„Ich habe der israelischen Armee stolz und loyal gedient. Heute ist sie eine brutale Kolonialmacht“

„Ich habe der israelischen Armee stolz und loyal gedient. Heute ist sie eine brutale Kolonialmacht“

„Ich habe der israelischen Armee stolz und loyal gedient. Heute ist sie eine brutale Kolonialmacht“

Ein Artikel von Michael Holmes

Ein Interview mit dem israelisch-britischen Historiker Avi Shlaim, ehemaliger Professor für internationale Beziehungen an der Oxford University. Shlaim wurde 1945 in Bagdad, Irak geboren. Mit fünf Jahren wanderte er mit seiner wohlhabenden jüdischen Familie nach Israel aus. Er zählt zu den sogenannten Neuen Historikern, die die bedeutendsten nationalistischen Mythen der israelischen Gesellschaft einer kritischen und sorgfältigen Prüfung unterzogen. Er hat mehrere Standardwerke über den arabisch-israelischen Konflikt verfasst. Sein bekanntestes Werk „The Iron Wall” behandelt dessen Ursprünge unter der britischen Kolonialherrschaft, die großen arabisch-israelischen Kriege, den gescheiterten Friedensprozess sowie die Erste und Zweite Intifada. Zu den Stärken des Buches zählen die detaillierten Analysen der diplomatischen Beziehungen. Shlaim belegt, dass Israel viele ernste Verhandlungsangebote der palästinensischen Seite und der arabischen Staaten abgelehnt hat, um eine expansionistische Politik zu verfolgen. Er dokumentiert die wichtigsten Verbrechen und Fehler aller Konfliktparteien. Ein Interview von Michael Holmes.

In diesem Interview spricht Shlaim über die gegenwärtige Eskalation, die wichtigsten historischen Wendepunkte des Konflikts, dessen globale Bedeutung und sein Leben als arabischer Jude im Irak, in Israel und Großbritannien. Das Gespräch führte Michael Holmes, freiberuflicher Journalist, Gründer von Global Apartheid, einem Projekt, das die größten Massenmorde der modernen Geschichte analysiert.

Avi Shlaim, Sie sind Historiker, arabischer Jude, Israeli und Brite mit irakischen Wurzeln. Sie haben eine einzigartige Perspektive auf die erschütternden Ereignisse, die sich seit dem 7. Oktober in Gaza, im Westjordanland und in Israel abspielen. Was sind Ihre Gefühle und Gedanken in diesem historischen Augenblick?

Die Brutalität der israelischen Armee in Gaza hat mich überrascht. Ich bin kein Neuling in diesem Bereich. Ich bin seit 53 Jahren Universitätslehrer, und mein Hauptforschungsinteresse ist der arabisch-israelische Konflikt. Sie haben freundlicherweise mein Buch erwähnt. Es ist eine Geschichte des Konflikts auf 900 Seiten. Aber ich kann es in einem Satz zusammenfassen: Israel war seit seiner Gründung im Jahr 1948 allzu entschlossen, militärische Gewalt einzusetzen, nicht als letztes, sondern als erstes Mittel, und es war bemerkenswert widerwillig, ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern aufzunehmen, um den Konflikt zu lösen. Ich habe über die israelische Politik der Gewalt im Gazastreifen seit dem Rückzug 2005 geschrieben. Nach meiner Zählung ist dies die sechste große Militäroffensive. Aber Israel hat ein neues Level an Brutalität und Zerstörung erreicht, das selbst in der Geschichte Israels beispiellos ist. Ich betone, dass sich die israelische Offensive gegen das Volk von Gaza richtet – gegen die Zivilbevölkerung. Israel hat über 15.000 Menschen getötet und 45 Prozent der Häuser in Gaza zerstört oder beschädigt. Es hat einen Großteil der zivilen Infrastruktur zerstört und viele Krankenhäuser und Krankenwagen angegriffen. Ich hätte dieses Verhalten nie erwartet, Israel scheint vollständig außer Kontrolle, und die Weltgemeinschaft scheint unfähig oder unwillig zu sein, Israel zurückzuhalten. Ich bin extrem verärgert über das, was heute in Gaza geschieht.

Ich denke, es ist ziemlich klar, dass Israel für schwere Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Terrorbombing verantwortlich ist. Es gibt viele gute Belege dafür, die sehr ernst genommen werden sollten. Zudem gibt es eine Kontroverse, ob sich ein Völkermord entwickelt. Was sind Ihre Ansichten dazu?

Ich zögere, das Wort Genozid zu verwenden. Es ist etwas sehr Großes. Joe Biden und andere haben gesagt, dass die Hamas-Angriffe auf Israel die schlimmsten Angriffe auf Juden seit dem Holocaust sind. Aber das ist eine Verharmlosung des Holocaust. Natürlich waren die Hamas-Angriffe ein sehr, sehr schweres Verbrechen, ein niederträchtiges Verbrechen. Was Israel in Gaza tut, geht in Richtung Völkermord. Ich würde ohne Zögern von ethnischen Säuberungen sprechen, weil Israel bereits 1,8 Millionen von 2,3 Millionen Menschen in Gaza gezwungen hat, von Norden nach Süden zu fliehen. Einige dieser Menschen, die Israels Forderungen zur Flucht nachkamen, sind von israelischen Luftangriffen getötet worden. Viele Flüchtlinge im Süden wurden auch dort wieder zur Flucht aufgefordert. Israel hat sich der gewaltsamen Vertreibung der Zivilbevölkerung schuldig gemacht. Ziel ist die ethnische Säuberung von Gaza. Israel drängt die Menschen in Richtung der ägyptischen Grenze und macht kein Geheimnis aus seiner Absicht, Gaza zu entvölkern und die Menschen in die Sinai-Wüste zu treiben. Ägypten ist entschieden dagegen. Aber ein Dokument des Geheimdienstministeriums vom 13. Oktober enthüllt einen Plan, Gaza zu zerlegen und die Menschen in den nördlichen Sinai zu drängen. Nachdem Israel 1948 und 1967 Palästinenser vertrieben hatte, erlaubte es keine Rückkehr.

Ich habe gehört, dass sich viele Israelis an den Schock des Jom Kippur-Krieges von 1973 erinnert fühlten, als Ägypten und Syrien einen Überraschungskrieg gegen Israel führten. Die meisten Israelis glauben, dass die Araber Israel zerstören und alle Einwohner töten wollten. Ihr Buch widerlegt diese Sicht.

Der Angriffskrieg im Oktober 1973 hat Israel völlig überrascht. Aber ich halte den Krieg für völlig gerechtfertigt, weil es ein Versuch von Ägypten und Syrien war, Landesteile zurückzuerobern, die Israel im Juni 1967 mit Gewalt erobert hatte – die syrischen Golanhöhen und die ägyptische Sinaihalbinsel. Präsident Sadat hatte seit 1970 viele ernste Friedensangebote gemacht. Israel war unnachgiebig. Ziel des Krieges war nie die Zerstörung Israels. Alle wussten, dass Israel Atomwaffen besitzt. Die Kriegsstrategie begrenzte sich auf Sinai und die Golanhöhen.

Auch das Massaker vom 7. Oktober 2023 überraschte und schockierte Israel. Es war die erste Invasion israelischen Territoriums von Hamas-Kämpfern, die über 300 israelische Soldaten töteten und dann in Siedlungen nahe Gaza Amok liefen und 250 Besucher eines Musikfestes ermordeten. Es war ein echtes Trauma für die israelische Öffentlichkeit. Die Überraschung und die Brutalität verwirrten die Israelis. Sobald die Barriere durchbrochen war, waren es nicht nur die Hamas und der Islamische Dschihad, sondern auch andere Menschen, die sich an dem Angriff auf Israelis beteiligten.

Ich habe Israel während der Zweiten Intifada bereist, als es brutale Selbstmordattentate auf Busse und Pizzerien gab. Viele Israelis sagten mir: ‚Schau! Wir haben ihnen Frieden angeboten im Oslo-Prozess und in Camp David. Wir bieten ihnen einen Staat an. Wir bieten ihnen fast alles, und das bekommen wir!’ Ihr Buch zeigt, dass an diesem Mythos sehr vieles nicht stimmt. Den Palästinensern wurde kein fairer Deal angeboten.

Oslo war eine historische Errungenschaft. Die PLO und Israel erkannten sich wechselseitig an und einigten sich darauf, alle ausstehenden Differenzen mit friedlichen Mitteln zu lösen. Aber Jitzchak Rabin, der israelische Hauptarchitekt des Friedensabkommens, wurde von einem israelischen Fanatiker ermordet. Ein Jahr später kam der Likud unter der Führung von Benjamin Netanjahu an die Macht. Aber auch das Oslo-Abkommen hat nie einen palästinensischen Staat versprochen. Es war ein Experiment in begrenzter palästinensischer Selbstverwaltung in Gaza und Jericho. Der Text von Oslo erwähnt keinen palästinensischen Staat. Der Text forderte eine Übergangszeit von fünf Jahren, gegen deren Ende die Verhandlungen über Endstatusfragen stattfinden sollten – das sind Jerusalem, das Rückkehrrecht der Flüchtlinge, Grenzen und Sicherheit. All diese großen Themen sollten später verhandelt werden, aber Netanjahu begann sofort, das Friedenserbe seiner Vorgänger zu zerstören. Er hatte schon oft erklärt, dass der Oslo-Prozess das Recht des jüdischen Volkes auf das gesamte Israel missachte, zu welchem die Westbank gehöre. Der Friedensprozess scheiterte, weil Israel seine Seite des Deals nicht einhielt.

Lassen Sie mich das beste Argument der israelischen Regierung formulieren. Sie können sagen: ‚Wenn Hamas nicht aufgehalten worden wäre, wer weiß, wie viele weitere Hunderte oder sogar Tausende unschuldiger Israelis sie getötet hätten. Sie sind extreme Antisemiten, die den Holocaust vollenden wollen. Sie wollen Israel zerstören, um alle Israelis zu töten. Deshalb muss die Hamas ausgerottet werden. Hamas darf nicht mehr existieren.‘ Was antworten Sie darauf?

Fangen wir mit der Hamas-Charta von 1988 an – ein schreckliches Dokument, antisemitisch, sehr extrem. Es fordert einen einheitlichen islamischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer, also die Beseitigung des Staates Israel. Aber wie die PLO zuvor hatte die Hamas ihr politisches Programm schrittweise gemäßigt und sich dafür entschieden, ihr Ziel der Unabhängigkeit nicht durch Waffengewalt, sondern auf dem parlamentarischen Weg zu erreichen. 2006 gewann Hamas faire und freie Wahlen in Gaza und im Westjordanland. Israel weigerte sich jedoch, die Hamas-Regierung anzuerkennen, und begann einen Wirtschaftskrieg. Die USA und die Europäische Union unterstützten Israel bei der Untergrabung der Hamas-Regierung. Die westlichen Führer sagen, sie wollen Demokratie fördern. Dies war der Grund für die Invasion des Irak, meiner ursprünglichen Heimat. Die Palästinenser haben Demokratie erreicht, unter den Bedingungen der Militärbesatzung. Die Hamas durfte nicht regieren. Sie hatte Israel Verhandlungen über einen langfristigen Waffenstillstand angeboten – für zehn, 20, 30, vielleicht 40 Jahre! Israel weigerte sich zu verhandeln.

2007 bildete die Hamas eine Einheitsregierung mit Fatah. Es war eine gemäßigte Regierung der Technokraten, die ebenfalls Verhandlungen über einen langfristigen Waffenstillstand anbot. Israel weigerte sich erneut zu verhandeln. Die Hamas mäßigte ihr Programm. Sie war bereit, das Existenzrecht Israels implizit, wenn auch nicht explizit zu akzeptieren. Sie gab endlose Erklärungen ab, die implizierten, dass sie den palästinensischen Staat in den Grenzen vom Juni 1967 und somit eine Zweistaatenlösung akzeptierte. Hamas versuchte zu verhandeln, um eine politische Lösung zu finden.

Ich kann verstehen, dass die meisten Israelis Hamas nicht mehr vertrauen. Aber gäbe es nicht auch Möglichkeiten für Israel, sich auf den Frieden mit anderen Parteien zu konzentrieren?

Die palästinensische Frage ist die zentrale Frage im Nahen Osten. Netanjahus Linie gegenüber der israelischen Öffentlichkeit lautete, dass die Palästinenser erledigt sind, besiegt sind. Wir könnten im Westjordanland tun, was wir wollen, wir könnten die Siedlungen weiter ausbauen. Die Palästinensische Autonomiebehörde war für ihn ein kollaborationistischer Körper, den er absichtlich schwächte. Der andere Teil seiner Strategie bestand darin, die Hamas in Gaza an der Macht zu halten. Er verfolgte eine Politik der Eindämmung und verwandelte Gaza in ein Freiluftgefängnis. Im Rahmen der Abraham-Abkommen von 2020 unterzeichnete Israel Friedensabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und dem Sudan, für die Israel keinen großen Preis bezahlte. Netanjahu verfolgte eine erfolgreiche Strategie der Isolierung und Schwächung der palästinensischen Nationalbewegung. Er trennte den Gazastreifen vom Westjordanland. Er ließ eine sehr schwache, inkompetente Behörde das Westjordanland regieren – als Subunternehmer für israelische Sicherheit –, die unfähig ist, die Ausweitung der Siedlungen und Provokationen jüdischer Fanatiker gegen die Al-Aksa-Moschee zu beenden. Netanjahu befürwortet permanente Konflikte. Er hat keine politische Lösung. Er nutzt Gewalt, um die Palästinenser niederzuhalten. Diese ganze Strategie wurde durch den Hamas-Angriff beendet. Jetzt hat er kein klares Endspiel mehr.

Ich war schockiert über die Stärke und Bedingungslosigkeit der westlichen Unterstützung für Israel. Die USA, die Europäische Union, Deutschland und Kanada haben klargestellt, dass die Unterstützung für Israel mit Waffen, Geld und Diplomatie bedingungslos ist. Ich denke, momentan sieht die Mehrheit der Menschheit den Westen als eine völlig unmoralische Kraft an. Ich sehe ein hohes Risiko einer Eskalation in Richtung Libanon, Iran, Syrien, vielleicht sogar Jordanien oder Ägypten. Wie sehen Sie das?

Ich stimme dem total zu. Die blinde Unterstützung für Israel ist ein kolossales moralisches Versagen. Das Gemetzel, die Zerstörung in Gaza ist eine Beleidigung für zivilisatorische Werte. Der Westen ist ein Komplize Israels. Die Unterstützung für Israel ist eine Erlaubnis für ethnische Säuberungen, für Massenmord an Zivilisten im industriellen Maßstab. Die westlichen Führer haben immer noch keinen Waffenstillstand gefordert. Alles, was sie verlangen, sind humanitäre Pausen. Im Westen gibt es eine Trennung zwischen Regierungen und vielen Menschen, die zunehmend die Palästinenser unterstützen. Vor zwei Wochen ging ich mit meiner Frau und Tochter auf eine pro-palästinensische Demonstration in London mit ungefähr 800.000 Menschen, eine der größten Demonstrationen in der britischen Geschichte. Amerika ist der entscheidende Akteur. Es hat lächerlich milde Kritik an Israel geübt. Israel hört weg. Amerika gewährt Israel jedes Jahr 3,8 Milliarden Dollar an Militärhilfe. Seit 1978 hat Amerika im Sicherheitsrat 46 Resolutionen gegen Israel vereitelt. Zuletzt hat Amerika das Veto eingesetzt, um einen Waffenstillstand zu verhindern. Israel zahlt keinen Preis für seine fortgesetzten Verstöße gegen das Völkerrecht.

Sie zeigen in ihrem Buch, dass es sich in gewisser Weise um einen sehr klassischen Kolonialkonflikt handelt, und ich denke, es ist fair zu sagen, dass Sie Israel die meiste Schuld geben. Aber arabische Staaten und die Palästinenser haben auch schreckliche Massaker verübt und Drohungen gegen Israel ausgesprochen.

Ich habe den Hamas-Angriff auf Zivilisten vollkommen verurteilt – so wie die meisten Menschen, sogar die meisten sehr israelkritischen Menschen. Zivilisten zu ermorden ist falsch. Punkt. Die israelische Besatzung des Westjordanlands und Gazas ist die längste und brutalste Militärbesatzung der Moderne. Die Menschen unter Besatzung haben das Recht auf bewaffneten Widerstand. Sie dürfen jedoch keine Zivilisten angreifen. Israel verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht – jeden Tag und zu jeder Stunde. Israel praktiziert Staatsterrorismus. Terrorismus ist der Einsatz militärischer Gewalt gegen Zivilisten für politische Zwecke. Zur israelischen Militäroffensive in Gaza namens Operation „Gegossenes Blei” 2008 und 2009 gab es einen 575-Seiten-Bericht von Richard Goldstone. Dessen Schlussfolgerung ist, dass die israelische Militäroffensive nicht nur gegen die Hamas, sondern gegen das Volk von Gaza als Ganzes gerichtet war. Deren Ziel war, die Menschen zu bestrafen, zu demütigen und zu terrorisieren. Dies ist nun die sechste israelische Militäroffensive in Gaza mit diesen Zielen. Dies sollte für jeden zivilisierten Menschen inakzeptabel sein.

Es mag viele überraschen, dass Sie in der israelischen Armee als Soldat gedient haben, und ich meine zu verstehen, dass Sie das nicht bereuen. Ist da noch immer ein israelischer Patriot in Ihrem Herzen?

Ich bereue es überhaupt nicht. Ich habe von 1964 bis 1966 mit Loyalität und Stolz in der Armee gedient, weil zu meiner Zeit die israelischen Verteidigungskräfte ihrem Namen treu waren. Im Juni 1967 wurde Israel zur Kolonialmacht, als es sein Territorium verdreifachte und die Golanhöhen, das Westjordanland und Sinai eroberte. Die IDF wurde die brutale Kolonialpolizei einer brutalen Kolonialmacht. Hier trenne ich mich von Israel. Die Palästinenser hatten das einzigartige Unglück, seit der Balfour Declaration von 1917 Opfer sowohl des zionistischen Siedlerkolonialismus als auch des westlichen Imperialismus geworden zu sein, zuerst unter Großbritannien, jetzt unter Amerika. Mein Mitgefühl ist mit den Außenseitern, den Palästinensern.

Sie haben darüber geschrieben, wie Sie als Kind aus dem Irak und als arabischer Jude nach Israel kamen und sich oft diskriminiert und gedemütigt fühlten. Trotzdem wurden Sie ein israelischer Patriot. War diese Spannung ein Grund dafür, dass sie ein israelkritischer Historiker geworden sind?

Sie verweisen auf mein letztes Buch, eine Autobiografie, die „Three Worlds” heißt. Ich beschreibe einen sehr komfortablen Lebensstil in Bagdad. Für meine Familie war das muslimisch-jüdische Zusammenleben alltägliche Realität. Die Juden lebten nicht in Ghettos. Dann zogen wir 1950 nach Israel, als ich fünf Jahre alt war, und ich hatte einen Minderwertigkeitskomplex, weil ich ein irakischer Junge war.

Es war eine aschkenasische Gesellschaft, und alles Arabische galt als minderwertig, rückwärtsgewandt. Die arabische Sprache galt als rohe, primitive und hässliche Sprache. Ich habe die Werte meiner neuen Gesellschaft verinnerlicht. Es war mir peinlich, wenn mein Vater vor meinen Freunden auf Arabisch mit mir sprach. Erst viel später als Akademiker an der Universität Oxford, an der ich Arabisch lesen und schreiben lernte, erkannte ich die Schönheit der Sprache. Erst nachdem ich die Geschichte der Region und der arabisch-jüdischen Beziehungen studiert hatte, wurde mir der Vorteil bewusst, in einer arabischen Gesellschaft gelebt zu haben und Araber nicht nur als Feinde, sondern als stolzes, sensibles Volk zu sehen. Ich hatte keine engstirnige israelische Perspektive, sondern eine nuancierte Perspektive auf die Region, welche die Standpunkte von Arabern und Muslimen sowie Israelis und Juden berücksichtigt. Ich bin stolz auf mein arabisches und jüdisches Erbe. Die Regierung in Israel steht nicht für jüdische Werte.

Die westlichen Führer haben völlig den Kontakt mit der Realität in Israel und Palästina verloren. Sie müssen aufwachen. Was sich vor unseren Augen in Gaza abspielt, bedeutet das Ende der alten westlichen Erzählung, dass Israel eine Insel der Demokratie in einem Meer des Autoritarismus ist. Israel ist eine brutale, rücksichtslose Kolonialmacht, die versucht, Millionen von Palästinensern mit roher Gewalt zu unterdrücken, ein Apartheidstaat, ein jüdisch-suprematistischer Staat, der den Palästinensern jegliche Rechte verweigert. Der Kontrast zwischen der Ukraine und Palästina belegt die westliche Doppelmoral. Jetzt sehen wir vor unseren Augen den politischen und moralischen Bankrott der westlichen Unterstützer des Staates Israel.

Mir scheint, dass die israelische Demokratie einen langsamen Tod stirbt. Es wird wohl Wahlen in Israel geben, aber kaum Redefreiheit. Auch in Deutschland, Frankreich und den USA wird die Redefreiheit stark angegriffen. Viele Menschen fühlen sich eingeschüchtert. Außerdem gibt es eine Krise der Demokratie, die sich verschlimmert, weil der Westen kein Vorbild ist. Jetzt schauen mehr Menschen im Globalen Süden auf den Westen und sagen: ‚Wir sollen diesem Modell der ethnischen Säuberung, der Brutalität und des Rassismus folgen?

Die Besatzung hat die israelische Demokratie seit 1967 sehr allmählich erodiert. Vier große Menschenrechtsgruppen veröffentlichten Berichte, die zu dem Schluss kamen, dass Israel ein Apartheidstaat ist. Der wichtigste dieser Berichte kommt von B’Tselem, einer angesehenen israelischen Menschenrechtsgruppe. Der detaillierte Bericht war ein Meilenstein. In dem Bericht heißt es, dass es nicht mehr möglich ist, zwischen Israel und den besetzten Gebieten zu unterscheiden, weil ein Apartheid-Regime für das gesamte Gebiet zuständig ist. Palästinensische Bürger des Staates Israel sind Bürger zweiter Klasse. Die Araber in den besetzten Gebieten besitzen überhaupt keine Rechte. Sie werden als Bürger dritter Klasse in einem Zustand permanenter Unterordnung gehalten.

In den politischen Richtlinien der gegenwärtigen israelischen Regierung heißt es ausdrücklich, dass das jüdische Volk ein ausschließliches Recht auf das ganze Land Israel besitzt. Israel ist eine Ethnokratie. Keine britischen oder amerikanischen Führer beschreiben Israel als ein Apartheid-Regime. Es gibt einen bemerkenswerten Widerwillen, sich den Tatsachen zu stellen. Die israelische Regierung leitet eine globale Kampagne gegen alle Kritiker des Staates Israel, gegen Unterstützer von BDS – Boycott Divestment Sanction. Es hat absichtlich Antizionismus mit Antisemitismus gleichgesetzt, um legitime, evidenzbasierte Kritik zum Schweigen zu bringen. Diese Kampagne war in Deutschland äußerst erfolgreich. Gesetze gegen BDS-Unterstützer wurden verabschiedet. Auch die britische Regierung geht noch härter gegen jede Form von propalästinensischen Protesten vor.

Wenn wir über den Friedensprozess sprechen, sollten wir immer daran erinnern – und die westlichen Medien erklären das zu selten! –, dass wir über die letzten verbleibenden 22 Prozent des historischen Palästinas sprechen – die Westbank und Gaza.

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Indem sie die Oslo-Abkommen mit Israel unterzeichnete, gab die PLO ihren Anspruch auf 78 Prozent des historischen Palästinas auf, also machte sie ein riesiges Zugeständnis in der Hoffnung, dass sie irgendwann einen unabhängigen Staat auf den restlichen 22 Prozent bekommen würde. Aber es sollte nicht sein, dass Rabin den Versöhnungsprozesses mit den Palästinensern weiterführte.

Wir wissen nicht, was das Endspiel gewesen wäre. Wir wissen nicht, ob er einem unabhängigen palästinensischen Staat auf 22 Prozent des Mandatsgebiets zugestimmt hätte, wahrscheinlich nicht. Nach seiner Ermordung kam Netanjahu an die Macht und begann, die Siedlungen über die gesamte Länge und Breite des Westjordanlandes, in Gaza und auf den Golanhöhen zu expandieren. Heute sind es 700.000 Siedler. Er ist wie ein Mann, der über die Aufteilung der Pizza verhandelt, während er mehr und mehr Pizzastücke verspeist. Landraub und Frieden passen nicht zusammen. Wenn man sich Israels Verhalten seit 1967 ansieht, sieht man, dass Israel mehr an Land interessiert ist als an Frieden mit den Palästinensern.

Vielen Dank für Ihre Perspektiven. Ich wünsche Ihnen alles Gute.

Titelbild: Alvaro Garica