die Leute, wie Russland reagiert in diesem Wahn?

Was mich wirklich wundert, ist, dass der Wahlbetrug der Grünen – vom Wahlkampfslogan: ‚Keine Waffen in Kriegsgebiete!‘ zur gefühlten Waffenlobby Nummer eins – so wenig Widerspruch an der Basis hervorruft, zumindest wird der nicht deutlich. Die Grünen waren mal bekannt für lebendige Debatten. Man muss doch die Frage stellen: Wie weit wollen wir gehen? Wenn die Ukraine Atomwaffen will, schicken wir dann Atomwaffen?

Inzwischen hat sogar auch ein ukrainischer Verhandlungsführer darauf hingewiesen, dass man sehr nah war an einem Friedensabkommen zu Beginn des Krieges. Alle Informationen, die wir haben, von allen Zeugen – und das sind viele, sehr ernst zu nehmende Zeugen –, deuten darauf hin, dass wir ein Friedensabkommen mit Russland hätten haben können, in dem die Ukraine neutral gewesen wäre – wogegen nichts spricht, solange sich auch alle daran gehalten hätten. Man hätte das Minsk-Abkommen grob durchsetzen müssen – das heißt: Die russischsprachigen Minderheiten, die sich unterdrückt fühlen, hätten gleiche Rechte bekommen. Wie schlimm diese Unterdrückung ist, ist schwer einzuschätzen. Es wird ja auch wenig darüber berichtet. Aber was sollte dagegensprechen? Dann hätte Russland die territoriale Integrität der Ukraine respektiert – mit einer sehr wichtigen Ausnahme: Die Krim wäre bei Russland geblieben. Darüber kann man sich empören! Aber wenn man das vergleicht mit dem, was wir heute haben, nämlich Zehntausende von toten Ukrainern, ein viel größeres Staatsgebiet abgetreten, keine Neutralität, keine Sicherheit, nichts. Wofür das alles? Der Großteil der Friedensbewegung hat nie was anderes gesagt.

Die Strategie von Baerbock geht ja auf Kosten der Ukraine. Die Ukraine wird den Krieg nicht gewinnen – was immer man sich unter Gewinnen vorstellt –, sondern im besten Fall konsolidieren, was sie noch hat. Eigentlich müsste man jeden Tag versuchen, das zu beenden. Das wird vielleicht auch in der Ukraine teilweise anders gesehen. Man bekommt ja wenig mit über die Stimmung in der Ukraine. Ganz so einhellig wie das Bild im Westen: ‚Das ukrainische Volk wehrt sich gegen die Tyrannen!‘ – in unserem Auftrag –, ganz so einfach scheint es nicht zu sein, wenn man merkt, wie schwer es doch ist, Soldaten zu bekommen. Es befinden sich doch sehr viele Männer im wehrfähigen Alter im westlichen Ausland.

Du hast Deutschland bereist – besonders Ostdeutschland, aufs Land, in kleine Dörfer. Du hast Menschen zugehört. Unsere Eliten sagen immer, dass sie das mehr tun müssen, aber sie tun es viel zu selten. Du warst auch in Trumpland in den USA und hast Trump-Supportern zugehört. Was sind Deiner Einschätzung nach die wichtigsten Gründe für die Erfolge der AfD in Deutschland und von Trump in den USA?

Man muss aufpassen, dass man nicht alles in einen Topf schmeißt. Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten, die damals in Diskussionen und öffentlichen Foren für einige Monate für völlig undenkbar gehalten wurde, zeigte natürlich, dass es im Westen Gesellschaften gibt, die man gar nicht kennt. Die politischen Eliten, die medialen Eliten, akademische Zirkel, Menschen, die in Lebensstilenklaven leben, die lange den Takt vorgegeben haben in TV-Shows und so weiter, deren kulturelle Hegemonie wurde von der modernen technologischen Entwicklung zunehmend hinterfragt – durch Informationen, die sich via Smartphones blitzschnell verbreiten. Wer konnte schon vor 25 Jahren eigene Podcasts machen? So verlieren die Leitmedien an Einfluss, und sie reagieren so, dass sie sich der politischen Klasse nähern, was ja ursprünglich nicht ihre Aufgabe war, sondern diese kritisch zu hinterfragen.

Bei der Pressekonferenz zur neuen Partei von Sahra Wagenknecht sah man, wie die Journalisten versuchten, das irgendwie einzuordnen. Aber man merkte schon, dass sie das eigentlich kritisch fanden, dass jemand kommt und das alte Parteienkartell neu herausfordert. Das ist das alte Missverständnis, Demokratie bestehe aus den Parteien, die es schon gibt, plus der Medien, und das ist jetzt der Raum, in dem man sich bewegen darf. Aber dadurch werden die Begriffe entwertet. Wenn alles rechts ist – vom Bauernprotest, Israel-Kritik bis zur Kritik an Scholz oder Baerbock –, dann sagen die Leute irgendwann: Dann ist das halt rechts.

Die etablierten Parteien überlegen sich aber nur Strategien, wie sie trotzdem an der Macht bleiben können und den Aufstieg von anderen Parteien verhindern – durch eine Brandmauer und große Koalitionen von CDU bis Grün. Aber das wird so nicht funktionieren. Der sogenannte Rechtspopulismus setzt sich aus vielen Faktoren zusammen. Zum einen aus der großen Wut, die auch in den USA viele Menschen erfasst hat, auch da außerhalb der Regionen, die viele Amerikaner kennen, nämlich die Ost- und Westküsten. Die Massen im sogenannten „Rust Belt“ – Rostgürtel –, der in den „Bible Belt“ – den Bibelgürtel – übergeht, sind auch vielen Amerikanern nicht bekannt. Man merkt das Unverständnis heraus, auch teilweise soziale Diskriminierung. So spricht man vom „White Trash“ – weißen Abfall. Ich habe deshalb die Staaten Iowa und Michigan besucht, wo noch in den 50ern das Herz der Weltwirtschaft schlug, der Autoindustrie, wo die großen Industrieanlagen einfach aufgegeben wurden und verfallen, die demografisch geschrumpft sind, wo man aber auch eine große Trauer und einen Niedergang in den Menschen sieht. Ich hatte dort bei der Begegnung mit den Menschen aus allen sozialen Schichten doch den Eindruck, dass die Gefühlslage zwischen Nostalgie und Wut schwankte.

Auch bei uns im Osten erlebt man oft eine Grundverletzung. Ich hätte nicht erwartet, dass das Thema Ost-West auch im Jahr 2024 immer noch so eine Rolle spielt. Ich denke, die Erfolge der AfD im Osten sind sowas wie ein Stachel im politischen System wie die Erfolge der PDS in den 90ern. Die PDS ist eine hippe gesamtdeutsche Partei geworden.

Wenn die AfD eine Landesregierung bilden sollte, wird sie viele Ideologien über Bord werfen müssen. Bis jetzt hat die AfD noch keine Verantwortung übernehmen müssen. Aber natürlich verschiebt sie den Diskurs nach rechts.

Ich bin ein Wessi aus Heidelberg. Ich bin auch US-Amerikaner. Ich wohne jetzt hier in Potsdam, also im Osten. Wenn ich mit meinen Nachbarn spreche und mit Kollegen, sage ich auch ganz offen, ich komme aus dem Westen, und meine Erfahrung ist: Wenn ich zuhöre, wird mir auch zugehört. Ich bin ein Linker und mag die AfD überhaupt nicht – und ich sage das auch ganz offen so – und ich habe schon oft erlebt, dass Menschen im Osten ganz interessiert zuhören, offenherzig und tolerant sind. Es geht um wechselseitigen Respekt und ein gewisses Verständnis. Ich versuche immer zu verstehen, warum Menschen bestimmte Meinungen haben, darunter auch solche, die mir gar nicht gefallen und die ich manchmal sogar für rassistisch halte.

Du hast völlig recht. Ich habe auch Sachen gehört, da kriegst du ‘ne Gänsehaut. Ich frage dann nochmal nach: Wie meinst du das jetzt? Zum Thema Zuwanderung oder zum Thema soziale Sicherheit haben ja Menschen Ängste, und wenn man Ängste nicht artikulieren darf, wachsen sie sich ja auch in Aggressionen aus. Nicht jeder Mensch ist ein Wortakrobat, der Sozialwissenschaften studiert hat. Diese Entwicklung, das jetzt ständig neue Begrifflichkeiten erfunden werden, meist in akademischen Milieus, die weder Migrationshintergrund noch abweichendes Sexualverhalten haben, die dauernd Begrifflichkeiten kleben, wer zu welcher Gruppe gehört, was ja eigentlich im Gegensatz zur Individualisierung steht. So ist auch das Fremdeln breiter Bevölkerungsschichten zu verstehen, die nicht studiert haben und die im Alltag ihre Familien durchbringen müssen als LKW-Fahrer oder Kassiererin und die nicht darüber nachdenken, ob sie jetzt Gender-Sternchen benutzen. Man versucht, die immer diverser werdende Gesellschaft mit Oberbegriffen zu erfassen. Ich merke, dass diese Kluft immer größer wird. Wir entwickeln uns hin zu einem autoritären Liberalismus. Es ist für die herrschenden Kreise bequem, dass jeder einer anderen Gruppe angehört – LGBT hier, Migranten da –, dass es keine gemeinsamen Interessen, sondern nur noch Partikularinteressen gibt, dass die soziale Absicherung auseinanderfällt, dass sich jeder um die eigene Achse dreht.

Du sprichst vom autoritären Liberalismus. Wir haben auch einen Extremismus der Mitte. Unsere Eliten bauen ständig ein manichäisches Weltbild nach dem anderen auf. Manichäismus – das absolut Gute gegen das absolut Böse –, das machen wir in der Außenpolitik so. Russland und China sind absolut böse. Es gibt keine Nuancen. Wir müssen nicht verstehen, was sie sagen, wie sie die Welt sehen. Wir können nichts von anderen lernen. Wir können keine Kompromisse schließen. Putin ist Hitler. Dabei haben Experten mit Zahlen darauf hingewiesen, dass der Krieg in Gaza deutlich brutaler ist als der Krieg gegen die Ukraine.

Die Tragik ist, dass das Blutvergießen in Gaza auch ein Ausdruck der Verzweiflung ist. Man hat keine militärische Strategie. Dieses Vorgehen ist auch sehr gefährlich für Israel. Man versucht jetzt mit einem Auge um Auge, Zahn um Zahn – plus zehn! –, den Blutrausch der Hamas in Gaza genauso zu machen. Dadurch sät man natürlich neuen Hass.

Ich habe das Gefühl, dass Deutschland ein sehr gutes Beispiel ist – vor allem die grüne Partei – für alles, was falsch ist mit einer Linken weltweit, die keine Linke mehr ist. Ich bin in einer linken Aktivisten-Familie aufgewachsen, wo man Nicaragua unterstützte, die Sandinista und den Anti-Apartheid-Kampf und so weiter. Für uns war links in erster Linie, für schwache Nationen gegen Imperialismus einzutreten, und natürlich gegen Ungleichheit, für eine gerechte Wirtschaftsordnung, weltweit und zu Hause, für die Arbeiterklasse und für die Armen der Welt. Wir haben oft den Fehler gemacht, dass wir die Demokratie und Meinungsfreiheit nicht ernst genug genommen haben, und auch LGBT-Rechte waren für uns ein Nebenthema – wir waren für Schwulenrechte und den Feminismus, aber haben das etwas abgetan.

Die neue Linke macht fast den gegenteiligen Fehler. Sie sagt immer, dass sie für Demokratie und Meinungsfreiheit eintritt, tut es aber immer weniger, verstrickt sich also in Widersprüche. Sie ist sehr für LGBT-Rechte und den Feminismus, aber oft auf eine seltsame, fanatische Art und Weise, die viele Menschen abstößt und mehr Gegner schafft, gerade auch für diese Bewegungen. Was wir mehr bräuchten, wäre eine gesunde Synthese aus beiden Linken. Ich bin zutiefst überzeugt, in vielen Ländern wäre das ein totaler Winner – Parteien, die vor allem die Grundsätze der alten Linken zurückholen – nicht die Sowjetunion, aber den Anti-Imperialismus – und das sollte kein Schimpfwort sein, denn es geht um die Souveränität von Ländern, es geht darum, schwache Länder gegen eine zynische, brutale Großmachtpolitik zu verteidigen. Es geht darum, Menschen in aller Welt, die als Menschen zweiter Klasse behandelt werden – zum Beispiel die Palästinenser –, zu verteidigen und im eigenen Land die Arbeiterklasse und ganz normale Menschen. LGBT-Rechte und der Feminismus sollten wichtig bleiben, Demokratie und Meinungsfreiheit sowieso. Aber mit so einer Verbindung könnte man meiner Ansicht nach in den USA Erfolge erzielen, in Deutschland und auch in ärmeren Ländern wie Mexiko oder Indien.

Es gibt eine Sehnsucht nach einer Politik, die gegen Ungleichheit und Imperialismus ernst macht und für Frieden einsteht. Stattdessen stoßen die Linken Menschen ab mit bescheuerten Diskussionen darum, ob es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Und wer irgendwie anderer Meinung ist, der ist ein schlechter Mensch, mit dem kann man nicht mehr sprechen, da muss man Freundschaften aufkündigen. Es ist eine Tragödie!

Es ist quasi religiös geworden – ein bisschen wie im Mittelalter –, die theologischen Debatten: Wer ist ein Ketzer? Der hat die Texte falsch interpretiert. Was heute als links gilt! Man ist ein Abweichler, ein Ketzer. Die Linke im Westen ist natürlich auch vom Zeitgeist gekapert worden. Wichtig war auch der Reimport der Frankfurter Schule von den USA in die westlichen Hörsäle. Die Identity-Politics und so weiter, kommt ja von dort und ist eine Metamorphose der Frankfurter Schule, obwohl Adorno und Co. das sicher so nicht meinten. Es ist auch so eine Gesellschaft des Skandals, des Spektakels, mit großer Empörung, der hat nicht gegendert oder so. Das erinnert an moralisierende Spießertanten: „Oh! Das ziemt sich aber nicht!“ Früher war die Linke für Fortschritt. Sie war frech. Heute leidet sie unter einer Art Alte-Tanten-Syndrom. Das führt zu einer extremen Lustfeindlichkeit und Sterilität.

Und Humorfeindlichkeit. Comedy lebt davon, dass man jede Ideologie in den Schlamm zieht und darüber lacht. Woke Ideen eignen sich sehr gut dafür, weil sie eben oft so hochideologisch sind.

Wenn man diese Identitätspolitik von links mit kultureller Aneignung und so weiter zu Ende denkt, dann sind wir am Ende alle in Gruppen getrennt – wie das auch rechte Identitäre wollen. Ich gehe davon aus, dass der gesunde Menschenverstand irgendwann doch wieder siegen wird oder zumindest eine Balance herstellen wird. Die jetzige extreme Reaktion auf das alles ist natürlich auch ein Überdruss, also dass die AfD jetzt so stark wird, dass die jetzt das Gefühl geben: ‚Kann ich noch lachen? Kann ich noch was sagen?‘ Wir müssen diesen Impuls verstehen. Es ist ja nicht plötzlich jeder Dritte ein Nazi. Aber Leute werden einfach bewusst vergrault und in eine Ecke gedrängt, dass sie da im Endeffekt nur noch am Wahltag ihr Kreuz setzen können. Wenn man sich als Linker immer weiter humorbefreit und lustfeindlich in sektiererischen Theorien verlieren möchte, wird das auf Dauer nicht funktionieren.

Es ist ganz häufig nichts weiter als eine Verteidigung von Normalität. Gerade hier im Osten sagen Menschen oft: ‚Ich möchte doch einfach nur ein normales Leben haben und meine Wohnung bezahlen können. Ich habe ja gar nichts gegen Schwule oder irgendwen. Aber wenn ich irgendwie irgendwas Falsches sage, bin ich ‚böse‘. Lasst doch einfach die Menschen Menschen sein. Wenn man mit Respekt und Sympathie miteinander redet, kann man vielleicht erklären, warum man etwas für homophob hält.

Irgendwie wurde es überdehnt. Der Überdruss vieler Menschen wird flankiert von den handfesten ökonomischen Problemen und dem Gefühl der Unsicherheit auf weltpolitischer Bühne, dass da neue Brandherde entfacht werden mit unsicherem Ausgang. Auch die Schmähung der Friedensbewegung finde ich ganz übel. Das jetzige gesellschaftliche Klima hat es geschafft, viele Menschen zu verprellen.

Versuchen wir doch mal, was zu Konflikten zu sagen, die viel zu wenig vorkommen. Was ist denn in Nagorno-Karabakh passiert? Warum sollte uns das interessieren?

Das war eine ethnische Flurbereinigung, eine Vertreibung. Sie stellt das Versagen unserer hohen Moral dar. Olaf Scholz fragte rhetorisch: „Wo kämen wir da hin, wenn in Europa Grenzen verschoben werden?“ Natürlich meinte er Putin und die Ukraine. Natürlich hätte man da fragen können: Was ist denn mit dem Südkaukasus, mit Aserbaidschan, ein Land, das von Scholz und von der Leyen als stabiler Energielieferant gelobhudelt wird, obwohl es von einer sehr reaktionären und korrupten Machtelite regiert wird und in keinster Weise westlichen Werten entspricht? In Aserbaidschan habe ich wirklich Angst gespürt. Ich habe das ehemalige armenische Viertel in Baku besucht. Die Armenier sind vertrieben worden. Und Aserbaidschaner sind umgekehrt aus Armenien vertrieben worden. Wenn ich Fragen zur Regierung stellte, kam sofort die Geste, dass ich den Mund halten müsse.

Ich muss dazu ehrlicherweise sagen, dass man inzwischen leider auch in den westlichen Gesellschaften mit Sanktionen rechnen muss, wenn man sehr kritisch ist. Ich möchte jetzt keine unzulässigen Vergleiche anstellen. Ich muss nicht damit rechnen, dass auf dem Weg zum Supermarkt ein Auto anhält und mich verschleppt.

Ja, aber um das mal klar zu sagen: Journalisten wie Du und ich werden marginalisiert, häufig, nicht immer. Zu bestimmten Themen lässt man uns nicht schreiben, oder nicht viel. Wir müssen damit rechnen, schlecht gemacht zu werden oder falsch dargestellt zu werden, und dann haben wir wenig Möglichkeiten, unsere Ansichten korrekt darzustellen.

Jetzt sollen arabische Migranten unser Verhältnis zu Israel übernehmen. Wir vergessen, dass die europäische Geschichte nicht das Maß aller Dinge ist. Ich weiß, dass Chinesen immer noch von der Hunnenrede von Kaiser Wilhelm sprechen, also „dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen“. Wir müssen begreifen, dass Geschichtsbilder auf der Welt unterschiedlich sind. Unser Geschichtsbild lässt ja auch gerne viele Sachen weg, wie die Ausrottung ganzer Volksschaften im 19. Jahrhundert, vom Kongo – zehn Millionen Tote – über die völlige Ausrottung der Tasmanier. Da haben wir auch noch viele weiße Flecken auf unserem historischen Bewusstsein. Ich höre immer wieder von Leuten: Wieso? Der Kolonialismus? Die haben doch Straßen gebaut. Die wissen gar nichts darüber. Der Westen versucht immer, mit schneeweißer Weste dazustehen, und er schafft es mit Waschmitteln, die Weste weiß zu waschen und die Weste so zu drehen, dass man die Blutflecken nicht sieht. Auf meiner Reise nach El Salvador habe ich das erste Mal von La Matanza gehört, also dem Aufstand 1933, der kommunistisch inspiriert war und so niedergeschlagen wurde, dass man bis heute kaum indigene Gesichter in El Salvador sieht und von einem Völkermord spricht. Die USA schickten Kanonenboote an die Küsten und überwachten die Häfen. Diese Politik setzte sich dann in Guatemala unter der United Fruit Company fort.

Die Aufständischen in El Salvador waren Sklaven unter der Oligarchie. In Guatemala wurden 200.000 Menschen getötet – mit voller Unterstützung der USA –, auch ein Völkermord.

Ich denke auch an die Philippinen – Mindanao – um 1900, als – glaube ich – auch etwa ein Drittel der Bevölkerung ausgelöscht wurde durch die amerikanischen Truppen. Die Welt hat noch ein anderes Bewusstsein als das, was uns ständig vorgegeben wird. Als die Niederländer 1945 vom Nazijoch befreit wurden, versuchten sich auch die Indonesier zu befreien, wurden aber brutal von den gleichen Niederländern niedergeschlagen. Indonesien wird in seiner Bedeutung völlig unterschätzt. Es ist das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt mit weit über 200 Millionen Menschen. Dort fand 1965 ein militärischer Umsturz statt, wo der Staatschef Sukarno, der große Gründer der indonesischen Unabhängigkeit, gegen Suharto ausgetauscht wurde, ein dem Westen gefügiger, korrupter Machthaber. Durch diesen Putsch gab es antikommunistische Säuberungen, und Suharto sagte stolz, Indonesien sei das einzige Land der Welt, wo sich niemand traut, Kommunist zu sein. Es wurden Millionen Menschen abgeschlachtet, darunter die chinesische Minderheit, auch mit Hilfe radikalislamischer Kräfte. Der CIA war ganz aktiv. Schreckliche Massaker, teilweise unterstützt von der Armee. Das hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was wir später in Afghanistan erlebten, mit den Mudschahedin gegen die gottlosen Kommunisten und mit der jahrzehntelangen, engen Kooperation zwischen dem Westen und Saudi-Arabien.

Saudi-Arabien ist mit Abstand der größte Sponsor radikaler islamistischer Gruppen wie Al-Kaida – in der gesamten islamischen Welt. Es ist Sponsor Nummer eins, die Vereinigten Arabischen Emirate sind ein anderer. Beide gehören zu den wichtigsten Bündnispartnern des Westens seit vielen Jahrzehnten, ja seit der Staatsgründung.

Wir sollten uns zukünftig nicht nur eurozentrisch oder west-zentriert informieren, sondern auch mal über den Tellerrand gucken. Das ist ganz wichtig, weil die nicht-westliche Welt – ob es einem nun gefällt oder nicht – immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Die Tatsache, dass Israel durch Südafrika zum internationalen Strafgerichtshof geladen wurde, wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen – auch, dass sich viele Staaten vom Dollar weg entwickeln, dass sich neue Machtzentren wie BRICS entwickeln. Ich sage nicht, dass die jetzt alle toll sind, aber es sind einfach historische Entwicklungen. Wenn man immer ein Bild der Welt malt, wie sie nicht mehr ist, ist es ein Zerrbild.

Ramon, danke für das schöne Gespräch.

Ich danke auch.

Zum Interviewer: Michael Holmes ist freiberuflicher Journalist, Gründer von Global Apartheid, einem Projekt, das die größten Massenmorde der modernen Geschichte dokumentiert. Dieses YouTube-Einführungsvideo zu zentralen Ergebnissen des Projektes nutzt Infografiken für eine Zeitreise, welche die westliche Sicht der modernen Geschichte auf den Kopf stellt.

Titelbild: Screenshot Videogespräch

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!