Bundesregierung weiter gegen Waffenstillstand in Gaza und mit gewagter Interpretation des Völkerrechts

Bundesregierung weiter gegen Waffenstillstand in Gaza und mit gewagter Interpretation des Völkerrechts

Bundesregierung weiter gegen Waffenstillstand in Gaza und mit gewagter Interpretation des Völkerrechts

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Die Sprecherin des Auswärtigen Amtes (AA) hat bei der Bundespressekonferenz am 27. November erneut erklärt, dass sich die Bundesregierung gegen einen Waffenstillstand im Gazastreifen ausspricht, denn das würde angeblich Israel daran hindern, sich gegen Angriffe der Hamas zu verteidigen. Ebenso wiederholte die AA-Sprecherin die Behauptung, Israel hätte ein „Recht auf Selbstverteidigung gegen den Terror der Hamas“. Die NachDenkSeiten meldeten angesichts dieser regierungsoffiziellen Aussagen zwei „Verständnisfragen“ an. Zum einen wollten sie wissen, wie die Bundesregierung die Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag bewertet, der 2004 zu dem Schluss kam, dass Israel als Besatzungsmacht völkerrechtlich nicht über das Recht auf Selbstverteidigung im Sinne von Artikel 51 der UN-Charta verfügt. Zum anderen baten die NDS das Auswärtige Amt, doch bitte näher zu begründen, wieso ein eingehaltener Waffenstillstand die Sicherheit von Israel gefährden würde. Die Antworten bezeugen eine recht eigenwillige Auslegung des Völkerrechts im Ministerium unter Leitung von Annalena Baerbock. Von Florian Warweg.

Mit der im Video dargelegten völkerrechtlichen Interpretation steht das Auswärtige Amt allerdings ziemlich allein da. Zahlreiche namhafte Völkerrechtler, UN-Sonderberichterstatter, der Internationale Gerichtshof in Den Haag und sogar die US-Denkfabrik Atlantic Council kommen zu anderen Schlüssen als die AA-Sprecher auf der BPK.

Hat Israel ein Recht auf Selbstverteidigung im Gazastreifen? Das sagen Völkerrechtsexperten außerhalb des Auswärtigen Amtes

Im Oktober 2022, ziemlich genau ein Jahr vor dem Angriff der Hamas, kam die internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete zu dem Schluss, dass die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete „aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit und der De-facto-Annexionspolitik der israelischen Regierung“ völkerrechtswidrig sei. Da Israel die palästinensischen Gebiete, einschließlich des Gazastreifens, weiterhin unrechtmäßig besetzt halte, könne dieser nicht als unabhängiger Staat anerkannt werden, so die UN-Experten weiter. Das heißt konkret, nur wenn Israel und der Gazastreifen zwei getrennte und gleichermaßen autonome Staaten wären, könnte sich Israel, so auch die allgemeine Einschätzung von Völkerrechtsexperten, auf Artikel 51 der UN-Charta berufen, in dem es heißt:

„Keine Bestimmung dieser Charta beeinträchtigt das Recht auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen.“

Auch die derzeitige UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, Francesca Albanese, hat diesbezüglich dargelegt, dass Israel mit seiner Art des militärischen Vorgehens im Gazastreifen nicht die Bedingungen der Selbstverteidigung nach Artikel 51 erfüllt. Bei einem Pressegespräch in Australien am 14. November erklärte sie:

„Das Recht auf Selbstverteidigung kann geltend gemacht werden, wenn ein Staat von einem anderen Staat bedroht wird, was nicht der Fall ist. Israel behauptet nicht, von einem anderen Staat bedroht worden zu sein. Es wurde von einer bewaffneten Gruppe in einem besetzten Gebiet bedroht. Es kann nicht das Recht auf Selbstverteidigung gegen eine Bedrohung beanspruchen, die von einem Gebiet ausgeht, das es besetzt hält – von einem Gebiet, das unter kriegerischer Besetzung gehalten wird.“

Auch Michael Lynk, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter, bestätigt diese Einschätzung gegenüber Analyst News:

„Israel betrachtet Palästina nicht als Staat und hält es weiterhin besetzt. Es war also eine Besatzungsmacht, die von bewaffneten Kräften aus den besetzten Gebieten auf israelischem Boden angegriffen wurde.“

Weiter führt er aus, dass jede rechtliche Analyse von der Tatsache ausgehen müsse, dass Israel Besatzungsmacht ist – und zwar seit 1967. Auch wenn Israel seine Streitkräfte 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen habe, kontrolliere es weiterhin den Gazastreifen zu Land, Luft und See. Alle UN-Organisationen ebenso wie alle EU-Mitgliedsstaaten und die USA betrachten Israel aufgrund der ausgeübten effektiven Kontrolle weiterhin als Besatzungsmacht im Gazastreifen.

Bereits 2004 kam der Internationale Gerichtshof in Den Haag zu einem Fall in der Westbank, in welchem sich Israel ebenfalls auf Artikel 51 bezogen hatte, zum Fazit, dass eine Besatzungsmacht wie Israel nicht in der gleichen völkerrechtlichen Lage ist wie ein Staat, der von einem anderen Staat angegriffen wird:

„Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass Artikel 51 der Charta im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist.“

Das bedeutet, dass Israel nicht das Recht hat, sich gemäß Artikel 51 der UN-Charta zu verteidigen, lautet auch die Einschätzung des Völkerrechtlers John Quigley von der Ohio State University. Israel könne, so Quigley weiter, sehr wohl Angriffe auf seine Zivilbevölkerung als Terrorismus betrachten, aber die völkerrechtskonforme Antwort darauf darf keine militärische Aktion sein, wie sie von Israel im Gazastreifen mit den Massenbombardements durchgeführt wird.

Bereits 2012 schrieb die Rechtswissenschaftlerin Noura Erakat, Professorin für Strafrecht an der Rutgers University in New Jersey:

„Ein Staat kann nicht gleichzeitig die Kontrolle über ein von ihm besetztes Gebiet ausüben und dieses Gebiet militärisch angreifen, mit der Begründung, es sei ‚fremd‘ und stelle eine exogene Bedrohung der nationalen Sicherheit dar. Nach der Vierten Genfer Konvention, die besetzte Menschen als ‚geschützte Personen‘ bezeichnet, ist der Besatzungsstaat verpflichtet, diese Bevölkerung zu schützen. Wenn der Staat diese wahllos bombardiert, verstößt er gegen diese Verpflichtung.“

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch eine völkerrechtliche Analyse des Atlantic Council mit dem Titel „Israel behauptet, dass es den Gazastreifen nicht mehr besetzt hält. Was sagt das Völkerrecht dazu?“

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Besatzungsgesetze ein grundlegendes Prinzip der Menschlichkeit kodifizieren: Wer die tatsächliche Kontrolle über eine Bevölkerung hat, ist verpflichtet, sie zu schützen. Unabhängig davon, ob Israel derzeit den Gazastreifen besetzt, zeigt die Kontrolle, die es über die Bevölkerung hat, wie groß der Einfluss ist, den Israels Macht auf die Zivilbevölkerung ausüben kann. Selbst wenn die Verpflichtungen, die sich aus einer Besetzung ergeben, nicht gelten würden, muss Israel dennoch die Mindestpflichten des humanitären Völkerrechts einhalten: Zugang zu humanitärer Hilfe gewähren und Kriegsverbrechen unterlassen, einschließlich der gezielten Tötung, des Aushungerns und der gewaltsamen Verbringung von Zivilisten.“

Es bleibt festzuhalten, dass außerhalb des AA-Universums die überwiegende Mehrheit der Staatengemeinschaft und Völkerrechtler davon ausgehen, dass Israel mit seiner Art des militärischen Vorgehens in Gaza gegen Völkerrecht verstößt und aufgrund seines Status als Besatzungsmacht sein Vorgehen nicht mit Verweis auf Artikel 51 der UN-Charta rechtfertigen kann. Wie auch in vielen anderen Bereichen erscheint die bundesdeutsche Außenpolitik immer mehr isoliert mit ihren Einschätzungen und Bewertungen zum exzessiven militärischen Vorgehen Israels im Gazastreifen.

Protokollauszug der Bundespressekonferenz vom 27. November 2023:

Frage Warweg

Jetzt hätte ich doch noch eine Verständnisfrage. Sie haben gerade wiederholt erklärt, Israel habe das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung. Gleichzeitig haben Sie hier ebenfalls schon öfter betont, dass Sie sowohl den Gazastreifen wie auch Ost-Jerusalem und die Westbank als besetztes Gebiet betrachten. Es gibt eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag von 2004, in der er sehr klar gesagt hat, dass eine Besatzungsmacht sich auf dem von ihr de facto oder real besetzten Territorium nicht selbst verteidigen dürfe. Deswegen würde ich Sie noch einmal bitten, darzulegen, auf welcher Grundlage Sie dieses Selbstverteidigungsrecht Israels im Völkerrecht sehen und wie Sie mit dieser Entscheidung oder dieser Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs von 2004 umgehen.

Deschauer (AA)

Herr Warweg, auch das ist hier bereits vor einigen Tagen, vielleicht sogar vor ein bis zwei Wochen – ich lasse mir vielleicht noch einmal das Datum von den Kollegen zukommen – thematisiert worden. Da hat mein Kollege Fischer sich geäußert und hat erläutert, dass wir uns in einem bewaffneten Angriff der Hamas auf Israel befinden und entsprechend andere auch rechtliche Regularien gelten. Ich kann gleich vielleicht noch als Service nachliefern, an welchem Datum hier in der Regierungspressekonferenz entsprechend geantwortet wurde und eine völkerrechtliche Einordnung vorgenommen wurde. Das liefere ich dann gerne im Laufe der Sitzung noch nach.

Zusatzfrage Warweg

Ich hätte eine zweite Verständnisfrage bezüglich Ihrer Aussage, ein Waffenstillstand würde verhindern, dass Israel sich verteidigen kann. Nun ist die Idee „justement“ von einem Waffenstillstand, dass beide Seiten sich nicht mehr gegenseitig beschießen. Können Sie darlegen, wieso Israel sich bei einem eingehaltenen Waffenstillstand nicht mehr verteidigen könnte?

Deschauer (AA)

Ich glaube, das wurde hier auch schon mehrfach dargelegt: Wir befinden uns in der Situation, dass wir es mit einer Terrororganisation zu tun haben, die weiterhin vom Gazastreifen aus mit Raketen Israel bedroht. Dort sind weiterhin Parolen in der Welt, dass Israel ausgelöscht werden solle, und das Existenzrecht Israels wird dort negiert. Ich glaube, wir alle haben entsprechende Bildszenen vor Augen, wie bei der Freilassung von Menschen aus israelischen Gefängnissen auch Fahnen der Hamas geschwenkt werden. Ich kann jetzt nicht erkennen, dass die Hamas in der jetzigen Situation bereit wäre, ihre proklamierte Vernichtungserklärung gegenüber Israel aufzugeben.

Insofern sage ich noch einmal: Israel hat das verbriefte Recht, sich im Rahmen des Völkerrechts gegen den fortbestehenden, seit dem 7. Oktober bestehenden Angriffskrieg zu wehren und seine Bürger zu verteidigen. Das ist die Position der Bundesregierung. Davon unbenommen setzen wir uns sehr stark dafür ein, dass humanitäre Feuerpausen es ermöglichen, dass Geiseln endlich wieder in die Arme ihrer Angehörigen genommen werden können, aber auch, dass das Leid der Menschen in Gaza dramatisch verringert wird.

„Nachreichung“:

Zum Thema der völkerrechtlichen Auslegung kann ich ergänzend zu meinen Ausführungen von eben vielleicht noch als Lesetipp an Herrn Warweg nachreichen: Ich glaube, das war am 1. November.

Zuruf Warweg

Im Protokoll?

Deschauer (AA)

Im Protokoll.

Schaut man im Protokoll des 1. November nach, findet man folgenden Austausch zwischen dem Videoblogger Tilo Jung und dem Sprecher des Auswärtigen Amtes:

Frage Jung

Herr Fischer, am Montag haben Sie in Bezug auf das Westjordanland gesagt, dass es Israel als Besatzungsmacht obliege, die Sicherheit und Unversehrtheit der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland sicherzustellen. Nach Auffassung der Bundesregierung, der UN, der EU, der USA ist Israel auch in Gaza Besatzungsmacht. Gelten diese Worte auch für die Sicherheit und Unversehrtheit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza?

Fischer (AA)

Wir haben bereits darüber gesprochen, dass auch Gaza für uns zu den besetzten Gebieten gehört. Allerdings gelten dort Besonderheiten, weil Israel im Gazastreifen bislang nicht selbst präsent war oder dort Kontrolle ausgeübt, sondern nur die Grenzen kontrolliert hat. Es war also keine Besatzung im herkömmlichen Sinne.

Gleichzeitig ist es so, dass die Regelungen des Besatzungsrechts seit dem Angriff der Hamas durch die Regelungen für den bewaffneten Konflikt überlagert werden. Derzeit handelt sich eben nicht um eine stabilisierte Besatzungssituation, in der es um die Frage der Beziehungen zwischen der Besatzungsmacht und der Bevölkerung im besetzten Gebiet gehen kann. Aktuell handelt es sich um einen bewaffneten Konflikt, der von massiven Kampfhandlungen geprägt ist. Das überlagert die Regelungen des Besatzungsrechts.

Zusatz Jung

Das heißt, die Sicherheit und Unversehrtheit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza ist nicht die Aufgabe der israelischen Armee.

Fischer (AA)

Ich habe Ihnen dazu gesagt, was ich zu sagen habe. Was dort momentan gilt, sind die Regeln des bewaffneten Konfliktes, über die wir in den vergangenen Regierungspressekonferenzen ausführlich gesprochen haben.

Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten Bundespressekonferenz 27. November 2023

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