Patrik Baab: „Der Journalismus taugt nicht mehr als Informationsquelle“

Patrik Baab: „Der Journalismus taugt nicht mehr als Informationsquelle“

Patrik Baab: „Der Journalismus taugt nicht mehr als Informationsquelle“

Ein Artikel von Marcus Klöckner

„Wenn die Journalisten in Deutschland ihre Arbeit gemacht hätten, wäre es wahrscheinlich zu diesem Krieg in der Ukraine nicht gekommen“ – das sagt der Journalist und Autor Patrik Baab im zweiten Teil seines Interviews mit den NachDenkSeiten. Während der Fokus im ersten Teil des Interviews auf Baabs Reise an die Fronten im Ukraine-Krieg gerichtet war, folgt nun der Blick auf Medien und Journalismus. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Während Ihrer Reise hat sich etwas ereignet, worauf Sie nicht gefasst waren, oder? Sprich: „Angriff“ auf Sie aus dem Heimatland. Was ist passiert?

Sie wissen ja, dass ich als Wahlbeobachter Putins hingestellt worden bin und daraufhin zwei Lehraufträge verloren habe – an der HMKW und der Uni Kiel. Der Vorwurf war natürlich Blödsinn, wie es auch im Verfahren gegen die Uni Kiel das Verwaltungsgericht Schleswig erkannt und in der schriftlichen Urteilsbegründung ausgeführt hat. Mit diesen Vorgängen habe ich tatsächlich nicht gerechnet, und sie sind in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Nämlich?

Zum einen wäre es vor 25 Jahren, als ich im Kosovo war, undenkbar gewesen, dass journalistische Drohnenpiloten am Bildschirm in warmen Redaktionen einem Rechercheur im Kriegsgebiet in den Rücken fallen. Dass dies heute möglich ist, zeigt die Verkommenheit der ganzen Branche. Man kann ihr nur zugutehalten, dass T-Online, also der Taktgeber, in meinen Augen kein journalistisches Medium ist. T-Online gehört dem Ströer-Konzern, einem Werbeunternehmen. Der größte Kunde von Ströer ist der Staat, also Bund, Länder und Gemeinden. Damit ist die Auffassung, dass der Staat Ströer in der Hand hält, alles andere als abwegig. Und T-Online kann mit solchen Skandalisierungen, also dem Wecken und der Monetarisierung von Ressentiments, nicht nur die Klickzahlen und damit die Werbeeinnahmen erhöhen, sondern auch dem größten Auftraggeber noch einen Gefallen tun. So wirkt T-Online wie eine ausgelagerte Propaganda-Agentur der Bundesregierung. Zum Zweiten zeigt der Vorgang, wie weit die Unterwerfung der Universitäten unter die NATO-Propaganda bereits gediehen ist.

Sie kritisieren auch die Kieler Uni. Warum? Schildern Sie bitte noch mal kurz für unsere Leser, was vorgefallen ist.

Die Universität Kiel hat einen schon ausgefertigten Lehrauftrag im Eilverfahren aufgehoben. Meine Recherchen im Donbass, so der Vorwurf, legitimierten Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Insbesondere hätte ich mir die Rolle eines Wahlbeobachters angemaßt. Dagegen bin ich gerichtlich vorgegangen.

Die Universität Kiel, die sich bereits 1914 und 1933 als Kriegstreiber- und Sturmuniversität hervorgetan hat, hat meiner Ansicht nach aus ihrer Vergangenheit wohl nicht so viel gelernt. Und den Politikwissenschaftlern, bei denen ich als Lehrbeauftragter tätig gewesen bin, möchte ich einen Satz eines ihrer Nestoren, des linksradikaler Tendenzen unverdächtigen Prof. Karl-Dietrich Bracher, aus seinem Buch „Die deutsche Diktatur“ über die Entstehung des Nationalsozialismus ins Stammbuch schreiben: „Die Synkrisis des deutschen Geisteslebens mit der nationalen Revolution Hitlers war bestürzend nicht nur im Blick auf die Primitivität des Ideenkonglomerats, aus dem die NS-Weltanschauung gespeist wurde, sondern mehr noch durch die blinde Unterwerfung unter ihren betont unduldsamen Ausschließlichkeitsanspruch. Aber dies demonstrierte nur den Vorgang der Selbstgleichschaltung, der von Staatsrechtlern zu Nationalökonomen, von Historikern zu Germanisten, von Philosophen zu Naturwissenschaftlern, von Publizisten zu Dichtern, Musikern, bildenden Künstlern reichte. Untrennbar griffen Byzantinismus, Manipulation und Zwang ineinander.“

Sie setzen aber nicht die Zeit von damals mit der Zeit heute gleich?

Nein. Aber eine Selbstgleichschaltung von Universitäten mit einer Kriegspartei ist meiner Meinung nach auch heute zu beobachten. Dabei wirken die ideologischen Apparate – Universitäten, Medien, Kirchen, Schulen usw. – wie kommunizierende Röhren. Einer schafft die Vorlage für den Nächsten. Gelingen kann dies nur, weil die Unterwerfung der gesamten Öffentlichkeit jahrelang vorbereitet wurde: Mit mindestens 27.000 PR-Mitarbeitern sucht das Pentagon Medien, Unis und Öffentlichkeit zu beeinflussen, und die NATO hat den Krieg um die Köpfe längst begonnen. Dabei ist dieser Krieg in der Ukraine nicht vom Himmel gefallen und war schon gar kein „unprovozierter“ Angriffskrieg.

Sondern?

Zu einem Gesamtbild gehören eben auch die NATO-Osterweiterung, die systematische Hochrüstung der Ukraine, der Beschuss der Donbass-Bevölkerung seit 2014, die bewusste Nichteinhaltung des Minsker Abkommens durch Kiew, die NATO-Manöver auf dem Boden der Ukraine, die bilateralen Militärabkommen von Kiew und Washington und der Versuch, die Ukraine in die NATO hineinzuziehen. Die Ausblendung von all dem, was in den Krieg geführt hat, kann aber nur gelingen, weil die Bevölkerung durch Propaganda geblendet und aufgehetzt ist, und hieran hat die Presse entscheidenden Anteil.

Wie substantiiert waren denn aus Ihrer Sicht die Anschuldigungen?

Das war Blödsinn, und das zeigt wieder, dass man die Wirklichkeit am Bildschirm nicht erkennen kann. Ich bin in russischen Medien als Wahlbeobachter dargestellt worden, obwohl ich ausgeführt habe, dass ich bei einer Pressekonferenz nicht als Wahlbeobachter spreche, sondern als Journalist, der für ein Buch recherchiert. Die Zivilkammer der russischen Föderation hat mich auch nicht als Wahlbeobachter geführt, was leicht feststellbar gewesen wäre. Zuvor sind wir lediglich mit dem Bus der Wahlbeobachter über die Grenze gefahren. Hintergrund war, dass wir gewarnt wurden: Wegen meines deutschen Passes würde ich wahrscheinlich an der Einreise gehindert. Also firmierten wir am Grenzposten als journalistische Begleiter. Auf der anderen Seite bewegten wir uns dann völlig selbstständig.

Wie aufgehetzt und irrational die Reaktionen gewesen sind, zeigte sich auch daran, dass man mir vorgeworfen hat, ich rechtfertigte Putins Angriffskrieg. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Schleswig nimmt auch dazu klar Stellung. In der Urteilsbegründung heißt es, man dürfe einem Journalisten schlicht nicht verwehren, seine Arbeit zu machen, und eine negative Sanktionierung durch eine Universität sei eben auch ein Verstoß gegen die Meinungs- und Informationsfreiheit nach Artikel 5 Grundgesetz. Besonders dämlich haben sich die NDR-Leute von Zapp drangestellt. Es hätte genügt, einmal ein paar meiner Berichte und Reportagen im digitalen Filmarchiv zu schauen, in denen ich mich kritisch mit Putins Russland auseinandersetze. Dazu hätte man nicht einmal den Hintern hochkriegen müssen. Aber dieser grobe Unfug in der Sendung Zapp erfolgte ja offenbar auf Wunsch von Führungskräften. Mein Anwalt sagte dazu: „Dummheit ist leider nicht justiziabel!“

Ihre Reise hatte also schwerwiegende persönliche Konsequenzen für Sie. Wie sieht es heute aus? Sie sprachen es an, Sie sind vor Gericht gezogen.

Das Verfahren gegen die Uni Kiel habe ich gewonnen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts fiel eindeutig aus.

Das Verwaltungsgericht Schleswig-Holstein hat unter Vorsitz des Vizepräsidenten Dr. Malte Sievers diesen Schritt für illegal erklärt. In der schriftlichen Urteilsbegründung heißt es wörtlich: „Der umfassende Schutz der Pressefreiheit beinhaltet alle Verhaltensweisen, die der Gewinnung, Aufbereitung und Verbreitung von Meinungen und Tatsachen für die Öffentlichkeit dienen. Trägern der Pressefreiheit steht zudem ein subjektives Abwehrrecht auch gegen mittelbare Beeinträchtigungen zu. Das Verhalten des Klägers fällt in diesen Schutzbereich, weil er während der Zeit der Referenden in der Ostukraine reiste, als Journalist für ein Buchprojekt recherchierte und – zumindest auch – als Journalist auftrat.“ Damit hat die Kammer die Pressefreiheit nach Art. 5 Grundgesetz gestärkt.

Ist das Urteil inzwischen rechtskräftig?

Ja. Die Uni Kiel hat auf den Instanzenzug verzichtet. Denn ich hatte deutlich gemacht, dass ich das Verfahren durch alle Instanzen treiben werde. Hintergrund ist, dass seit 2020 – also seit Beginn der Coronakrise und dann fortgesetzt mit dem Ukraine-Krieg – an Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz mindestens 49 ordentliche Professoren sanktioniert worden sind, weil sie von der staatlichen Propaganda-Linie abgewichen sind, und zwar in allen Fällen unter Umgehung rechtsstaatlicher Verfahren. Dazu gibt es eine wissenschaftliche Studie. Hier ist von Professoren die Rede, nicht vom akademischen Mittelbau oder von den Lehrbeauftragten. Insgesamt könnten wir also auf Hunderte, wenn nicht gar Tausende Fälle kommen. Die Universitäten wollen dieses Spiel, wie es sich auch gegen Frau Prof. Ulrike Guérot oder Herrn Prof. Michael Meyen richtet, weiter in einer Grauzone spielen. Ziel ist offenbar, ein Grundsatzurteil zu vermeiden und gleichzeitig weiter durch die Erzeugung von Angst bei Dritten vorauseilenden Gehorsam zu erzwingen. Ziel ist die Unterwerfung der Universitäten unter die staatliche Propaganda.

In meinem Fall sieht es derzeit so aus: Der Lehrauftrag galt immer nur für das kommende Semester. In Kiel war er schon ausgefertigt. Deshalb hatte ich ein Rechtsschutzbedürfnis. Die HMKW hatte ihren Lehrauftrag noch nicht ausgefertigt, also gab es auch kein Rechtsschutzbedürfnis und damit auch keine rechtliche Grundlage für eine Klage. Allerdings macht auch die Uni Kiel keine Anstalten, mir erneut einen Lehrauftrag anzubieten. Einen entsprechenden Wunsch hatte ich zweimal schriftlich signalisiert. Der Rechtsfrieden ist wiederhergestellt, aber man zeigt sich als schlechter Verlierer. Das zeigt wiederum, worum es in Wahrheit geht: die Ausübung indirekter Zensur.

Wie bewerten Sie die Rolle der Medien in Ihrem Fall?

In meinem Buch „Recherchieren“ habe ich geschrieben, dass sich die bürgerliche Öffentlichkeit gewandelt hat zu einer Zensur- und Denunziationsöffentlichkeit. Dieser Prozess ist nun vollzogen. Bürgerkinder in Redaktionen, die ausgesprochen ungebildet sind und lediglich die Vorurteile ihrer Klasse, also des gehobenen Bürgertums, unters Volk bringen wollen, maßen sich in purer Selbstermächtigung an, bestimmen zu wollen, wer am öffentlichen Diskurs teilnehmen darf und wer nicht. Sie haben offenbar keinen Begriff von demokratischer Öffentlichkeit. Dabei handelt es sich in meinen Augen um Journalisten-Darsteller, die deshalb den Mund so voll nehmen, weil sie sich ausrechnen können, dass sie selbst und ihre Gören nie an der Front landen. Sie schauen lieber den Ukrainern beim Verrecken zu und bedienen ansonsten ihre transatlantischen Karriere-Netzwerke. Ich wünsche diesen Leuten, dass sie mal 48 Stunden an der Front verbringen. Das wäre heilsam.

Worin liegen die Herausforderungen für Journalisten, die sich nicht mit den „Wahrheiten“ der jeweiligen PR-Abteilungen der kriegsführenden Parteien zufriedengeben wollen?

Am Ende läuft es immer darauf hinaus, die Realitätsprobe zu machen. Es ist mir ja von journalistischen Schreibtischbewohnern vorgehalten worden, dass man im Kriegsgebiet zweifellos nur subjektive Eindrücke und Stichproben machen könne. Meine Arbeit im Kriegsgebiet wurde von einem sachfremden Akademiker der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Berlin als „Scheinobjektivität“ bezeichnet. Dies ist die Bankrotterklärung jeder Wissenschaft und die Unterwerfung unter NATO-Propaganda.

Wie meinen Sie das?

Wissenschaft hat ihre Ergebnisse an der Realität zu messen. All das sagt mehr aus über diejenigen, die da Weisheiten von sich geben, als über mich. In meinem Buch „Recherchieren“ habe ich meine Arbeitstechniken dargelegt. Im Kern kommt es darauf an, sich gründlich vorzubereiten, entlang der Fachliteratur, über persönliche Kontakte und Quellen, mit Menschen, die bei der Akkreditierung oder beim Beschaffen von Fahrzeugen, Funkgeräten, Karten usw. helfen können. Das bedeutet: Sie kennen bereits im Voraus erste Ansprechpartner. Vor Ort gleichen Sie Ihre Eindrücke mit anderen Kennern der Region und der Zustände ab: Sehen die das ähnlich – oder hat man versucht, Ihnen einen Bären aufzubinden? Nach der Rückkehr gehen Sie wieder in die Fachliteratur, rufen Experten an, die wissenschaftlich über die Probleme gearbeitet haben, man setzt sich zusammen, überlegt, tauscht Dokumente und Informationen aus. Es ist das, was Journalisten tun sollten.

„Tun sollten“?

Die meisten Journalisten sitzen heute am Computer und halten das, was sie da sehen, für die Wirklichkeit. Sie bringen die Selbstdistanz gar nicht erst auf, sich klarzumachen, dass sie im Netz nur finden, was ein anderer nach eigenen Überlegungen und Interessen hochgeladen hat. Sie sehen also bestenfalls einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Dieser kleine Ausschnitt ist interessengeleitet und damit geprägt von Ideologie und Propaganda. Hier gilt es, solchen Netzfunden erst einmal gar nichts zu glauben, sondern heranzugehen mit Recherche-Methodik und Ideologiekritik. Jeder gute Journalist hat Quellen in der realen Welt. Aber diese Fertigkeiten sind im Journalismus weithin verlorengegangen.

Sie sprachen „Ideologiekritik“ an.

Man glaubt den Propaganda-Narrativen der Mächtigen, staatlichen Autoritäten wird grundsätzlich vertraut, man ist in das Propaganda-System tief verstrickt. Der Schriftsteller Upton Sinclair hat 1934 geschrieben: „Es ist schwer, einen Menschen von etwas zu überzeugen, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.“ So wird der Journalismus selbst zum ideologischen Apparat, der über strategisches Framing die Bevölkerung auf Kriegskurs trimmen will.

Ich habe das einmal anhand der Ukraine-Berichterstattung geprüft. Da werden journalistische Handwerksregeln schlicht nicht eingehalten. Die sieben W – Wer? Wo? Was? Wann? Wie? Warum? Woher die Meldung? – werden teilweise nicht beantwortet. Das Zwei-Quellen-Prinzip ist zum Fremdwort geworden. Der Grundsatz „Et audiatur altera pars“ – auch die andere Seite soll gehört werden – wird nicht eingehalten. Noch im ersten Golfkrieg hatte die ARD mit Christoph Maria Fröhder einen ausgezeichneten Korrespondenten in Bagdad, war also auf beiden Seiten vertreten. Im Ukraine-Krieg hat sie niemanden mehr im Donbass, fast so, als ob man fürchte, Informationen zu erhalten, die auf eine Mitverantwortung der NATO hinweisen. Das alles macht aus einem Angriffskrieg keine Friedensmission, wirft aber ein Licht auf die Verkommenheit der heutigen Medien.

Der Journalismus ist im postfaktischen Zeitalter angekommen, er taugt nicht mehr als Informationsquelle, wohl aber als Mittel zur Mobilisierung und Monetarisierung von Ressentiments. Personalisieren, skandalisieren, denunzieren – das ersetzt Recherche und bedient die niedersten Instinkte der Nutzer. Wir sind angekommen in der Öffentlichkeit bedingter Reflexe, in der Ressentiments zu Geld gemacht werden. Schauen Sie sich doch einmal diese Runden bei Lanz oder Will an. Da kommt es – zum Beispiel bei Ulrike Guérot oder Sahra Wagenknecht – zu journalistischen Entgleisungen, die eines gebührenfinanzierten Systems unwürdig sind. Ich würde so weit gehen, zu sagen: Wenn die Journalisten in Deutschland ihre Arbeit gemacht hätten, wäre es wahrscheinlich zu diesem Krieg in der Ukraine nicht gekommen.

Wie kann man als kritischer Journalist diese Herausforderungen bewältigen? Es scheint ja immer eine Art „Grenzgang“ zu sein: sich einerseits „einzulassen“ und dann aber andererseits eben doch genügend Distanz zu halten und der Öffentlichkeit Informationen zu präsentieren, die die jeweilige Seite nicht präsentiert sehen möchte.

Das habe ich gerade beschrieben. Sie reden mit beiden Seiten, lassen sich mit beiden Seiten ein und verstehen als Erstes einmal, das unsere Lebenserfahrungen unseren Blick auf die Welt prägen und deshalb Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen die Welt verschieden deuten. Ich kenne das aus dem deutsch-französischen Grenzraum, wo ich herkomme. Wenn beide Seiten Tote in der Familie haben, dann wird es mehrere Generationen dauern, bis man sich wieder über den Weg traut. Erst die übernächste oder die dritte Generation danach kommt mit den Traumata zurecht. Es hat keinen Sinn, Menschen mit traumatischen Erfahrungen mit Besserwisserei oder politischer Parteinahme, schon gar nicht mit identitärem Geschwafel zu kommen. Sie müssen akzeptieren, dass dieser Krieg auch dazu führt, dass man hüben und drüben in unterschiedlichen Welten lebt. Denn man neigt dazu, nur die eigenen Toten zu sehen.

In einem Land mit hybrider Kultur und mit verschiedenen Volksgruppen wie der Ukraine, in der es schon eine Herkules-Aufgabe gewesen wäre, ohne Bürgerkrieg und Krieg eine Nation zu formen, wird dies zum Zerbrechen des Landes führen. Ich halte es hier mit der US-amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman. Sie schreibt, die Engstirnigkeit, eine Situation nach vorgefassten, festen Anschauungen einzuschätzen und gegenteilige Anzeichen zu verleugnen, sei ein Zeichen politischer Torheit und führe zu einem Wunschhandeln, das sich von den Tatsachen nicht beirren lässt.

„Wunschhandeln“, ein interessanter Begriff. Spiegel-Gründer Rudolf Augstein hat das Journalistenmotto „Sagen, was ist“ geprägt. Heute scheint aber zu gelten: „Sagen, was sein soll“.

Das sehe ich genauso. Genau in diesem Sinne haben wir es heute mit einem Haltungsjournalismus zu tun, der sich von Fakten nicht beirren lässt. Die ganze Branche leidet an Realitätsverlust. Dies hat damit zu tun, dass – wie gesagt – überwiegend Sprösslinge aus dem gehobenen Bürgertum in Redaktionen ankommen, also Menschen, die ohne materielle Not groß geworden sind. Deshalb treten Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungsnot in der Berichterstattung in den Hintergrund, weil diese Leute so etwas nie erlebt haben. Sie schauen auf die Welt mit den Augen ihrer Klasse.

In diesen Kreisen weiß man, dass man einmal den Aktienfonds der Eltern erben wird. Wenn der Fonds gut gemanagt ist, dann werden die Aktien im Krieg steigen. Der Krieg bringt diesen Personen unter Umständen also einen Zuwachs an Erbmasse. Das wird natürlich so nicht kommuniziert. Sondern man sagt: Wir müssen den armen Ukrainern gegen den bösen Putin helfen. Die Grenzüberschreitung liegt also nicht bei mir, sondern bei denen, die vorgeben, objektiv zu informieren, aber die Interessen ihrer Klasse vertreten und deren Weltsicht unters Volk bringen.

Wie sollten Medien eigentlich über diesen Krieg berichten?

Von beiden Seiten der Front. Gut recherchiert. Nach den Handwerksregeln, die in jedem Lehrbuch stehen. Dann wäre schon viel gewonnen.

Lesetipps: Patrik Baab: Auf beiden Seiten der Front: Meine Reisen in die Ukraine. Westend. 9. Oktober 2023. 256 Seiten. 24 Euro.

Patrik Baab: Recherchieren – Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung. Westend. 28. Februar 2022. 272 Seiten. 20 Euro

Titelbild: wellphoto/shutterstock und Westend Verlag