Bei allen Differenzen: Niemand hat einen Umgang verdient, wie er dem verstorbenen russischen Aktivisten Alexej Nawalny zuteil wurde. Und unabhängig von seinen politischen Inhalten: Die Unerschrockenheit von Nawalny konnte auf einer persönlichen Ebene oft beeindrucken. Aber – bei aller Pietät muss auch festgestellt werden: Nawalny war ein rechtsradikaler Provokateur, seine emotionale Überhöhung hierzulande ist befremdlich, gerade auch angesichts des aktuellen „Kampfes gegen Rechts“. Von Tobias Riegel.
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Der russische politische Aktivist Alexej Nawalny ist am Freitag in einer Strafkolonie in der russischen Polarregion verstorben, wie Medien berichten. Er hinterlässt seine Ehefrau Julia und zwei gemeinsame Kinder. Weitere Informationen, etwa zur Todesursache, gibt es laut SZ noch nicht.
Einiges kann man aber trotzdem bereits feststellen, auch ohne in eine Vorverurteilung zu verfallen, wie sie nun mancherorts praktiziert wird. Bei allen Differenzen, die man gegenüber Nawalnys Persönlichkeit und seinem politischen Wirken spüren mag: Niemand hat einen Umgang verdient, wie er Nawalny in den letzten Jahren zuteil wurde.
Nawalnys Tod zu beklagen und den Hinterbliebenen das Mitgefühl auszusprechen, ist darum selbstverständlich. Auch eine Aufklärung des Tathergangs, wenn es sich um einen Mordanschlag handelt, ist dringend nötig. Thematisiert werden sollten auch mutmaßlich politische Urteile und die harten Haftbedingungen.
Der Umgang mit der Mutter Nawalnys und seinem Leichnam ist als unwürdig zu bezeichnen, wenn die Berichte darüber zutreffen.
Nawalny – Opposition und Rechtsextremismus
Aber – das von Nawalny hierzulande gezeichnete Bild stimmt in mehrfacher Hinsicht nicht: Zum einen wird sein politischer Einfluss in Russland von westlichen Medien oft massiv übertrieben, außerhalb von Metropolen wie Moskau konnte Nawalny nicht viele Menschen erreichen, dieses Phänomen betrifft viele „liberale“ russische Politiker. Praktiziert wurde teils die Taktik des „smart voting“, bei dem Kandidaten anderer Parteien unterstützt werden, wenn sie sich gegen die Regierung Putin positionieren. Natürlich waren auch die harten offiziellen Schikanen gegen Nawalnys politische Arbeit Grund für dessen relative Erfolglosigkeit bei Wahlen (außerhalb von Metropolen).
Zum anderen: Ausgerechnet Nawalny als positiven Gegenpol „zu Putin“ zu zeichnen, ist politisch verwegen – schließlich ist Nawalny zu Lebzeiten auch als Ultranationalist und Rassist aufgefallen, also als Rechtsextremer. Um das mal in Relation zu setzen: Im Vergleich mit Nawalny müsste man Björn Höcke von der AfD eigentlich als „gemäßigt“ bezeichnen, doch diese Relationen werden von vielen westlichen Journalisten nicht beachtet.
Einige Beispiele für verbale Ausfälle Nawalnys hat Martin Sonneborn bereits vor einiger Zeit in diesem Tweet veröffentlicht. Demnach sagte Nawalny unter anderem: „Tiflis, die Hauptstadt der Nagetiere, gehört mit Marschflugkörpern zerstört.“ Oder: „Die gesamte nordkaukasische Gesellschaft und ihre Eliten teilen den Wunsch, wie Vieh zu leben.“ Oder: „Alles, was uns stört, muss man mit Vorsicht, aber unbeirrt per Deportation entfernen.“
Das sind Zitate, die hierzulande das Zeug hätten, Massendemos „gegen Rechts“ auszulösen – es ist ein Zeichen der Zeit, dass man innenpolitisch aufrecht „gegen Rechts“ aufstehen kann und gleichzeitig Rechtsradikale im Ausland toleriert oder gar fördert. Die Hamburger Morgenpost hat in diesem Artikel die „dunkle Seite des ‚Kremlkritikers‘“ thematisiert, das Blatt gehört damit aber zu den Ausnahmen in der deutschen Presselandschaft, die Nawalny überwiegend abschirmt. Bei aller Pietät, es muss gesagt werden: Nawalny war ein rechtsradikaler Provokateur – den harten offiziellen Umgang mit ihm in Russland fand ich beschämend, aber seine „Heiligsprechung“ hierzulande ist trotzdem bedenklich, gerade auch angesichts des aktuellen „Kampfes gegen Rechts“.
Zur Beurteilung des Politikers Nawalny kommt eine geopolitische Ebene hinzu: Ich finde es prinzipiell fragwürdig, wenn ein bestimmter politischer Akteur eines Landes von anderen Ländern so stark unterstützt wird, wie es bei Nawalny der Fall war. Eine solche Unterstützung kann auch ohne das Einverständnis des Akteurs erfolgen – bei Nawalny hatte man aber den Eindruck, mit dem westlichen Rückenwind, der eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Russlands bedeutete, durchaus einverstanden gewesen zu sein.
Überlebensgroße Propagandafigur
Der problematische politische Hintergrund von Nawalny wird hier nicht erwähnt, um „Putin zu entlasten“ oder einen eventuellen Mord an Nawalny zu rechtfertigen, und auch nicht, um einen Verstorbenen oder seine Familie zu beschämen. Aber das reale Wirken von Nawalny muss doch erwähnt werden, weil sonst in der aktuellen Meinungsmache die Gefahr besteht, dass Nawalny hierzulande nun (noch mehr als ohnehin schon) zu einer überlebensgroßen, aber völlig unrealistischen Propagandafigur aufgebaut wird. Auch diese Art der Instrumentalisierung durch Überhöhung (auch wenn „gut gemeint“) bleibt die Instrumentalisierung eines Toten, der keinen Einspruch mehr erheben kann – auch das ist eine Form der Pietätlosigkeit.
Zur Todesursache und der Schuldfrage im Falle eines Mordanschlags kann noch nichts gesagt werden. Darum sind die Äußerungen, die nun teils den russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich für Nawalnys Tod verantwortlich machen, unseriös. Für alle weiteren Interpretationen müssen die Entwicklungen abgewartet werden.
Sollte Nawalny ermordet worden sein, so wäre das Motiv für mich rätselhaft: Für die russische Seite hat sein Tod meinem Eindruck nach ausschließlich Nachteile, vor allem in Form der massiven und emotionalen antirussischen Meinungsmache, die nun auf dem Tod Nawalnys aufgebaut werden wird. Aber vielleicht fehlt mir zur umfassenden Einschätzung des Falles der Blick durch die inner-russische Brille.
Beeindruckende Unerschrockenheit
Man sollte sich für die nächsten Wochen auf intensive und emotionale Propaganda rund um die Person Nawalny gefasst machen. Dass diese Aufmerksamkeit im Vergleich zum dröhnenden Schweigen zum schlimmen Schicksal von Julian Assange fragwürdig ist, habe ich bereits vor einigen Jahren im Artikel „Emotionen für Nawalny, trockenes Update für Assange“ beschrieben. Für dieses Missverhältnis kann aber Nawalny nichts, man sollte das nicht ihm anlasten, sondern Journalisten und Politikern.
Schließen möchte ich mit einem anderen Punkt. Völlig unabhängig von meinen politischen Differenzen mit ihm: Mich hat die Unerschrockenheit von Nawalny oft beeindruckt. Und auch wenn man meint, er habe seine Kraft und sein Charisma für fragwürdige Politik genutzt, so kann ich nicht umhin, Nawalny auch einen großen Mut zu attestieren.
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Titelbild: Dolgikh Pavel / Shutterstock