Über 4000 getötete Kinder in Gaza fallen für Bundesregierung unter „Recht auf Selbstverteidigung“

Über 4000 getötete Kinder in Gaza fallen für Bundesregierung unter „Recht auf Selbstverteidigung“

Über 4000 getötete Kinder in Gaza fallen für Bundesregierung unter „Recht auf Selbstverteidigung“

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Zahlreiche, darunter auch westlich orientierte, Regierungen haben in scharfen Worten („inakzeptabler Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“) die massiven Bombardements der israelischen Armee kritisiert, denen aktuellen UN-Angaben zufolge bis zum 7. November 4.324 Kinder und 2.823 Frauen zum Opfer fielen, das entspricht 67 Prozent aller Todesopfer. Doch auf Nachfrage der NachDenkSeiten auf der aktuellen Bundespressekonferenz erklärte die Bundesregierung, dass sie sich „ganz ausdrücklich“ von der Einschätzung distanziere, dass Israel mit seinem Vorgehen humanitäres Völkerrecht breche. Vielmehr hätte Tel Aviv das „dauerhafte Recht“, sich entsprechend zu „verteidigen“. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Seit einem Monat bombardiert die israelische Armee zu Land, zu Luft und zu Wasser den Gazastreifen. OCHA, das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, hat am 8. November neue Zahlen vorgelegt: Bis Stand 7. November wurden mit Verweis auf Daten des Gesundheitsministeriums in Gaza 10.569 Menschen durch die israelischen Bombenangriffe getötet, davon sind laut UN-OCHA 67 Prozent Frauen und Kinder. Auch über 80 UN-Mitarbeiter und mindestens 47 Journalisten fielen innerhalb von nur einem Monat dem militärischen Vorgehen Israels zum Opfer. Ebenso wurden bisher laut UN-Angaben 278 Schulen, 68 Moscheen, 3 Kirchen, 120 Krankenstationen sowie 220.000 Wohngebäude von der israelischen Armee angegriffen und dabei teilweise oder ganz zerstört:

Vor diesem skizzierten Hintergrund haben wichtige internationale Partnerländer Deutschlands im Globalen Süden wie unter anderem Südafrika, Chile und Kolumbien aus Protest gegen das Vorgehen Israels im Gazastreifen ihre Botschafter abgezogen. Südafrika spricht offiziell von einem „Genozid“, Kolumbien von einem „Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung“ und Chile von einem „inakzeptablen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“. Doch die Bundesregierung lässt sich von dieser Kritik und diesen Zahlen in ihrer Einschätzung bezüglich der angeblichen Völkerrechtskonformität der Massenbombardements auf zivile Ziele nicht beirren, ganz im Gegenteil:

Protokollauszug von der Bundespressekonferenz am 8. November 2023:

Frage Warweg
Wichtige internationale Partnerländer der Bundesrepublik Deutschland im globalen Süden wie Chile, Kolumbien und Südafrika haben aus Protest gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen ihre Botschafter abgezogen. Südafrika spricht offiziell von einem Genozid, Kolumbien von einem Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung und Chile von einem inakzeptablen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Teilt die Bundesregierung angesichts der aktuellen Zahlen von über 10 000 Toten, laut UN-Angaben davon 67 Prozent Frauen und Kinder, diese Einschätzung der deutschen Partnerländer im globalen Süden? Falls ja: Plant sie ähnliche Maßnahmen? Falls nein: Was spricht aus Sicht der Bundesregierung gegen diese Einschätzung der genannten Partnerländer?

Stellvertretende Regierungssprecherin Hoffmann
Das ist ganz ausdrücklich nicht die Position der Bundesregierung. Wir sind der Ansicht, dass Israel nach dem brutalen und menschenverachtenden Angriff der Hamas, dem 1400 Israelis zum Opfer gefallen sind, das Recht hat, sich zu verteidigen, und dieses Recht auch dauerhaft hat, da die Angriffe auf Israel und die Bedrohung Israels andauern. Insofern sind wir der Meinung, dass Israel das Recht hat, sich da zu verteidigen.

Zusatzfrage Warweg
Kann das Auswärtige Amt sich noch dazu äußern?

Deschauer (AA)
Das Auswärtige Amt schließt sich den Äußerungen der stellvertretenden Regierungssprecherin an, und das haben wir hier in den vergangenen Tagen und Wochen ebenfalls regelmäßig deutlich gemacht.

Frage Towfigh Nia
Frau Hoffmann, UN-Generalsekretär António Guterres spricht von einem „Kinderfriedhof“ in Gaza. Würde die deutsche Regierung dem zustimmen?

Eine zweite Frage an Frau Deschauer: Die israelische Regierung hat angekündigt, auf unbefristete Zeit die Sicherheitskontrolle in Gaza zu übernehmen. Wie ist die Reaktion dazu?

Hoffmann
Wir sind, wie gesagt, der Meinung, dass Israel das Recht hat, sich selbst zu verteidigen. Wir gehen aber davon aus, das hat ja auch der Bundeskanzler mehrfach gesagt, dass Israel als ein demokratisch verfasstes Land sich des Völkerrechts bewusst ist und sich an das Völkerrecht hält. Das ist das, wovon wir ausgehen.

Wir sehen natürlich das, was in Gaza passiert, und wir sind vor allen Dingen sehr besorgt über die humanitäre Situation und sind der Meinung, dass humanitäre Hilfe geleistet werden könnte. Wir haben ja auch selbst die humanitäre Hilfe für die Menschen in Gaza erhöht und haben uns für humanitäre Feuerpausen dort ausgesprochen, um diese Hilfe leisten zu können und die Bevölkerung dort versorgen zu können.

Deschauer (AA)
Zu Ihrer zweiten Frage: Wir haben die Äußerung zur Kenntnis genommen, aber ich kann darauf verweisen, dass Außenministerin Baerbock, die ja derzeit beim G7-Außenministertreffen in Tokio ist, sich am heutigen späten Vormittag deutscher Zeit in einer Pressekonferenz geäußert hat und auch klare Orientierungspunkte zu der Diskussion, die im G7-Rahmen stattgefunden hat, gegeben hat. Die Diskussion ging in verschiedene Richtungen, aber eine große Frage war sicherlich auch, mit Blick auf die palästinensischen Gebiete über den Tag hinaus zu denken. Ein enger und intensiver Austausch fand in diesem Kreise statt.

Wir haben dieses Pressestatement der Ministerin verteilt. Sollte das noch nicht an Sie herangekommen sein, dann kann ich hier sehr kurz die Referenzpunkte erwähnen. Die Ministerin hat als Orientierungspunkte gegeben: Von Gaza darf in Zukunft keine terroristische Gefahr mehr ausgehen; Palästinenserinnen und Palästinenser dürfen nicht vertrieben werden; keine Besetzung von Gaza, sondern bestmöglich internationaler Schutz; keine territoriale Reduzierung von Gaza; keine Lösung über die Köpfe der Palästinenserinnen und Palästinenser hinweg. Ich glaube, mit diesen Orientierungspunkten, die ein Beitrag zu der Diskussion sind, die gerade in Tokio stattgefunden hat, beantworte ich Ihre Frage.

Frage Jung
Da Frau Hoffmann gerade die Sorge über die humanitäre Lage in Gaza angesprochen hatte: Ist die Bundesregierung besorgt über die zivilen Opfer in Gaza? Haben Sie einen Überblick über die zivilen Opferzahlen?

Hoffmann
Es geht natürlich darum  und das ist auch immer wieder ausgedrückt worden, zivile Opfer, so das irgend möglich ist, in diesem Konflikt zu vermeiden. Das ist ein wichtiges Anliegen, und wir sehen, dass das gewährleistet werden soll, so gut es eben möglich ist.

Konkrete Zahlen kann ich Ihnen hier jetzt nicht nennen. Es ist ja so, das hat Kollege Hebestreit hier, glaube ich, in der letzten Regierungspressekonferenz noch einmal sehr deutlich ausgeführt, dass wir keine glaubwürdigen Angaben haben; denn die Hamas ist für uns keine glaubwürdige Quelle, und schon gar nicht, was Opferzahlen angeht. Insofern kann ich hier jetzt nicht mit exakten Zahlen dienen.

Zusatzfrage Jung
Das Thema mit Opferzahlen hatten wir ja schon, nämlich dass die UN in Bezug auf die bisherigen Kriege in Gaza die Opferzahlen der Gesundheitsbehörde vor Ort als glaubwürdig eingestuft hat, weil sie im Nachhinein diese Zahlen überprüft hat. Man geht auch von einer Mindestzahl von Opfern aus, die aktuell berichtet wird.  Ich hatte aber konkret gefragt, ob Sie besorgt sind über die bisherigen zivilen Opfer durch Luftangriffe.

Frau Deschauer, haben Sie vielleicht einen Überblick über Opferzahlen? Bei den Zahlen der UN geht es jetzt offenbar schon in die fünfstelligen Zahlen.

Hoffmann
Ich weiß nicht, ob Frau Deschauer da mehr sagen kann, aber wir sind grundsätzlich sehr vorsichtig, was Zahlen angeht. Wir haben aber auch gesagt: Natürlich ist jedes Opfer ein Opfer zu viel. Es geht darum, zivile Opfer, so irgend möglich, zu vermeiden.

Deschauer (AA)
Ich habe den Ausführungen der stellvertretenden Regierungssprecherin in der Sache nichts hinzuzufügen.

Zusatzfrage Jung
Das Auswärtige Amt hat keine Zahlen?

Deschauer (AA)
Ich habe den Ausführungen der stellvertretenden Regierungssprecherin, sie hat sich hier ja ausführlich geäußert und auch hergeleitet, nichts hinzuzufügen.

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Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 08.11.2023