„Krieg in der Ukraine ist Menetekel für Europa“

„Krieg in der Ukraine ist Menetekel für Europa“

„Krieg in der Ukraine ist Menetekel für Europa“

Ein Artikel von Éva Péli

General a.D. Harald Kujat hat in einem Vortrag bei der „Eurasien Gesellschaft“ beklagt, deutschen und europäischen Politikern mangele es an der Lebendigkeit des Geistes, den Krieg in der Ukraine auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Er warnt den Westen davor, weiter Schuld am tragischen Schicksal des ukrainischen Volkes auf sich zu laden. Von Éva Péli.

„In den deutschen Medien wird schon seit einiger Zeit die These vertreten, dass der Angriff auf die Ukraine Teil einer langfristigen imperialen Strategie sei, den Einflussbereich der Sowjetunion zurückzuerobern. Seit sich die militärische Lage eindeutig zugunsten Russlands neige, wird von so genannten Militärexperten geradezu hysterisch anschwellend Kriegsfurcht verbreitet. Ob dies aus Unkenntnis, ideologischer Verengung, purer Wichtigtuerei geschieht? Ich weiß es nicht.“

Das sagte der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und hochrangige NATO-Offizier Harald Kujat am Dienstag in Berlin. Das geschehe vielleicht auch im Bemühen für die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr, fügte er hinzu.

Kujat vermutet, dass jene, die noch vor einiger Zeit den militärischen Sieg über den Krieg in der Ukraine vorausgesagt hätten, bedenkenlos die weitere Unterstützung der Ukraine mobilisieren wollen. Deshalb würden sie behaupten, eine ukrainische Niederlage werde Russlands Machthunger nicht befriedigen und es werde deshalb vor einem Angriff auf NATO-Staaten nicht zurückschrecken. Deutschland und Europa stünden vor einem Jahrzehnt der Konfrontation durch Russland.

Der Ex-Militär findet es bemerkenswert, dass Politiker mit der Vermutung eines angeblich bevorstehenden russischen Angriffskrieges eine deutliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben fordern. Mehr als ein Jahrzehnt hätten die deutschen Politiker den „Verfassungsbruch“ hingenommen, der 2011 durch die sogenannte Neuausrichtung der Bundeswehr entstanden ist. „Wir brauchen keine – im Übrigen auch gefährliche – Kriegshysterie, um zu begründen, dass die Bundeswehr zur Landes- und Bündnisverteidigung fähig sein muss“, stellte er klar. Es reiche völlig aus, endlich den Verfassungsauftrag zu erfüllen.

Die Denkfabrik „Eurasien Gesellschaft“ hat Kujat zu einem Vortrag über „Der Ukrainekrieg, die Rivalität der großen Mächte und die Selbstbehauptung Europas“ eingeladen. Die Veranstaltung haben schätzungsweise 150 Menschen besucht.

Gordischer Knoten

Zu Beginn seines Vortrages sagte der 81-Jährige, dass die Verstrickungen vieler Staaten in den Konflikt in und um die Ukraine wie ein „unauflösbarer Gordischer Knoten“ erscheinen. Es gebe zwei Überlieferungen, wie Alexander der Große einst den „Gordischen Knoten“ auflöste: Der Überlieferung von Plutarch nach zerschlug er den Knoten, der den Streitwagen des phrygischen Königs Gordios mit den Zügeln der Pferde verband, mit dem Schwert. Der römische Historiker Lucius Flavius Arrianus habe dagegen überliefert, dass Alexander den Knoten „mit der Lebendigkeit seines Geistes“ aufgelöst habe: Er habe die Rolle des Deichselnagels für den Knoten an dem Streitwagen erkannt und ihn einfach herausgezogen.

Kujat verglich das mit der westlichen Politik, die „dem Weg des Schwertes folgt“. Ihr mangele es an dem, was Alexander den Großen ausgezeichnet habe: „an der Lebendigkeit des Geistes“. Ein Verhandlungsfrieden spiele im Ukraine-Krieg die Rolle des Deichselnagels.

Menetekel für Europa

Der Ex-General warnte davor, dass die USA ihre Verbündeten in Europa auch in einen künftigen Konflikt mit China hineinziehen würden. Er bezeichnete den Krieg in der Ukraine als „Menetekel für Europa, den Weg zu geopolitischer Selbstbehauptung einzuschlagen, politisch, wirtschaftlich, technologisch und nicht zuletzt militärisch“. Deutschland ist aus seiner Sicht „auf dem geopolitischen Schachbrett der Vereinigten Staaten und insbesondere in deren Russlandstrategie eine besonders wichtige Figur“. Er verwies auch auf „die dramatischen wirtschaftlichen Konsequenzen dieses Krieges für den Industrie und Wirtschaftsstandort Europa und insbesondere für Deutschland“.

Der Ukraine-Krieg habe Europa an eine Wegscheide geführt: „Es geht in diesem Krieg eben nicht nur um die Sicherheit und die territoriale Integrität der Ukraine, sondern es geht um eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung, in der alle Staaten des europäischen Kontinents ihren Platz haben.“ Mit Blick auf den Ausgangspunkt eines Krieges erinnerte er: „Ein Krieg entsteht nicht, weil sich Putin morgens an sein Frühstücksei klopft und sagt: Jetzt überfallen wir mal die Ukraine.“ Dazu gehörten eine lange Vorgeschichte und politische Ursachen.

Doch auch im Krieg müsse die Politik die Oberhand behalten und trotz der Kampfhandlungen fortgesetzt werden, verwies der Militärexperte dabei auf den Militärtheoretiker und -praktiker Carl von Clausewitz. Es müsse ein Ende des Krieges auf dem Verhandlungsweg angestrebt werden. „Sind Politik und Diplomatie, wie es in diesem Krieg der Fall ist, suspendiert, dann ist der Krieg, wie Clausewitz es definiert, ein Akt der Gewalt. Und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen“, so Kujat.

Wendepunkte im Verhältnis der Großmächte

Der frühere hochrangige NATO-Offizier verwies auf den „strategischen Wendepunkt“ im Verhältnis der beiden Großmächte: Die einseitige Kündigung 2002 durch die USA des 30 Jahre zuvor vereinbarten ABM-Vertrags über strategische Raketenabwehrsysteme. Dadurch und durch weitere ähnliche Schritte in den Folgejahren sei das nuklear-strategische Gleichgewicht verändert worden: „Im Grunde genommen haben die Vereinigten Staaten damit Russland die Möglichkeit gegeben, völkerrechtlich und vertragskonform ein neues strategisches Bedrohungspotential gegen Europa aufzubauen.“

Als sicherheitspolitischen Wendepunkt sieht er den NATO-Gipfel 2008 in Bukarest. Dort habe US-Präsident George W. Bush „mit großem Druck“ versucht, die Ukraine und Georgien in die NATO zu holen. Das sei gescheitert, aber für beide Staaten sei eine sogenannte Beitrittsperspektive erklärt worden. Damals habe der heutige CIA-Direktor William Burns als US-Botschafter in Moskau vor den Folgen gewarnt: „Das wird einen fruchtbaren Boden für eine russische Intervention auf der Krim und im Osten der Ukraine schaffen. Es besteht kein Zweifel, dass Putin scharf zurückschlagen wird.“

Als „eigentlichen Wendepunkt“ bezeichnete der einstige NATO-Offizier den „von den USA inszenierten Staatstreich im Februar 2014 in Kiew, der den Bürgerkrieg im Donbass um die Verweigerung der Minderheitenrechte an die russischsprachige Bevölkerung ausgelöst hatte“. Er erinnerte an die beiden Vereinbarungen von Minsk 2014 und 2015, die eine friedliche Lösung des Konflikts ermöglichen sollten.

Europäisierung des Krieges

Zu Beginn des dritten Kriegsjahres ist es laut Kujat offensichtlich, dass sich 2024 das Schicksal der Ukraine entscheiden wird. Die Zukunft des Landes liege in der Hand des Westens, von dem es finanziell und militärisch abhängig sei. Der Ukraine würden „aber vor allem Soldaten“ fehlen. Der Ex-General rechnet damit, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg vor allem von den Europäern finanziert werden muss. Es verdichte sich der Eindruck, dass die EU zunehmend die USA ersetzen, falls diese als bisherige Hauptunterstützer ausfallen.

Die Europäisierung des Krieges habe einen „großen Schritt voran gemacht“. Die Militäroperationen würden durch die USA und die Ukraine in einem gemeinsamen Stab in Deutschland, in Wiesbaden, geplant und vorbereitet werden, so Kujat. Doch vor allem die US-amerikanische Unterstützung der ukrainischen Truppen durch die verschiedenen Aufklärungsmittel und Zieldaten könnten die Europäer nicht übernehmen. Gleichzeitig sei die Kriegsbereitschaft bei EU- und deutschen Politikern ungebrochen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sei zudem offenbar bereit, im ukrainischen Stellvertreterkrieg eine Führungsrolle zu übernehmen.

NATO-Mitgliedschaft durch die Hintertür

Aus Sicht des Ex-Bundeswehr-Generals gibt es gegenwärtig im Ukraine-Krieg keine Patt-Situation. Er rechnet damit, dass die russischen Truppen Charkiw wieder einnehmen und auch Odessa am Schwarzen Meer erobern werden. Die ukrainischen Truppen hätten nach der gescheiterten „Gegenoffensive“ ihre Fähigkeit zu offensiven Handlungen weitgehend verloren. Deshalb würden sie ausweichen und unter anderem versuchen, „durch Angriffe auf russisches Territorium zu demonstrieren, dass sie nach wie vor militärisch handlungsfähig sind“, einschließlich Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung.

Aufgrund der kritischen Lage für die Ukraine habe die US-Führung eine neue defensive Vier-Phasen-Strategie – kämpfen, aufbauen, erholen, reformieren – für Kiew entwickelt. Dazu gehöre die Verteidigung des eigenen Gebietes, das Verringern der eigenen Verluste und sich auf spätere Operationen vorzubereiten. So sollen in zehn Jahren ukrainische Streitkräfte mit großer Kampfkraft und hoher Abschreckungswirkung entstehen. Das bedeute, dass Selenskyj das offiziell verkündete Ziel, die Gebiete im Donbass und die Krim zurückzuerobern, aufgeben müsste.

Diese Strategie, die die europäischen Verbündeten einbeziehe, sei auf zehn Jahre angelegt. Damit solle verhindert werden, dass es durch mögliche Regierungswechsel in den beteiligten Ländern zu einem Kurswechsel kommt. Die Bundesregierung sei bereit, sich daran zu beteiligen, sagte Kujat. Aus seiner Sicht kommt das einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine „durch die Hintertür“ gleich, falls alle NATO-Staaten dem folgen.

Keine Belege für „russische Gefahr“

Für Kujat gibt es keine überzeugenden Belege für westliche Behauptungen, dass Russland in einigen Jahren die NATO angreifen könne und wolle. Russlands Präsident Wladimir Putin habe dem mehrfach widersprochen. Doch niemand wolle ihm glauben, dass die Sowjetunion nicht wieder errichtet werden soll. Kujat machte deutlich, dass Russland auch praktisch keinerlei Vorbereitungen getroffen habe, um die gesamte Ukraine zu erobern und danach die NATO anzugreifen. Der Aufwand, ein großes Land wie die Ukraine vollständig zu besetzen, sei zudem viel zu groß.

Russland wolle stattdessen eine Pufferzone zur NATO erreichen. Es habe während der gesamten Auseinandersetzung wie auch die USA darauf geachtet, dass es zu keiner direkten Konfrontation komme. Der Einmarsch in die Ukraine ist aus Kujats Sicht „nicht Teil eines imperialen Plans“ von Moskau. Durch Verhandlungen könne gesichert werden, dass Russland ukrainisches Territorium nicht zum Aufmarsch Richtung Mitteleuropa nutzten kann.

„Darüber hinaus könnten mit Russland Vereinbarungen geschlossen werden, die vor allem die Sicherheit der baltischen Staaten erhöhen, aber auch insgesamt zu größerer Stabilität zwischen der NATO und Russland beitragen.“ Das könne durch einen aktualisierten KSE-Vertrag über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte erfolgen, einschließlich vertrauensbildender militärischer Maßnahmen. Das könne zu größerer Transparenz und größerer Vorhersehbarkeit des politisch-militärischen Handelns beitragen.

Dem Frieden eine Chance

In Deutschland werde die Tatsache, dass Ende März 2022 in Istanbul eine von beiden Seiten ausgehandelte und paraphierte Vereinbarung erzielt wurde, unterdrückt und geleugnet, beklagte der Ex-General. Dagegen hätten ukrainische Verhandlungsteilnehmer das inzwischen mehrfach öffentlich bestätigt. Die Gründe für das Leugnen würden auf der Hand liegen:

„Eine nähere Beschäftigung mit dem Inhalt des Abkommens würde zeigen, dass die Ukraine ein sehr gutes Ergebnis erreicht hatte. Ein Ergebnis, das nach sechs Wochen den Krieg zu durchaus annehmbaren Bedingungen für die Ukraine beendet hätte. Jeder vernünftige Mensch würde dann fragen, weshalb Selenskyj eigentlich nicht bereit war, durch seine Unterschrift den Tod einer halben Million von Ukrainern und die Zerstörung des Landes zu verhindern.“

Außerdem würden vernünftige Menschen weiter fragen, warum der ukrainische Präsident Selenskyj und die ihn unterstützenden westlichen Staaten immer noch nicht bereit sind, dem Frieden eine Chance zu geben. „Die Politiker, die Anfang April 2022 den Frieden zwischen Russland und der Ukraine verhindert haben, waren offensichtlich überzeugt, Russland könne mit ihrer Unterstützung durch die Ukraine besiegt werden.“ Doch das sei eine Fiktion, was inzwischen längst allen klar sein sollte, so Kujat.

Der Westen sollte „nicht weiter Schuld am tragischen Schicksal des ukrainischen Volkes“ auf sich laden, forderte er in Berlin. „Die bittere Wahrheit ist, dass sich trotz massiver Unterstützung durch die USA und Europa mit modernen Waffen eine militärische Niederlage der Ukraine abzeichnet.“ Kujat warnte, dass sich das Zeitfenster für eine Verhandlungslösung bald schließen könne. Wenn sich der Westen nicht ernsthaft um einen Verhandlungsfrieden bemühe, werde das Schicksal der Ukraine auf dem Schlachtfeld entschieden.

„Und wenn die Waffen schweigen, wird die Ukraine nicht mehr das sein, was sie einmal war“, sagte der Ex-Bundeswehr-General. Er befürchtet, dass der Westen doch noch direkt eingreift, um eine endgültige Niederlage Kiews zu verhindern: „Damit entstünde eine reale Gefahr, dass ein großer europäischer Krieg auf dem europäischen Kontinent ausbricht, auch mit dem Risiko eines begrenzten Nuklearkrieges, obwohl beide Großmächte, Russland und die Vereinigten Staaten, sich sehr, sehr bemüht haben, genau dies zu verhindern.“ Kujat hofft, dass eine Ausweitung des Krieges auf ganz Europa verhindert wird.

„Wenn nicht durch die Lebendigkeit des Geistes eines führenden Politikers, dann vielleicht doch, weil sich Vernunft durchsetzt.“

Titelbild: Tilo Gräser

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