Israels skandalöser Umgang mit palästinensischen Gefangenen – Folter inbegriffen

Israels skandalöser Umgang mit palästinensischen Gefangenen – Folter inbegriffen

Israels skandalöser Umgang mit palästinensischen Gefangenen – Folter inbegriffen

Ein Artikel von Gabi Weber

Die NachDenkSeiten veröffentlichen hiermit ein Interview, das die promovierte Fachärztin und Palästinakennerin Gabi Weber mit Dr. Siba Irsheid, LL.M., Rechtsanwältin und Syndikus-Abogada (EuRAG), geführt hat. Dieses Interview unterscheidet sich grundlegend von den meisten in Deutschland publizierten Texten zur Situation in Palästina und Israel. Im Interview werden Vorgänge angesprochen, die in den meisten deutschen Medien tabu sind. Albrecht Müller.

Unsere Medien berichten nicht deutlich genug davon, dass palästinensische Jugendliche und sogar Kinder gefoltert werden. Sie berichten ungenügend über die rechtliche Lage und auch nicht darüber, dass für Palästinenser und Siedler im gleichen Gebiet verschiedenes Recht gilt. Palästinenser sind oft rechtlos. Wird darüber für die deutsche Öffentlichkeit gewissenhaft berichtet?

Das Interview ist lang, es erscheint aber wegen vier Seiten wichtiger Quellenangaben länger, als es tatsächlich ist. Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit dafür.

Gabi Weber (GW): Frau Irsheid, Sie haben sich im Rahmen Ihrer Doktorarbeit „Verhaftungen durch die Besatzungsmacht im Zuge einer militärischen Besetzung: der palästinensische Fall. Motivation und Legitimität“ an der juristischen Fakultät der Universidad Nacional de Educación a Distancia (UNED) in Madrid, Spanien über mehrere Jahre mit Rechtsbrüchen des israelischen Staates auseinandergesetzt. Könnten Sie die Ergebnisse grob für die Leserinnen und Leser der NDS zusammenfassen?

Dr. Siba Irsheid (SI): Meine Forschungsarbeit ging von Anfang Oktober 2018 bis Ende Oktober 2022. Als eines der wichtigsten Ergebnisse hat sich herauskristallisiert, dass die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete Westjordanland, Ost-Jerusalem und Gaza nicht im Einklang mit dem Völkerrecht steht und daher rechtswidrig ist.

Aus völkerrechtlicher Sicht [1] kann eine militärische Besatzung gerechtfertigt sein, wenn der besetzende Staat zur Abwehr einer Gefahr das Gebiet des besetzten Staates so lange besetzt hält, bis diese Gefahr beseitigt ist. Folglich ist die militärische Präsenz von vornherein als vorübergehend zu betrachten. Seit Beginn der Besatzung 1967 verfolgt Israel eine Politik, die den Bau von Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten, die Übersiedlung israelischer Bürger in diese Siedlungsgebiete und den Bau von Straßen, die nur für Israelis bestimmt sind und diese Siedlungen nicht nur untereinander, sondern auch mit dem israelischen Staatsgebiet verbinden, umfasst. Dies stellt die offiziell vertretene Absicht Israels, die palästinensischen Gebiete nur vorübergehend zu besetzen, in Frage. Die lange Dauer der Besatzung seit 1967, die Siedlungspolitik mit der stetig zunehmenden, schrittweisen Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel und die Aneignung natürlicher Ressourcen, wie zum Beispiel Wasser, schwächen Israels angebliche „Sicherheitsgründe“, weil sie eher kolonialistische Merkmale sind. [2]

Israel führt Verhaftungen von Palästinensern als „Selbstschutz“ und damit Rechtfertigung zur Aufrechterhaltung des Status quo der militärischen Besatzung durch. [3] Die Bestrafung in Form von Verhaftungen dient ausschließlich dem Schutz israelischer politischer Interessen, z.B. der Siedlungspolitik, und folgt dem Ziel, den Wunsch des palästinensischen Volkes nach Selbstbestimmung zu unterdrücken.

Bei den Handlungen, die Israel als „Verbrechen gegen die Sicherheit“ betrachtet und die in israelischen Militärverordnungen aufgeführt sind, handelt es sich zumeist um Proteste und Aktionen von Palästinensern gegen die militärische Besatzung, gegen die Politik der Annexion der palästinensischen Gebiete und die diskriminierende Behandlung der palästinensischen Bevölkerung. Um palästinensische Proteste zu unterdrücken, setzt Israel eine aggressive und menschenrechtsverletzende Inhaftierungspolitik ein.

GW: Für die besetzten palästinensischen Gebiete gelten also andere Gesetze als für den Staat Israel selbst? Wie ist das dann mit den israelischen Siedlern, die offensichtlich „illegal“ auf palästinensischem, jedoch von Israel besetztem Land leben – welches Recht gilt für sie?

SI: Palästinenser im besetzten Westjordanland unterstehen dem Militärrecht, während für dort lebende jüdische Siedler Zivilrecht angewandt wird. Offiziell sind die israelischen Militärgerichte befugt, jeden zu verurteilen, der im Westjordanland eine Straftat begeht, einschließlich der dort lebenden israelischen Siedler, der in Israel lebenden israelischen Bürger und der Ausländer. Anfang der 1980er-Jahre beschloss der israelische Generalstaatsanwalt jedoch, dass israelische Staatsbürger von den ordentlichen israelischen Gerichten nach israelischem Strafrecht verurteilt werden, auch wenn sie im Westjordanland leben und selbst wenn die Straftat in den besetzten Gebieten Palästinas oder gegen palästinensische Bewohner der besetzten Gebiete begangen wurde. Diese Politik ist nach wie vor in Kraft. [4] Die Angeklagten vor den israelischen Militärgerichten sind daher ausschließlich palästinensische Staatsbürger. Die Zuständigkeit des israelischen Militärgerichts gilt niemals für israelische Siedler, die ebenfalls im Westjordanland leben; diese unterliegen, wie bereits erwähnt, der normalen israelischen Gerichtsbarkeit.

GW: Welche Rolle spielt die PA, die Palästinensische Autonomiebehörde, bezüglich der Rechtsprechung?

SI: Das allgemeine palästinensische Recht gilt nur für das Westjordanland und den Gazastreifen, jedoch lediglich in sehr begrenztem Umfang. Dieses Rechtssystem befasst sich nur mit Angelegenheiten, die Palästinenser betreffen, und ist nicht zuständig für Angelegenheiten, die direkt oder indirekt mit israelischen Sicherheits- oder Militärkräften oder israelischen Siedlern im Westjordanland zu tun haben. Sie gilt auch nicht für Palästinenser, die im Gebiet von Ost-Jerusalem leben.

Die Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde im Anschluss an die Osloer Abkommen (in den 1990er-Jahren) bedeutete theoretisch die schrittweise Übertragung von Befugnissen und Zuständigkeiten der israelischen Besatzungsmacht auf die palästinensischen Behörden. Infolge dieser Abkommen wurden die OPT (Occupied Palestinian Territories – besetzte palästinensische Gebiete) in drei verschiedene Gebiete aufgeteilt, die als A, B und C bezeichnet werden. Gemäß der Oslo-Abkommen würde die Palästinensische Autonomiebehörde die volle Kontrolle über das Gebiet A ausüben, während das Gebiet C vollständig unter israelischer Kontrolle stehen würde; das Gebiet B wurde als „autonome“ Region bezeichnet, die in der Praxis eine palästinensische Verwaltung der Dörfer unter israelischer Sicherheitskontrolle darstellen würde.

Während die Zonen A und C hinsichtlich ihrer Bevölkerung klar definiert sind, d. h. Zone A (zwei Prozent) wird ausschließlich von Palästinensern und Zone C (rund 68 Prozent) von israelischen illegalen Siedlern bewohnt, die in den illegalen Siedlungen leben, ist Zone B (30 Prozent) eine undefinierte Gruppierung zwischen den beiden Zonen, mit palästinensischen Dörfern in der Nähe von Autobahnen oder Straßen, die ausschließlich von israelischen Bürgern genutzt werden dürfen, oder in der Nähe von Gebieten, die von Israel als militärische Sperrzonen definiert sind.

Ost-Jerusalem nimmt eine Sonderposition ein, da es in den Abkommen als Teil der abschließenden Verhandlungen belassen wurde. Allerdings wurde Ost-Jerusalem in den Karten, die die Zonen aufteilen, de facto an Israel angegliedert und unterliegt nun der vollständigen israelischen Kontrolle.

Dies bedeutet, dass Israel faktisch die Sicherheitskontrolle über fast das gesamte Gebiet des Westjordanlandes ausübt und die Palästinensische Autonomiebehörde lediglich eine Verwaltungsfunktion innehat, mit Ausnahme eines kleinen Teils des Gebiets A, wo sie für die Sicherheit zuständig ist, solange keine israelische Person beteiligt ist oder keine Gefahr für den Staat Israel besteht. Im Vertrag von Oslo II wurde 1995 festgelegt, dass diese Aufteilung des Westjordanlandes in drei Zonen für fünf Jahre vorläufig ist, aber die Aufteilung besteht bis heute.

GW: Welche Funktion haben das israelische Militärgerichtssystem und die dazugehörigen israelischen Militärgerichte?

SI: Das Militärgerichtssystem gibt den Beamten der Israelischen Sicherheitsbehörde (ISA, Israeli Security Agency) größere Flexibilität bei der Durchführung von Verhören palästinensischer Gefangener und reduziert die rechtlichen Garantien für die Palästinenser auf das absolute Minimum, das weit unter den Garantien des israelischen Zivilrechts liegt. Gemäß OM 1651, Kapitel C, Artikel 38, kann ein Palästinenser ohne Anklage für einen Gesamtzeitraum von 90 Tagen ausschließlich zum Zweck des Verhörs festgehalten werden, während ein israelischer Staatsbürger, der eines Sicherheitsdelikts beschuldigt wird, ohne Anklage für einen Zeitraum von 64 Tagen festgehalten werden kann. Gerichtsverfahren gegen Palästinenser vor Militärgerichten müssen 18 Monate nach der Inhaftierung abgeschlossen sein, während die Frist für israelische Häftlinge vor israelischen Strafgerichten neun Monate beträgt.

Nach dem Völkerrecht ist es nicht zulässig, dass Israel sein Zivilrecht auf die Palästinenser im Westjordanland anwendet, da dies einer illegalen Annexion gleichkäme. [5] Außerdem müssen die auf die Palästinenser angewandten Gesetze Rechte und Schutzmaßnahmen enthalten, die nicht nachteiliger sind als die, die für die in den Siedlungen lebenden Israelis gelten; andernfalls würde der Grundsatz der Nichtdiskriminierung verletzt werden. Israel wendet, wie schon gesagt, im Westjordanland weiterhin zwei Rechtssysteme an, deren Anwendungskriterien auf der Rasse oder der nationalen Identität der betroffenen Personen beruhen.

Laut Art. 64 Abs. 2 des Vierten Genfer Abkommens kann die Besatzungsmacht der Bevölkerung des besetzten Gebietes die Vorschriften/Bestimmungen/Gesetze (in unserem Fall military orders: Militärverordnungen) auferlegen, die unerlässlich sind, um dieser Besatzungsmacht die Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Genfer Abkommen zu ermöglichen und so die normale Verwaltung des Gebietes und die Sicherheit sowohl des Besatzers selbst als auch seiner Angehörigen und des Vermögens der Besatzungstruppen oder der Verwaltung der Besatzung sowie der von ihr benutzten Einrichtungen und Verkehrswege zu gewährleisten. Artikel 66 des Vierten Genfer Abkommens erlaubt es der Besatzungsmacht, die Angeklagten im Falle der Verletzung der von ihr erlassenen Strafbestimmungen ihren Militärgerichten zu unterstellen.

Israel hat die Militärgerichte für die Verfolgung und Verurteilung von Palästinensern eingerichtet. Diese verstoßen jedoch gegen die allgemein anerkannten Rechte und Grundsätze eines fairen Verfahrens in allen Phasen des Prozesses. Auch in Bezug auf Minderjährige werden diese prinzipiellen theoretischen Garantien nicht von Israel eingehalten, wobei erschwerend hinzukommt, dass viele Minderjährige inhaftiert werden und die Verurteilung bis zu ihrer Volljährigkeit aufgeschoben wird, damit sie wie Erwachsene vor Gericht gestellt werden können – ungeachtet ihres Alters zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Straftat. [6] Bei den Rechten auf ein faires Verfahren könnte man für die Notwendigkeit bestimmter Ausnahmen in bestimmten Situationen plädieren, wenn sie nicht in diskriminierender Weise angewandt würden: Von den Rechten der Palästinenser wird abgewichen, von den Rechten der Israelis, die in demselben Gebiet leben, nicht. [7] Eine solche Abweichung darf nicht auf der Grundlage von Rasse, Sprache, Religion oder sozialer Herkunft diskriminierend sein. [8]

Was die Inhaftierung palästinensischer Minderjähriger betrifft, die Israel sogar mitten in der COVID-19-Pandemie weiterhin praktizierte, legt dies den bestehenden antipalästinensischen Rassismus noch deutlicher offen, insbesondere wenn man bestimmte Verhaltensweisen analysiert, die keine andere nachvollziehbare Rechtfertigung haben als den Wunsch, Minderjährige und deren Eltern zu demütigen oder ihnen unnötiges Leid zuzufügen. [9] Die Häufigkeit, mit der solche Handlungen vorkommen, sowie die Tatsache, dass sie straffrei bleiben, zeigen, dass solche Verhaltensweisen stillschweigend von Israel akzeptiert werden. [10]

Israel, das jedes Jahr zwischen 500 und 700 palästinensische Kinder inhaftiert und strafrechtlich verfolgt, scheint, nach Defense for Children International Palestine, das einzige Land der Welt zu sein, das Kinder automatisch und systematisch von Militärgerichten inhaftieren und strafrechtlich verfolgen lässt, da die Militärgerichte weniger Garantien in Bezug auf die Grundrechte und den Schutz eines fairen Verfahrens bieten. [11] Bedauerlicherweise werden palästinensische Minderjährige von israelischen Militär- und Polizeikräften mit alarmierender Häufigkeit verhaftet, und es ist sehr besorgniserregend, dass die verhafteten Minderjährigen immer jünger werden. [12]

Nach Angaben der israelischen Organisation Yesh Din werden mehr als 90 Prozent der Akten über Gewalttaten von israelischen Siedlern gegen Palästinenser ohne Anklage geschlossen. Im Falle der Palästinenser hingegen sind sich die Anwälte einig, dass die überwiegende Mehrheit der Verfahren mit Verurteilungen endet. [13]

Kurz gesagt: Die jüdischen Siedler und die palästinensische Bevölkerung in den besetzten palästinensischen Gebieten leben gemeinsam unter einem Regime, das bei der Anerkennung von Rechten auf der Grundlage der nationalen und ethnischen Identität Unterschiede macht [14] und damit gegen den Grundsatz verstößt, dass kein Staat zwischen denjenigen, über die er die Strafgerichtsbarkeit ausübt, auf der Grundlage der Rasse oder der nationalen Identität diskriminieren darf.

GW: Könnten Sie Beispiele für diese unterschiedliche Behandlung nennen?

SI: Ja natürlich – leider gibt es mehr als genug davon! Beispielsweise werden Palästinenser, die von einem Militärgericht wegen Mordes verurteilt werden, effektiv zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, während ein Israeli, der von einem Strafgericht wegen desselben Verbrechens zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wird, höchstens 20 Jahre ins Gefängnis muss. Außerdem können nach dem israelischen Strafgesetzbuch nicht-palästinensische Verurteilte nach Verbüßung der Hälfte ihrer Strafe freigelassen werden, während Palästinenser, die unter dem Militärregime verurteilt wurden, erst nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe einen Antrag auf Bewährung stellen können. Im Allgemeinen werden palästinensische Häftlinge nur selten vorzeitig auf Bewährung entlassen. [15]

Die Strafmündigkeit beginnt sowohl für Palästinenser als auch für Israelis im Alter von zwölf Jahren. Palästinenser werden jedoch im Rahmen des Militärgerichtssystems mit 16 Jahren als Erwachsene verurteilt, während das israelische Justizsystem die Volljährigkeit auf 18 Jahre festlegt. Diese Militärverordnung wurde am 27. September 2011 geändert und das Volljährigkeitsalter auch für Palästinenser auf 18 Jahre festgesetzt. Es wurde jedoch bis heute nicht umgesetzt. [16] Während israelische Gesetze und polizeiliche Anordnungen besagen, dass in Israel inhaftierte Minderjährige nur von speziell für diese Aufgabe ausgebildeten Polizeibeamten verhört werden dürfen, werden palästinensische Kinder von Polizei- oder ISA-Beamten verhört, und zwar in Situationen, die einschüchternd sind, in denen es keine wirkliche Form der Aufsicht gibt und die von Missbrauch geprägt sind.

Auch die Sprache ist ein grundlegendes Problem in den Militärgerichten. Die israelische Rechtsprechung legt fest, dass ein Gefangener in seiner eigenen Sprache verhört werden und dass seine Aussage auch in dieser Sprache verfasst werden muss. In der Praxis wird das Geständnis oder die Aussage des palästinensischen Gefangenen jedoch häufig von einem Mitglied der Polizeikräfte auf Hebräisch verfasst, wodurch der Gefangene gezwungen wird, eine Aussage oder ein Geständnis zu unterschreiben, das er nicht versteht. Diese „Geständnisse“ sind wiederum das Hauptbeweismittel gegen palästinensische Gefangene vor israelischen Militärgerichten. [17]

Selbst denjenigen, die eines Verbrechens angeklagt sind, wird vor Militärgerichten routinemäßig das Recht auf ein ordentliches Verfahren vorenthalten. [18] Viele der Palästinenser, die wegen „Sicherheitsvergehen“ verurteilt wurden und eine Haftstrafe verbüßen (2.331 Personen, Stand 1. November 2023), haben sich auf einen Vergleich (plea bargain) mit der israelischen Militärstaatsanwaltschaft eingelassen, um eine lange Untersuchungshaft und Schein-Militärprozesse zu vermeiden, bei denen die Verurteilungsquote gegen Palästinenser nahezu 95 Prozent beträgt. [19]

Wie Human Rights Watch und andere israelische, palästinensische und internationale Menschenrechtsorganisationen festgestellt haben, ist die Diskriminierung bei Festnahme und Inhaftierung nur ein Aspekt der systematischen Unterdrückung, die den Verbrechen der israelischen Behörden gegen die Menschlichkeit, der Apartheid [20] und der Verfolgung der Palästinenser zugrunde liegt.

GW: Was konnten Sie im Rahmen Ihrer Forschungsarbeit über die Behandlung der palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen herausfinden?

SI: Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung verstößt Israel gegen die Menschenrechte und lässt u. a. Folter zu. Auch palästinensische Kinder werden gefoltert, um Informationen, Geständnisse oder Bekenntnisse zu erzwingen. Wenn es moralisch inakzeptabel ist, Folter an sich überhaupt als „probates“ Mittel anzuwenden, so ist die Folterung von Minderjährigen auf keinen Fall hinnehmbar. Die Folterung sowohl von Minderjährigen als auch von erwachsenen palästinensischen Gefangenen mit geistigen/körperlichen Behinderungen dient dazu, deren Verhalten mit umfassenderen Sicherheitsbelangen in Verbindung zu bringen.

Die Tatsache, dass Soldaten, Polizisten und Bedienstete des israelischen Sicherheitsdienstes palästinensische Gefangene, darunter auch Minderjährige [21], weiterhin ungestraft foltern und anderweitig misshandeln, zeigt, dass der Staat Israel diese diskriminierende Politik stillschweigend akzeptiert. [22]

GW: Das sind schwere Anschuldigungen, Frau Irsheid. Können Sie etwas über die Foltermethoden berichten und auch, welche Quellen Sie zu diesem Thema finden konnten?

SI: Ja, Sie haben recht, das sind in der Tat schwerwiegende Schlussfolgerungen. Dennoch ist dies das Ergebnis meiner vierjährigen Forschungs- und Promotionsarbeit, die ich auf 344 Seiten niedergeschrieben habe und die 1667 Fußnoten mit Quellenangaben beinhaltet. Diese Quellen sind wissenschaftlich belegt in meiner Doktorarbeit, die mit Summa Cum Laude ausgezeichnet wurde. Natürlich wäre es gut, zuerst die Dissertation, die aktuell nur auf Spanisch vorliegt, selbst zu lesen, um zu wissen, wie ich zu diesen Ergebnissen gekommen bin. Allerdings geht es hier in diesem Interview in erster Linie um eine grobe Zusammenfassung meiner Ergebnisse.

Tatsächlich war meine Befürchtung anfangs, dass es nicht genug wissenschaftliche Literatur über dieses Thema geben würde, und meine Empörung war groß, als ich feststellte, dass alle Menschenrechtsverletzungen durch die verschiedenen israelischen Regierungen auf höchstem Niveau dokumentiert sind. [23]

Folter von palästinensischen Inhaftierten hat sogar in manchen Fällen der Oberste Gerichtshof Israels erlaubt (siehe Israeli Supreme Court, STC HCJ 769/02 The Public Committee Against Torture in Israel et. al. v. The Government of Israel et. al. (2006)).

Leider durchleben die meisten erwachsenen und mehr als 60 Prozent der minderjährigen palästinensischen Gefangenen verschiedene Foltermethoden, die von den Vernehmungsbeamten meist eingesetzt werden, um ein Geständnis zu erzwingen. [24]

Zu den eingesetzten Foltermethoden gehören Bedrohung mit Schusswaffen, Todesandrohungen, Unterbringung in Isolierhaft, Fixieren in einer bestimmten Position über mehrere Stunden, Schlafentzug, Androhung von Übergriffen gegen oder Inhaftierung von Familienmitgliedern, Verweigerung des Zugangs zu Toiletten während des Verhörs, Schläge und andere Formen körperlicher Gewalt. In zunehmendem Maße setzen israelische Soldaten und ISA-Beamte sexuelle Drohungen ein, um Kinder in Angst und Schrecken zu versetzen und sie zu zwingen, ein bestimmtes Vergehen zu gestehen. Die sexuellen Übergriffe israelischer Vernehmungsbeamter gegenüber Minderjährigen nehmen viele Formen an, darunter das Anfassen im Genitalbereich, die Androhung von Vergewaltigung oder Sodomie mit einem Gegenstand. Die Betroffenen werden hierdurch in so große Angst und Furcht versetzt, dass sie in vielen Fällen Dinge gestehen, die nie passiert sind oder die sie nie getan haben. [25]

Eine andere Technik, die von militärischen Vernehmungsbeamten angewandt wird, besteht darin, die Minderjährigen unter Druck zu setzen, damit sie andere in ihrem Dorf verraten. Es wird auch versucht, sie als regelmäßige Informanten für die Armee zu rekrutieren [26], eine Praxis, die unter anderem durch Artikel 44 der Haager Bestimmungen verboten ist.

46 Prozent der Minderjährigen geben an, dass sie während der Verhaftung, des Transfers in ein israelisches Gefängnis und/oder während des Verhörs beschimpft wurden. Die Beschimpfungen richten sich direkt gegen den Minderjährigen, gegen seine Mutter oder Schwester(n) oder gegen seine Religion. 66 Prozent der betroffenen Minderjährigen berichten, dass sie sich bei ihrer Ankunft in der Haftanstalt einer Leibesvisitation unterziehen, sich dabei nackt ausziehen und bücken mussten.

Viele internationale (z.B. Amnesty International, Human Rights Watch, Defense Children International-Palestine), palästinensische (z.B. Addameer, Military Court Watch) und israelische (z.B. B‘Tselem, Yesh Din, HaMoked) NGOs dokumentieren diese Fälle. Auf den Websites dieser Organisationen findet man eine Vielzahl an Informationen und Statistiken. Die von mir verwendeten Statistiken stammen aus den Jahren 2018 bis 2022, aber sicherlich könnte man dort noch aktuellere Zahlen finden.

Neben dem Fehlen eines ordnungsgemäßen Verfahrens haben die israelischen Behörden jahrzehntelang palästinensische Gefangene misshandelt und gefoltert. [27] Seit 2001 wurden beim israelischen Justizministerium mehr als 1.400 Beschwerden über Folterungen durch den Shin Bet, Israels internen Sicherheitsdienst, eingereicht, darunter schmerzhafte Fesselungen, Schlafentzug und Erleiden von extremen Temperaturen. [28]

Nach Angaben des Öffentlichen Komitees gegen Folter, einer israelischen Menschenrechtsgruppe, haben diese Beschwerden zu insgesamt drei strafrechtlichen Ermittlungen und keiner Anklage geführt. [29] Die Gruppe Military Court Watch berichtete, dass in 22 Fällen von Inhaftierungen palästinensischer Minderjähriger, die sie im Jahr 2023 dokumentierte, 64 Prozent angaben, körperlich misshandelt worden zu sein, und 73 Prozent durch die israelischen Streitkräfte während der Inhaftierung einer Leibesvisitation unterzogen worden seien. [30]

Palästinensische Menschenrechtsgruppen berichteten über einen Anstieg der Verhaftungen und eine Verschlechterung der Bedingungen für palästinensische Gefangene vor dem 7. Oktober 2023, einschließlich gewaltsamer Razzien, Verlegungen und Isolation von Gefangenen, vermindertem Zugang zu fließendem Wasser und Brot sowie weniger Familienbesuchen. Diese Tendenzen haben sich seit dem Beginn des drakonischen Kriegs gegen den Gazastreifen verschärft. [31]

GW: Wie muss man sich die Inhaftierungen von Palästinenserinnen und Palästinensern vorstellen? Im Rahmen des in der vorletzten Woche in allen Medien berichteten Gefangenenaustauschs zwischen der Hamas und Israel hat man wenig bzw. nichts über die Gründe der Inhaftierungen erfahren. Viele gehen vielleicht davon aus, dass es sich hierbei um „echte“ Kriminelle handelt, die kleinere und größere Verbrechen, die auch hier in Deutschland geahndet würden, begangen haben. Ist das im Falle der palästinensischen Gefangenen so?

SI: Natürlich handelt es sich in manchen Fällen auch um „echte“ Kriminelle, die kleinere und größere Verbrechen begangen haben. Aber laut Angaben der oben genannten Menschenrechtsorganisationen werden die meisten Verhaftungen aus politischen Motiven angeordnet. Es stellt sich die Frage, warum Israel so viele Palästinenser in Haft und zum Austausch bereithält und aus welchem Grund sie inhaftiert wurden.

Mit Stand vom 1. November 2023 hielten die israelischen Behörden fast 7.000 Palästinenser aus den besetzten Gebieten (Westbank und Jerusalem) wegen angeblicher Sicherheitsverstöße in Haft, so die israelische Menschenrechtsorganisation HaMoked. Seit den Anschlägen vom 7. Oktober 2023 in Israel wurden bis jetzt Tausende Palästinenser festgenommen und ca. 240 freigelassen. Unter den Festgenommenen befinden sich Dutzende von Frauen und zahlreiche Kinder. [32]

Die meisten der palästinensischen Gefangenen wurden noch nie wegen eines Verbrechens verurteilt, darunter mehr als 2.000, die sich in Verwaltungshaft befinden, bei der das israelische Militär eine Person ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festhält. Eine solche Inhaftierung kann auf der Grundlage geheimer Informationen, die der Inhaftierte nicht einsehen darf, auf unbestimmte Zeit verlängert werden. Verwaltungshäftlinge werden unter der Annahme festgehalten, dass sie irgendwann in der Zukunft eine Straftat begehen könnten. Die israelischen Behörden haben u. a. Minderjährige, Menschenrechtsaktivisten und palästinensische politische Aktivisten in Verwaltungshaft genommen, und dies oft über viele Jahre hinweg. [33]

Eine Untersuchung der Militärverordnungen 101 und 1651, die die Grundlage für die Verhaftungen bilden, sowie verschiedene UN-Berichte und Menschenrechtsorganisationen stützen meine Behauptung, dass Verhaftungen durch die israelischen Behörden als Abschreckungsmittel eingesetzt werden, um den Widerstand zu beenden. Die Inhaftierung palästinensischer Minderjähriger und Erwachsener wird so zu einer Methode der Unterdrückung und Rassendiskriminierung. [34]

Die in den Militärgerichten durchgeführten Prozesse und Verurteilungen werden als Instrument zur politischen oder rassistischen Verfolgung eingesetzt. So werden Straftaten wie die Mitgliedschaft in illegalen Vereinigungen kriminalisiert – wobei die Festlegung, dass eine Vereinigung als illegal deklariert wird, von der Entscheidung eines israelischen Militärkommandanten abhängt. Ein weiteres „Verbrechen“ seitens der Palästinenser, das häufig als Grund für drakonische Maßnahmen angeführt wird, ist die „Störung der öffentlichen Ordnung“, insbesondere das Werfen von Steinen.

Palästinenser können inhaftiert werden, wenn sie ohne Genehmigung an einer Versammlung von nur zehn Personen zu einem Thema teilnehmen, das als „politisch“ ausgelegt werden könnte, während Siedler ohne Genehmigung demonstrieren können, es sei denn, die Versammlung umfasst mehr als 50 Personen, findet im Freien statt und beinhaltet „politische Reden und Erklärungen“.

Diese Militärverordnungen sind sehr zweideutig formuliert und bieten einen großen Interpretationsspielraum, was einen Verstoß gegen den Legalitätsgrundsatz darstellt.

Auch die Militärverordnungen genügen nicht den Anforderungen des Art. 65 des Vierten Genfer Abkommens, das festlegt, dass die von der Besatzungsmacht erlassenen Militärverordnungen erst dann in Kraft treten, wenn sie veröffentlicht und der Bevölkerung in ihrer Sprache bekannt gemacht wurden – Anforderungen, die bis heute nicht erfüllt wurden.

Die erwähnte Militärverordnung 101 kriminalisiert unter dem Begriff „politische Anstiftung“ zivile Aktivitäten im Zusammenhang mit der Ausübung bürgerlicher und politischer Rechte, darunter: die Teilnahme an Versammlungen oder Mahnwachen, insbesondere zum Gedenken an die Nakba (auf Arabisch bedeutet dies die Katastrophe, die mit der Vertreibung und Ermordung Hunderttausender Palästinenser im Rahmen der israelischen Staatsgründung 1948 einherging, also den palästinensischen Exodus); Handlungen, die der öffentlichen Meinungsbildung dienen, wie zum Beispiel das Drucken und Verteilen von politischem Material sowie die Organisation und Teilnahme an Protesten, (zum Beispiel gegen die durch Israel illegal errichtete Trennungsmauer), auch wenn diese friedlich verlaufen.

In der Militärverordnung 1651 wurden die sogenannten „Sicherheitsbestimmungen“, die die Zugehörigkeit zu oder die Unterstützung feindseliger Organisationen unter Strafe stellen, festgelegt.

Ich möchte darauf hinweisen, dass es im Hinblick auf den Vorwurf der „Mitgliedschaft oder Unterstützung einer feindlichen Organisation“ in den meisten Fällen nicht möglich ist, ausreichende Beweise gegen die Festgenommenen vorzulegen, weshalb diese auf der Grundlage von Verwaltungshaftanordnungen inhaftiert werden. Dies führt dazu, dass hierdurch keine Notwendigkeit besteht, diese Beweise vorzulegen oder den Häftling über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu informieren.

Israel setzt die Verwaltungshaft routinemäßig und als Kollektivstrafe mit der Behauptung ein, dies sei als Präventionsmaßnahme zur Abwehr zukünftiger Bedrohungen zu sehen. Berichten des Menschenrechtsausschusses, des CAT (Committee Against Torture) sowie palästinensischer und israelischer Menschenrechtsorganisationen zufolge wird jedoch die Verwaltungshaft nach erfolglosen Ermittlungen oder dem Versäumnis, während des Verhörs ein Geständnis zu erlangen, angewendet.

Die Militärverordnungen, die die Inhaftierung von Palästinensern regeln, verlangen von den israelischen Behörden nicht, die Inhaftierten über die Gründe ihrer Inhaftierung zu informieren. [35]

Wenn der Militärkommandant behauptet, dass eine Gefahr für die nationale Sicherheit bestehe, sind die israelischen Behörden davon befreit, dem Häftling oder seinem Anwalt weitere Informationen zur Verfügung zu stellen, und schwerwiegende Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren sind gerechtfertigt (z.B. das Hinzuziehen eines Anwalts wird verweigert oder verzögert, Familienbesuche werden verboten, der Häftling wird von einer Einrichtung in eine andere verlegt, ohne seinen Anwalt oder seine Familie zu benachrichtigen, er kann in Einzelhaft festgehalten werden usw.).

Zusammengefasst heißt dies: Israelische Siedler und Palästinenser leben auf demselben Gebiet, werden aber vor unterschiedlichen Gerichten nach unterschiedlichen Gesetzen mit unterschiedlichen Rechten auf ein ordnungsgemäßes Verfahren verurteilt und müssen für dasselbe Vergehen unterschiedliche Strafen verbüßen. Das Ergebnis ist eine große und wachsende Zahl von Palästinensern, die ohne ein ordentliches Verfahren inhaftiert sind. Die Palästinenser haben weniger Rechte und Garantien im Gerichtsverfahren und werden für dieselben Straftaten mit höheren Strafen belegt.

Diskriminierung herrscht auch bei der Behandlung palästinensischer Minderjähriger. Das israelische Zivilrecht schützt diese vor nächtlichen Verhaftungen, sieht das Recht auf Anwesenheit eines Elternteils bei Verhören vor und begrenzt die Zeit, die Minderjährige festgehalten werden dürfen, bevor sie einen Anwalt konsultieren und einem Richter vorgeführt werden können.

Die israelischen Behörden nehmen jedoch regelmäßig palästinensische Kinder bei nächtlichen Razzien fest, verhören sie ohne die Anwesenheit eines Erziehungsberechtigten, halten sie über längere Zeit fest, bevor sie einem Richter vorgeführt werden, und halten Kinder ab zwölf Jahren in langwieriger Untersuchungshaft. Die Association for Civil Rights in Israel stellte 2017 fest, dass die Behörden 72 Prozent der palästinensischen Minderjährigen aus dem Westjordanland bis zum Ende des Verfahrens in Gewahrsam hielten, aber nur 17,9 Prozent der israelischen Minderjährigen. [36]

Während das Besatzungsrecht Verwaltungshaft nur als vorübergehende und außergewöhnliche Maßnahme zulässt, geht Israels umfassende Anwendung von Verwaltungshaft gegenüber der palästinensischen Bevölkerung in der jahrzehntelangen Besatzung ohne absehbares Ende weit über das hinaus, was das Gesetz zulässt.

GW: In welche Gefängnisse werden die palästinensischen Gefangenen gebracht?

SI: Was die Gefängnisse betrifft, so liegt nur das vom israelischen Gefängnisdienst betriebene Ofer-Gefängnis im besetzten Westjordanland. Die anderen 19 Gefängnisse befinden sich auf israelischem Staatsgebiet. Nach Angaben des israelischen Strafvollzugsdienstes aus dem Jahr 2017 werden durchschnittlich 83 Prozent der palästinensischen Gefangenen nach Israel verlegt und dort inhaftiert, darunter 61 Prozent der inhaftierten Minderjährigen. Diese Verbringung palästinensischer Gefangener außerhalb der OPT ist, wie bereits erwähnt, nach Artikel 76 des Vierten Genfer Abkommens verboten und wird nach Artikel 8 Absatz 2 Buchstabe a Ziffer vii des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs als Kriegsverbrechen eingestuft. Darüber hinaus zieht jede Verletzung von Artikel 76 des Vierten Genfer Abkommens die persönliche strafrechtliche Verantwortung jeder Person nach sich, die direkt oder indirekt an der Verbringung beteiligt ist – gemäß Artikel 146 und 147 desselben Abkommens.

Palästinenser, die ihre in israelischen Gefängnissen inhaftierten Familienangehörigen besuchen möchten, müssen bei den israelischen Sicherheitsdiensten eine Genehmigung beantragen. Dabei handelt es sich um eine Erlaubnis zum Betreten des Besatzungsstaates. Diese Genehmigung ist schwer zu bekommen. Das heißt, dass die palästinensischen Gefangenen, die rechtswidrig in Gefängnisse innerhalb Israels verlegt sind, fast keine Familienbesuche bekommen können, auch wenn die Gefangenen Kinder sind.

GW: Können die im Rahmen von Gefangenenaustauschen freigelassenen Palästinenserinnen und Palästinenser gefahrlos ihr „altes Leben“ wieder aufnehmen, oder droht ihnen eine Re-Inhaftierung innerhalb kurzer Zeit? Weiß man zum Beispiel, welches Schicksal die ca. 1.000 Palästinenser, die im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Shalit freigelassen wurden, erwartet hat?

SI: Leider ist es so, dass Palästinenser, die schon ein- oder womöglich mehrmals inhaftiert waren, von Zeit zu Zeit wieder ins Gefängnis gehen müssen, insbesondere in Fällen von Verwaltungshaft. Dies sind allerdings Informationen, die ich aus persönlichen Erzählungen erfahren habe. Ich kenne keine spezifische Forschung oder wissenschaftliche Literatur dazu. Es wäre sicher wichtig, zu diesem Thema Nachforschungen anzustellen.

In Interviews, die der Nachrichtensender Al-Jazeera nach dem Gefangenenaustausch vergangene Woche mit freigelassenen Palästinensern gemacht hat, hat eine große Mehrheit berichtet, dass man ihnen vor der Entlassung angedroht habe, wieder inhaftiert zu werden, falls sie die Entlassung mit ihrer Familie feiern oder wenn sie Handlungen, die als ein Akt des Widerstands eingestuft werden könnten, durchführen würden. Sie mussten Unterlagen, die in hebräischer Sprache geschrieben waren, unterschreiben. Ein paar haben berichtet, dass sie nicht unterschrieben hätten und deswegen geschlagen worden seien. Gravierend finde ich auch die Aussage eines freigelassenen palästinensischen Gefangenen, der behauptet hat, dass seit dem Beginn des israelischen Militärschlags gegen den Gazastreifen Folter in den Gefängnissen stark zugenommen habe und dass die Gefangenen schon seit langem keinen Besuch durch das Internationale Rote Kreuz bekommen hätten.

In Ermangelung wissenschaftlicher Literatur kann ich jedoch nur wiedergeben, was ich in verschiedenen Nachrichten gesehen, gehört oder gelesen habe.

GW: Stimmt es, dass eine Bevölkerung, die sich seit Jahrzehnten unter Besatzung befindet, deren basale Grundrechte tagaus tagein durch die Besatzungsmacht missachtet werden, das Recht hat, sich zu wehren? Wenn ja, wie darf dieser Widerstand aussehen? Gibt es Regeln, die eingehalten werden müssen?

SI: Ich bin keine Völkerrechtlerin, kann aber sagen, dass dies eine Frage ist, die sich nicht in ein paar Sätzen beantworten lässt. Wie bereits erwähnt, erlaubt das Völkerrecht einem Staat, einen anderen zu besetzen, wenn seine Sicherheit gefährdet ist. Aber diese Besetzung muss bestimmte Regeln erfüllen: Sie muss vorübergehend sein, die Besatzungsmacht darf kein Gebiet aus dem besetzten Gebiet annektieren und Siedlungen bauen, um einen Teil ihrer Bevölkerung dorthin zu verlagern. Nach dem humanitären Völkerrecht dürfen Militärverordnungen und/oder Militärgerichte niemals als Mittel zur Unterdrückung der besetzten Bevölkerung oder als Instrument zur politischen oder rassischen Verfolgung eingesetzt werden. Dies alles tut Israel aber. Aufgrund der kolonialen Merkmale der israelischen Besatzung hat das palästinensische Volk das Recht auf Selbstbestimmung, das als ius cogens gilt. Das ius cogens (dt. zwingendes Recht) bezeichnet das unabdingbare, zwingend einzuhaltende Recht.

Das Recht auf Selbstbestimmung der Palästinenser findet sich in vielen Resolutionen wieder, z.B. UN Generalversammlung A/RES/77/208, 28. Dezember 2022, um nur eine der jüngsten zu nennen. Sie „bekräftigt das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung, einschließlich des Rechts auf einen unabhängigen Staat Palästina“.

Sie besagt, dass ein Volk das Recht hat, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform sowie seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dazu gehört auch die Freiheit von Fremdherrschaft. Aus diesen Aussagen ergeben sich besondere Konsequenzen im Hinblick auf die Frage der Legitimität der Gewaltanwendung zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts.

Der Völkerrechtler Antonio Cassese schreibt hierzu: „Diese Regel bestimmt, dass, wenn Völkern, die kolonialer Herrschaft oder fremder Besetzung unterliegen, ebenso wie Bevölkerungsgruppen, die wegen ihrer Rasse nicht in der Regierung vertreten sind, gewaltsam das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird, solche Völker und Gruppen rechtlich befugt sind, zu bewaffneter Gewalt zu greifen, um ihr Recht auf Selbstbestimmung zu verwirklichen.“ [37] Der deutsche Völkerrechtler Karl Doehring zieht aus dem Selbstbestimmungsrecht als zwingendem Recht die Schlussfolgerung, dass der Kampf um dieses Recht eine „Ausnahme von dem allgemeinen Gewaltverbot“ ist. [38]

Es bleibt eine wesentliche Frage: Wer ist das Subjekt des bewaffneten Befreiungskampfes? Die Resolutionen der Generalversammlung besagen: Das Subjekt ist das jeweilige Volk; der bewaffnete Kampf der Völker wird für legitim erklärt. [39] Wer ist das Volk? Wer vertritt das Volk? Wer ist berechtigt, im Namen des Volkes einen bewaffneten Befreiungskampf zu führen?

Die Widerstandskämpfer müssen ihre bewaffneten Angriffe gegen die bewaffneten Kräfte der Besatzer und deren einheimische bewaffnete Gefolgsleute in den besetzten Gebieten richten, aber nicht gegen Zivilisten in Israel.

GW: Für Ihre Forschungsarbeit haben Sie einige palästinensische Menschenrechtsorganisationen als Quelle benutzt. Sind darunter auch Organisationen, die von Israel als „Terror-Organisationen“ eingestuft wurden?

Ja, das hat sich in meiner vierjährigen Forschungszeit tatsächlich als Problem herauskristallisiert, denn kurz nachdem ich das vierte und letzte Jahr begann, stufte Israel sechs Menschenrechtsorganisationen als terroristische Organisationen ein. [40] Zwei von ihnen hatte ich bereits als Literatur in meiner Arbeit verwendet: Addameer und Defense for Children International Palestine.

Die sechs von Israel verbotenen NGOs weisen die gegen sie erhobenen Vorwürfe scharf zurück. Sie behaupten, dass diese Einstufung lediglich dazu diene, Kritiker der seit 50 Jahren andauernden israelischen militärischen Besatzung zum Schweigen zu bringen. Associated Press behauptet hingegen, dass die Anschuldigungen gegen solche Organisationen Teil einer politischen Strategie Israels sind, um die Ächtung von Menschenrechtsorganisationen zu rechtfertigen. Der Anwalt Avigdor Feldman wies darauf hin, dass dies ein Versuch Israels sei, Gruppen zu verfolgen, die sich für eine Anklage wegen Kriegsverbrechen gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) einsetzten. [41] Der IStGH hat eine Voruntersuchung zu den israelischen Praktiken im besetzten Westjordanland und im Gazastreifen eingeleitet.

Sowohl mein Doktorvater als auch ich beschlossen, diese Quellen dennoch zu verwenden, da ich weder Mitglied noch Angestellte einer dieser Organisationen bin. Ich habe mich lediglich der Aufdeckung von Informationen gewidmet, die sie anbieten. Dies haben auch verschiedene UN-Ausschüsse in ihren Berichten getan und tun dies auch weiterhin.

GW: Vielen Dank für das Interview, Frau Irsheid!

Titelbild: ChameleonsEye / Shutterstock


[«1] Siehe die Bestimmungen des Vierten Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907 (die Haager Landkriegsordnung), das Vierte Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten und das Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977.

[«2] Bar-Tal, Daniel y Eldar, Akiva, Why Israel Does Not Want to Negotiate, Palestine – Israel Journal of Politics, Economics, and Culture, No. 13 (2), 2006, p. 11

[«3] Human Rights Council, A/HRC/53/59, 9. Juni 2023, paras. 10, 17, 39-43.

[«4] Baumgarten-Sharon, Naama y Stein, Yael, Presumed Guilty: Remand in Custody by Military Courts in the West Bank, B’Tselem, Juni 2015, p. 12.

[«5] Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung und Artikel 64 des Vierten Genfer Abkommens sehen vor, dass die Zivilbevölkerung, die unter militärischer Besatzung lebt, weiterhin ihren eigenen Gesetzen unterliegt und vor ihren eigenen Gerichten verhandelt wird. Dies entspricht dem grundlegenden Prinzip, dass militärische Besetzungen vorübergehender Natur sein müssen und dass keine Souveränität auf die „Besatzungsmacht“ gemäß der im Genfer Abkommen verwendeten Terminologie übergeht. Nach den Artikeln 43, 64 und 66 des Vierten Genfer Abkommens kann der Besatzungsstaat jedoch die örtlichen Strafgesetze aussetzen oder aufheben, wenn sie eine Bedrohung für seine Sicherheit darstellen, und sie durch Militärgesetze ersetzen, die von ordnungsgemäß eingerichteten, unpolitischen Militärgerichten angewandt werden, sofern diese im besetzten Land tätig sind. Artikel 75 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen enthält eine Reihe von Bestimmungen zum Verbot der Diskriminierung. Er enthält auch eine Reihe von Mindeststandards für die Behandlung von Personen, die sich in der Gewalt einer an einem internationalen Konflikt beteiligten Partei befinden und die nicht aufgrund einer anderen Bestimmung eine günstigere Behandlung erfahren.

[«6] Al-Waara, Akram, Middle East Eye, A 35-year prison term at 17: Palestinian children and Israeli justice. Palestinian families are accusing Israeli courts of deliberately delaying hearings so their children will receive heavier sentences, 9. Januar 2019, ; Reliefweb, New Israeli law allows children as young as 12 to be jailed, August 2016

[«7] Menschenrechtsausschuss: Allgemeine Bemerkung 29, paras. 3-4.

[«8] PIDCP, art. 4.1; Menschenrechtsausschuss: Allgemeine Bemerkung 29, para. 8.

[«9] UN Press Release, ‘Unchilded’ from birth: UN expert calls for decisive protection of Palestinian children under Israeli rule, 24. Oktober 2023

[«10] Yesh Din, A Semblance of Law: Law Enforcement upon Israeli Citizens in the West Bank, (Juni 2006)

[«11] Defense for Children International Palestine (DCIP), Ramallah, 21. April 2020

[«12] Addameer, B´Selem, MCW y DCI.

[«13] Yesh Din, A Semblance of Law: Law Enforcement upon Israeli Citizens in the West Bank, (Juni 2006)

[«14] A/HRC/53/59, ; U.S. State Department: Jährliche Länderberichte zur Menschenrechtslage 2019, März 2020 ; Amnesty International, Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete: Israel begeht Apartheid, sagt der UN-Sonderberichterstatter, 23.03.2022 ; Amnesty International, Israel’s apartheid against Palestinians: Cruel system of domination and crime against humanity, 02. 2022

[«15] Consejo de Derechos Humanos: A/HRC/22/63, 07. Februar 2013, paras. 39-49 ; Addameer, The Israeli Military Court System, Juli 2017

[«16] Addameer, The Israeli Military Court System, Juli 2017

[«17] Idem.

[«18] Human Rights Council: A/HRC/22/63, 07. Februar 2013, paras. 39-49

[«19] Human Rights Council: A/HRC/22/63, 07. Februar 2013, paras. 39-49 ; Nach Human Rights Watch sind es 100 Prozent und nicht 95, Human Rights Watch, Why Does Israel Have So Many Palestinians in Detention and Available to Swap?, 29 November 2023

[«20] Human Rights Watch sind es 100 Prozent und nicht 95, Human Rights Watch, Why Does Israel Have So Many Palestinians in Detention and Available to Swap?, 29. November 2023 ; Auch Human Rights Council, A/HRC/49/87, 12. August 2022, paras. 52-56. Z.B. para. 52: “[…] the Special Rapporteur has concluded that the political system of entrenched rule in the Occupied Palestinian Territory that endows one racial-national-ethnic group with substantial rights, benefits and privileges while intentionally subjecting another group to live behind walls and checkpoints and under a permanent military rule sans droits, sans égalité, sans dignité et sans liberté (without rights, without equality, without dignity and without freedom) satisfies the prevailing evidentiary standard for the existence of apartheid”.

[«21] U.S. State Department: Jährliche Länderberichte zur Menschenrechtslage 2019, März 2020

[«22] Human Rights Council, A/HRC/49/87, 12. August 2022, para. 50 (e).

[«23] Human Rights Council: A/HRC/22/63, 07.02.2013, paras. 39-49 ; CERD: Israel, Doc. ONU: CERD/C/ISR/CO/17-19, 27.01.2020, paras. 10-16, 21-25, 42-47 ; CERD: Observaciones Finales: Israel, DOC. ONU: CERD/C/ISR/CO/13 (2007), para. 35; CAT: Final Observations: Israel, Docs. ONU: CAT/C/SR.297/Add.1 (1997), paras. 5, 8.a; CAT/C/ ISR/CO/4 (2009), para. 14.

[«24] Report of the UN General Assembly, Human Rights Council, A/HRC/37/38, 05.04.2018, para. 30; Human Rights Council, 12.06.2017, A/HRC/35/19, paras. 17 y 18 ; UNICEF: Children in Israeli Military Detention- Observations and Recommendations, 02. 2013.

[«25] Addameer, Imprisonment of Children, Dezember 2017

[«26] Convention on the Rights of the Child: CRC/C/PSE/1, 25. März 2019, para. 208.

[«27] Conclusions and recommendations of the Committee against Torture: Israel, CAT/C /XXVII/Concl.5, 23.11.2001, paras. 47-53; Report of the Committee against Torture: 10 /09 /97. A/52 /44. (Sessional/Annual Report of the Committee) Israel. A/52 /44, 09.05.1997, paras. 253-260; UN General Assembly Report of the Special Committee to Investigate Israeli Practices Affecting the human rights of the Palestinian people and other Arabs of the occupied territories, A/65/44, 09.05.1997, paras. 253-260 and A/65/327, 27.08.2010; Human Rights Council, A/HRC/40/39, 15.03.2019.

[«28] Human Rights Watch, Why Does Israel Have So Many Palestinians in Detention and Available to Swap?, 29. November 2023

[«29] Idem.

[«30] Idem.

[«31] Idem.

[«32] Idem.

[«33] Idem.

[«34] A/HRC/53/59

[«35] Human Rights Council, Special Rapporteur Says Israel’s Unlawful Carceral Practices in the Occupied Palestinian Territory Are Tantamount to International Crimes and Have Turned it into an Open-Air Prison, 10. Juli 2023. Siehe den vollständigen Bericht A/HRC/53/59

[«36] Human Rights Watch, Why Does Israel Have So Many Palestinians in Detention and Available to Swap?, 29. November 2023

[«37] Cassese, Antonio, International Law, Oxford 2001, S. 322.

[«38] Doehring, Karl, Völkerrecht, Heidelberg 2004, S. 348.

[«39] A/Res/ 31/34 Ziffer 1: Die Generalversammlung „Reaffirms the legitimacy of the peoples’ struggle […] including armed struggle”.

[«40] Europäisches Parlament, Parlamentarische Anfragen, 04. November 2021, „Am 22. Oktober erließ das israelische Verteidigungsministerium einen Militärverordnung, in dem sechs palästinensische NGOs (Addameer Prisoner Support and Human Rights Association, Al-Haq, Bisan Center for Research and Development, Defense for Children International-Palestine, Union of Agricultural Work Committees und Union of Palestinian Women’s Committees) beschuldigt wurden, mit der Volksfront für die Befreiung Palästinas in Verbindung zu stehen, und bezeichnete sie als <terroristische Organisationen>

[«41] Federman, Josef AP News, 17. November 2021

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!