Wohin das Auge in Europa blickt: Militarismus hat Vorfahrt

Wohin das Auge in Europa blickt: Militarismus hat Vorfahrt

Wohin das Auge in Europa blickt: Militarismus hat Vorfahrt

Ein Artikel von Frank Blenz

Das Führungspersonal in vielen unserer europäischen Staaten (Deutschland eingeschlossen) scheint derzeit geradezu besoffen, Kante in Sachen Krieg, Kriegsfortsetzung, Kriegsertüchtigung zu zeigen – so auch in Tschechien. Dort erleben die Menschen, wie ihr Staatspräsident ein ziviles Amt in eitler und gefährlicher Weise zu einem geradezu militärischen Job umfunktioniert hat. Passend zu unserer deutschen Kriegstüchtigkeit zeigen unsere Medien für Petr Pavels Handeln wohlwollendes Verständnis, damit die Reihen schließend, von wegen Kriegsmüdigkeit. Ganz im Gegenteil – Prag diente erst kürzlich als prächtige Kulisse zum Feiern einschließlich Flugshow: Tschechien ist seit 25 Jahren NATO-Mitglied. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.

Extra aus Prag berichtete unser ARD-Korrespondent und fand fein klingende Worte für aufrüstendes Verhalten: Präsident Petr Pavel „vermittelt“ bei seiner Initiative für Munitionslieferungen. Von den Sorgen und der Ablehnung der Tschechen gegenüber dem Handeln ihres Staatspräsidenten war dagegen nichts zu vernehmen, das ist in deutschen Medien gerade nicht angesagt.

Tschechiens Präsident geriert sich als Initiator für 800.000 Schuss Munition

Die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage fliegt ein französischer Präsident zu einem tschechischen Präsidenten in die Goldene Stadt Prag nicht mehr, um in einem feinen, staatstragenden Dialog wirtschaftliche, kulturelle, Völker verbindende Inhalte zu besprechen. Nein, Emmanuel Macron und sein tschechischer Amtskollege Petr Pavel haben Wichtigeres zu tun, sie „erörtern“ die Finanzierung von Munitionslieferungen an die Ukraine. Und wenn der Franzose wieder in Paris gelandet ist, dann redet er schon mal von Bodentruppen, erfahren wir Bürger aus den Medien, die das Ganze dann noch feiern. Vorher sitzen Macron und Gastgeber Pavel auf der Prager Burg und schauen sich, sich in Sicherheit wähnend, aus der Ferne an, wie der Krieg im Osten kein Ende nimmt.

Dem Publikum – auch uns Deutschen – wird, zum Beispiel via Tagesschau, mitgeteilt, was da so besprochen wird. Statt von Kulturaustausch schwadroniert man von „Initiative“ und von „Vermittlung“. Die reaktionäre Idee der Zusammenraffung einer heftigen Munitionslieferung bekommt den sanften Ausdruck „Initiative“ verpasst – wer kann schon etwas gegen einen tschechischen Präsidenten haben, der die Initiative ergreift. Dabei „vermittelt“ der gute Staatsmann aus Prag auch noch engagiert und international in gewählter Diplomatensprache formulierend. Bei Lichte betrachtet fällt aber nur eins auf: Pavel gefällt sich in der Rolle des internationalen Anheizers, um ein dickes Paket zu schnüren, um Munition satt für die Ostfront in der Ukraine zu ordern. Im Korrespondentendeutsch der ARD heißt es kühl und sachlich, dass Tschechien „angekündigt“ habe, der Ukraine „schnell“ 800.000 Schuss Artilleriemunition zu liefern. Tschechien habe ausreichend „Zusagen“ aus anderen Ländern erhalten, tönt es aufatmend.

Einmal General, immer General

Seitdem Petr Pavel vereidigt ist, tritt er kraftvoll in Erscheinung, wenn Themen auf die Tagesordnung kommen, die militärischer Natur sind. Das ist kein Wunder, Pavels Leben ist vom Militärischen bestimmt. Der jetzige Präsident ist ein Ex-NATO-General. Erste Staatsbesuche nach seiner Wahl, welche in Tschechien nicht nur Jubel ausgelöst hat, führten Pavel als zivilen Präsidenten und doch im fortwährenden Geiste eines Uniformträgers zum Beispiel nach Österreich, wo er die dort Regierenden nebenbei schon mal anregte, über die womöglich nicht mehr zeitgemäße Neutralität der Alpenrepublik nachzudenken. Wäre nicht eine schöne NATO-Mitgliedschaft, so wie Tschechien sie innehat, eine Option? Das könnte Pavel die Österreicher gefragt haben, der Tscheche im militärischen Un-Ruhestand und diesem Bündnis treu verbunden ist. Wenn Pavel eine Reise macht, ist das Gehabe eines Generals zu erkennen, bei der privaten Sicherheitskonferenz in München durfte der schöne Stammgast Petr Pavel auch nicht fehlen. Ganz Experte, hat er in München ausgeführt, dass wegen fehlender Geschosse die ukrainische Armee, die seit zwei Jahren eine russische Invasion abwehrt, zunehmend in die Defensive gerate. Doch Pavel sei es gelungen, im Ausland rund eine halbe Million Schuss vom NATO-Standardkaliber 155 mm und 300.000 Schuss vom Kaliber 122 mm aufgetan zu haben. Da sind wir wieder bei Pavels Initiative.

Meine tschechische Freundin und Zeitzeugin Eva Kramerova wundert das Gehabe Pavels nicht. „Einmal General, immer General“, sagt sie in klangvollem Deutsch mit weichem tschechischen Akzent, als würde sie einen Spruch wie einst der brave Soldat Schwejk ausrufen. Eva berichtet, dass in Tschechien viele (nicht alle) Menschen mit dieser Art Amtsführung mehr als unzufrieden sind. Sie winkten ab, wenn man einen Vergleich mit einer Präsidentenlegende wie Vaclav Havel anstellen will. Der jetzige Mann in der Prager Burg sei für sie eine Enttäuschung.

„Herr Pavel muss eigentlich wissen, dass die einfachen Leute ganz andere Probleme haben, als an Munitionslieferungen zu denken und das auch noch klasse zu finden. Ich wie auch meine tschechischen Landsleute, Verwandte, Freunde, Bekannte machen sich Sorgen, wie man den Alltag schaffen, wie man die Miete bezahlen kann. Beim Einkaufen merkt man, dass alles teurer wird.“

Noch wehen ukrainische Fahnen von wichtigen Gebäuden in Prag als Zeichen der Solidarität für die Ukraine und der Ablehnung gegenüber Russland. Doch die regelmäßig protestierenden Demonstranten auf dem Wenzelsplatz fordern zunehmend vor allem eins: Frieden, Waffenstillstand, Verhandlungen. „Ich habe noch nicht gehört, dass dort nach noch mehr Waffen gerufen wurde“, sagt Eva Kramerova.

Die Prager Burg scheint jedoch weit weg vom Wenzelsplatz und den Menschen im Land zu sein. Auch mag der dort residierende Ex-General ignorieren, dass sich Tschechien recht nahe an der Ukraine befindet. Was der Tscheche Petr Pavel zum Verhalten seines europäischen Landsmanns Robert Fico, Ministerpräsident der Slowakei, sagt, ist nicht überliefert. Das würde die Harmonie und Einhelligkeit von militärischer Initiative und Vermittlungen (offen ausgedrückt: knallhartem Rüstungsgeschäft) stören. Fico lehnt Waffenlieferungen ab. Was die tschechische Regierung zur slowakischen Regierung sagt, lässt indes tief blicken, die Reaktion aus Bratislava ist ebenso deutlich. In Österreich wurde in der Kleinen Zeitung darüber berichtet:

Tschechiens Regierung unter Premier Petr Fiala hat auf ihrer Sitzung am Mittwoch in Prag beschlossen, geplante Regierungskonsultationen mit dem slowakischen Kabinett des Russland-freundlichen Premiers Robert Fico abzusagen. Damit reagiere man auf die versöhnliche Rhetorik der slowakischen Regierung gegenüber Russland. „Wir halten einige ihrer Aktivitäten für problematisch“, begründete Fiala den Schritt. Die Abhaltung der üblichen Treffen sei derzeit „nicht angemessen“.

Die Reaktion aus Bratislava ließ nicht auf sich warten. Der slowakische Ministerpräsident äußerte sich:

Fico reagierte empört über die Ankündigung aus Prag. Die tschechische Regierung habe beschlossen, die slowakisch-tschechischen Beziehungen nur deshalb zu gefährden, weil sie daran interessiert sei, den Krieg in der Ukraine zu unterstützen, während die slowakische Regierung offen über Frieden spreche, konterte Fico noch am Mittwochabend in einer Erklärung. Nach Angaben des slowakischen Ministerpräsidenten wird der Schritt der tschechischen Regierung keinen Einfluss auf die „souveräne Außenpolitik“ Bratislavas haben.
(Quelle: Kleine Zeitung)

Da war doch noch was, 1989, 1990, 1991. Und Petr Pavel?

1989 fand in der Tschechoslowakei (ČSSR – Tschechien und die Slowakei waren ein Staat) die Samtene Revolution statt. So wie in der DDR waren auch hier Soldaten der sowjetischen Armee stationiert, die 1968 das Land während des Prager Frühlings besetzt hatte. Der Wunsch kam nach der Revolution schnell auf, dass die Sowjettruppen die ČSSR verlassen sollten. Die Sowjetunion war ebenso ein anderes Land geworden, mit einem Staatsoberhaupt namens Michael Gorbatschow an der Spitze, der 1990 den Friedensnobelpreis für sein Engagement zur Beendigung des Kalten Krieges erhielt, auch für sein Handeln gegenüber den Tschechen und Slowaken:

Unser erster Schritt war, dass wir eine Woche nach der Samtenen Revolution vom 17. November 1989 einen Brief des Bürgerforums an die sowjetische Botschaft übergaben. Den hatten wir zu fünft unterschrieben, an der Spitze natürlich Václav Havel. In dem Brief baten wir Gorbatschow darum, Verhandlungen über einen Abzug zu beginnen und den Vertrag über den zeitweiligen Aufenthalt offiziell zu annullieren. Das war der Durchbruch. Innerhalb von einer Woche oder zehn Tagen kam die Antwort, dass Gorbatschow die Verhandlungen unterstützt. (Rockmusiker Michael Kocáb)

Der letzte Transportzug mit sowjetischen Soldaten verließ die Tschechoslowakei sogar einige Tage früher als geplant: am 21. Juni 1991.
(Quelle: Radio Prague International)

Der tschechische Staatspräsident Petr Pavel ist Jahrgang 1961. Er schlug beruflich eine militärische Laufbahn ein, war Hochschulabsolvent des Heeres und Mitglied der Kommunistischen Partei der damaligen ČSSR. Nach der Samtenen Revolution folgte eine beispiellose militärische Karriere in seiner Heimat und bei der NATO. Nun ist Pavel Präsident, sicher dank seiner vorzüglichen Referenzen, Kontakte usw.

Im Artikel „Blick nach Tschechien“ schrieb ich:

Was kümmern mich des Volkes Sorgen. Politik wird heutzutage so gemacht, dass sie der „Vermachtung“ dienlich ist (Oskar Lafontaine hat dieses Wort bei seiner Grußrede zu 20 Jahre NachDenkSeiten verwendet). So steht der tschechische Präsident Petr Pavel laut der Nachrichten-Webseite Politico auf der Liste der 28 einflussreichsten Persönlichkeiten, die Europa im Jahr 2024 prägen werden. Wie Europa jetzt und somit auch im neuen Jahr „geprägt“ wird, erleben die Tschechen, die Deutschen hautnah. Dass Falken wie Pavel ungeniert die „Richtung“ vorgeben und dafür gelobt werden, zeigt, wie die Militarisierung der Gesellschaft voranschreitet: Vermachtung als Methode, Politik und Interessenswahrung für wenige zu machen. Demokratie ist etwas anderes.“

Pavel prägt nun also tatsächlich Europa im Jahr 2024 – auf seine Generals-Weise. In Tschechien erleben die Bürger Munitionslieferungsinitiativen, den Kauf von 24 amerikanischen F-35-Kampfjets, erfahren, dass die Tschechische Republik und die USA einen bilateralen Vertrag aushandeln, der die USA in Tschechien berechtigt, beliebig viele Militärbasen zu eröffnen und beliebig viele Waffen zu lagern.

Das Jahr 2024 ist auch das Jahr eines militärischen Jubiläums ganz nach Geschmack Pavels: 25 Jahre NATO-Mitgliedschaft Tschechiens. Das wurde am Beitrittstag 12. März ordentlich gefeiert:

Mit einer Konferenz auf der Prager Burg wird in Tschechien am Dienstag an den Nato-Beitritt des Landes vor 25 Jahren erinnert. Der Kongress steht unter dem Motto „Naše bezpečnost není samozřejmost“ (Unsere Sicherheit ist keine Selbstverständlichkeit). Zur Eröffnung der Veranstaltung hielt Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) eine Rede. Dabei betonte er, der Nato-Beitritt am 12. März 1999 sei einer der wichtigsten Tage in der jüngeren Geschichte Tschechiens gewesen.

Zu den weiteren Rednern zählte am Dienstagmorgen auch Außenminister Jan Lipavský (Piraten). Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine forderte er zur Einheit des Westens und zur Unterstützung des angegriffenen Landes auf. Am Nachmittag werden bei der Konferenz Staatspräsident Petr Pavel sowie der ehemalige US-Präsident Bill Clinton erwartet.

An den NATO-Beitritt vor 25 Jahren wurde am Dienstagvormittag auch mit einem Überflug von sechs Militärflugzeugen über der Prager Innenstadt erinnert. Die Aktion fand dabei in Kooperation der tschechischen und der deutschen Luftwaffe statt.
(Quelle: Radio Prague International)

Titelbild: C-S/shutterstock.com

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