Bundesregierung rechtfertigt Komplettblockade des Gazastreifens und sieht darin keine Verletzung des Völkerrechts

Bundesregierung rechtfertigt Komplettblockade des Gazastreifens und sieht darin keine Verletzung des Völkerrechts

Bundesregierung rechtfertigt Komplettblockade des Gazastreifens und sieht darin keine Verletzung des Völkerrechts

Florian Warweg
Ein Artikel von: Florian Warweg

Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant hat am 9. Oktober eine „vollständige Belagerung des Gazastreifens“ angeordnet, welche auch bereits umgesetzt wurde. Seit Montag dieser Woche kommen kein Trinkwasser, keine Lebensmittel und kein Strom mehr in den Gazastreifen, der völkerrechtlich immer noch als „von Israel besetztes Territorium“ gilt und in dem über zwei Millionen Menschen leben, darunter eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Die NachDenkSeiten fragten auf der Bundespressekonferenz, ob der Bundeskanzler dieses Vorgehen unterstützt und ob er diese Maßnahme als vom Völkerrecht gedeckt ansieht. Die Antwort überrascht wohl noch den abgebrühtesten Zyniker. Von Florian Warweg.

„Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.“

So lautete im Wortlaut die entsprechende Ankündigung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant am 9. Oktober. Die Vereinten Nationen stellten umgehend klar, dass die von Israel angekündigte Total-Blockade des Gazastreifens völkerrechtswidrig sei. So kritisierte der UN-Menschenrechtskommissar, der Österreicher Volker Türk, die Entscheidung, keine Lebensmittel, Wasser, Medikamente und Strom mehr in den Gazastreifen zu lassen. Er betonte, es sei unter dem humanitären Völkerrecht „verboten“, Menschen das vorzuenthalten, was sie zum Überleben brauchen. Ähnlich äußerte sich auch UN-Generalsekretär António Guterres. Selbst der EU-Chefdiplomat Josep Borrell äußerte Kritik an der Maßnahme und erklärte:

„Israel hat das Recht zur Selbstverteidigung, aber das muss in Einklang mit dem internationalen Recht, dem Völkerrecht geschehen und einige der Entscheidungen stehen im Widerspruch dazu. Das heißt, keine Blockade von Wasser, Nahrung oder Elektrizität der Zivilgesellschaft in Gaza, die Öffnung humanitärer Korridore, um sicherzustellen, dass Menschen den Bombardierungen in Gaza entkommen können.“

Doch die Bundesregierung hatte sich bisher zu diesem offensichtlichen Völkerrechtsverstoß nicht geäußert. Ich fragte daher auf der Bundespressekonferenz, wie Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock dieses von UN und EU als völkerrechtswidrig bezeichnete Vorgehen Israels gegen die gesamte Zivilbevölkerung des Gazastreifens bewerten. Die Antwort lässt sich unter dem Motto zusammenfassen ‚Solidarität mit Israel ist wichtiger als Völkerrecht‘:

Im weiteren Verlauf der Bundespressekonferenz versuchten es nochmals zwei Journalisten, der freie Journalist Hans Jessen sowie der iranisch-stämmige Journalist Oliver Towfigh Nia, die völkerrechtliche Bewertung der Bundesregierung zur Totalblockade in Erfahrung zu bringen:

Frage Jessen:

Herr Wagner, habe ich Sie richtig verstanden, dass die Position des UN-Menschenrechtsbüros, dass eine komplette Abriegelung des Gazastreifens von allen Lebens- und Überlebensnotwendigkeiten wie Wasser, Strom und Energie gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen würde, auch die Position der Bundesregierung ist?

Wagner (AA):

Herr Jessen, ich habe mich vorhin dazu eingelassen sehr ausführlich , dass Israel das völkerrechtlich verbriefte Recht hat, sich gegen den laufenden Angriff, den Terrorangriff der Hamas, zu verteidigen. Dieses Recht unterstützen wir, und dabei stehen wir an der Seite Israels. Ich habe ja aber auch ausgeführt, dass dieser Angriff andauert und dass natürlich auch in dieser absoluten Ausnahmesituation der Schutz der Zivilbevölkerung ein Gebot des humanitären Völkerrechts ist.

Zusatzfrage Jessen:

Wir kennen alle die Äußerungen des israelischen Verteidigungsministers von vorgestern, der genau das angekündigt hat, eine komplette Abriegelung des Gazastreifens. Diese Ankündigung bzw. die Umsetzung ist nach Auffassung des UN-Menschenrechtsbüros völkerrechtswidrig. Ich möchte einfach nur wissen: Ist das die Position der Bundesregierung? Was werden Sie dafür tun, dass kein solches völkerrechtswidriges Abriegeln stattfindet?

Stellvertretende Regierungssprecherin Hoffmann:

Diese Frage ist ja jetzt hier zum vierten Mal, glaube ich, gestellt worden, und wir werden sie auch jetzt, beim vierten Mal, nicht anders beantworten als damit, dass für uns in diesem Moment, da Israel auf diese brutale Weise angegriffen wurde, die Solidarität mit Israel im Vordergrund steht und dass Israel das Recht hat, sich zu verteidigen.

Frage Towfigh Nia:

Herr Wagner, ich versuche es noch einmal, zum fünften Mal: Stehen die militärischen Aktionen Israels im Einklang mit dem internationalen humanitären Völkerrecht, ganz einfach, ja oder nein?

Wagner (AA):

Herr Towfigh Nia, Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich gegen diesen massiven Terrorangriff der Hamas zu verteidigen.

Zusatzfrage Towfigh-Nia:

Das heißt, es ist im Einklang, ja?

Wagner (AA):

Das ist Ihre Wertung. Ich habe das gesagt, was ich gesagt habe.

Zuruf Towfigh Nia:

Ich versuche, Ihre Wertung in Erfahrung zu bringen!

Wagner (AA):

Ich beantworte die Frage so, wie ich sie beantworte.

Die immer wieder von den Sprechern des Auswärtigen Amts und des Kanzlers genutzte Standardantwort „Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht…“ ist, das sollten sich die entsprechenden Vertreter von AA und Bundespresseamt bewusst machen, auch auf die palästinensische Seite anwendbar. Denn die Bundesregierung erklärte auf meine Nachfrage zur generellen völkerrechtlichen Bewertung des Status von Gazastreifen und Westbank, dass die Bundesregierung, ebenso wie UN oder auch die USA, beide Gebiete nach wie vor als „von Israel besetzte palästinensische Gebiete“ betrachtet. Und das Völkerrecht räumt explizit besetzten Völkern das Recht auf bewaffneten Widerstand ein. So heißt es unter anderem im völkerrechtlichen Standardwerk von Antonio Cassese „International Law“, veröffentlicht in Oxford 2001:

„Diese Regel bestimmt, dass, wenn Völkern, die kolonialer Herrschaft oder fremder Besetzung unterliegen, gewaltsam das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird, solche Völker und Gruppen rechtlich befugt sind, zu bewaffneter Gewalt zu greifen, um ihr Recht auf Selbstbestimmung zu verwirklichen.“

Noch deutlicher wird das Standardwerk „Akehurst`s Modern Introduction to International Law“ (London 1997). Dort heißt es:

„Es gibt eine allgemeine Übereinstimmung, dass Völker, die ein legales Recht auf Selbstbestimmung haben, berechtigt sind, einen Krieg der nationalen Befreiung zu führen.“

Die im vorliegenden Fall erfolgende selektive Auslegung und Auslebung von Völkerrecht durch die deutsche Regierung könnte sich ganz schnell zu einem Bumerang entwickeln …

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Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 11.10.2023