Ukrainische Drohnenangriffe auf russische Militärflugplätze am 31. Mai und 1. Juni in den Regionen Murmansk und Irkutsk haben erhebliche Schäden verursacht. Das wirft die Frage auf, wie diese Angriffe die russische Militärstrategie beeinflussen und welche Gegenmaßnahmen von Moskau zu erwarten sind. Der prominente russische Politologe Dmitri Trenin analysiert in unserem Interview die russische Haltung, die möglichen Folgen eines langen Krieges, den Einfluss westlicher Akteure und die Rolle Donald Trumps im Konflikt. Das Interview mit Dmitri Trenin führte und übersetzte aus dem Russischen Éva Péli.
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Am 31. Mai und 1. Juni griffen ukrainische Drohnen Militärflugplätze in den Regionen Murmansk und Irkutsk an, was laut dem russischen Verteidigungsministerium zu erheblichen Verlusten geführt hat. Welche Folgen hat dies für die bisherige Militärstrategie der russischen Führung?
Wie hoch auch immer der tatsächliche Schaden durch die ukrainischen Angriffe ist (es ist bereits klar, dass er deutlich geringer ist als von Kiew angegeben), wird dies praktisch keine Auswirkungen auf die Militärstrategie Russlands in der Ukraine haben. Ich hoffe, dass Lehren gezogen und die Schwachstellen Russlands beseitigt werden. Allerdings: Eine Woche nach den Ereignissen hat die strategische Luftwaffe Russlands einen der stärksten Schläge gegen Ziele in der Ukraine geführt. Unterdessen rücken die russischen Truppen an der gesamten Front weiter vor. Ich möchte auch auf die Worte von Präsident Putin hinweisen, dass sich der ukrainische Staat nach den blutigen Terroranschlägen auf Personenzüge zunehmend zu einem terroristischen Staat entwickelt. Diese neue Charakterisierung der ukrainischen Führung könnte in Zukunft Konsequenzen für Kiew haben.
Welche Reaktion ist Ihrer Meinung nach in den nächsten Wochen vom russischen Militär zu erwarten?
Es ist falsch, die militärischen Operationen nur auf eine Reaktion auf die Schritte des Feindes zu reduzieren. Russische Truppen werden die Aufgabe lösen, die heute von Kiew gehaltenen verfassungsmäßigen Gebiete von Noworossija (Neurussland) und des Donbass unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie werden auch danach streben, militärische, militärindustrielle, infrastrukturelle und ähnliche Objekte des Feindes im Hinterland zu zerstören.
Der Unterschied zwischen der russischen und der ukrainischen Strategie besteht darin, dass die Ukraine in erster Linie auf die propagandistische Wirkung ihrer Maßnahmen setzt, um die Moral der ukrainischen Streitkräfte und der Bevölkerung zu stärken und mehr Hilfe vom Westen zu fordern, während Russland sich auf die Erfüllung rein militärischer Aufgaben konzentriert. Es ist jedoch zu bedenken, dass die ukrainischen Aktionen vom 1. Juni die Frage nach der Rolle der westlichen Länder bei ihrer Vorbereitung und Durchführung aufwerfen. Um eine weitere Eskalation in Richtung eines großen Krieges zwischen der NATO und Russland zu vermeiden, würde ich zu einem bestimmten Zeitpunkt (allerdings kaum in den nächsten Tagen) auch Angriffe auf das Territorium europäischer Staaten, die die Ukraine bewaffnen und unterstützen, nicht ausschließen.
Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass diese neuen, aber kostengünstigen Methoden zu einer Verlängerung des Krieges beitragen könnten, da die Ukraine mit Unterstützung westlicher Satelliten ganz Russland erreichen und ähnliche Aktionen organisieren könnte?
Es ist zu bedenken, dass eine Ausweitung des Konflikts auf das gesamte russische Territorium den Krieg auch in die entgegengesetzte Richtung ausweiten könnte – auf ganz Europa. Die Europäer geben sich der Illusion hin, dass sie mit dem Leben der Ukrainer bezahlen können, während sie selbst in Sicherheit sind. Meiner Meinung nach bewegen wir uns derzeit auf eine groß angelegte Konfrontation zwischen Russland und der NATO zu, und die Ereignisse vom 1. Juni sind ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg.
Wer ist Ihrer Meinung nach die führende Figur unter den westlichen Akteuren, wenn es um Ratschläge für die Ukraine geht? Was sind Ihrer Meinung nach die Leitprinzipien der „Koalition der Willigen“?
Meiner Meinung nach gibt es hier eine gewisse Konkurrenz zwischen London, Paris und Berlin. Herr Starmer, Herr Macron und Herr Merz wetteifern darum, wer gegenüber Russland „cooler“ ist. Bislang scheuen sie sich jedoch, ihre Truppen in den Krieg gegen Russland zu schicken. Sollten sie ihre Zurückhaltung überwinden und es wagen, ohne US-Militärunterstützung in die Ukraine einzumarschieren, würden diese Truppen zum Ziel russischer Angriffe werden. Die Grundsätze dieser Koalition lauten (vorerst): laut schreien, wenig geben, keine Truppen schicken. Das kann sich jedoch ändern.
Wie beurteilen Sie die Haltung von US-Präsident Trump, der den Krieg so schnell wie möglich beenden möchte, angesichts der oft unentschlossenen Maßnahmen Washingtons?
Trump will die Militäraktionen in der Ukraine beenden, sich dies als Verdienst anrechnen und den Friedensnobelpreis erhalten. Er will, aber er kann nicht. Er manövriert und droht, seine Vermittlerrolle aufzugeben und Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Trumps Position ist ziemlich schwach. Seine Drohungen gegenüber Putin zeigen keine Wirkung. Er ist auch dem Einfluss eines Teils seines Teams, des Kongresses (einschließlich der Republikaner) und praktisch aller europäischen Staats- und Regierungschefs ausgesetzt. Trump hat Angst, eine Entscheidung zu treffen. Daher seine Unentschlossenheit.
Es scheint, dass Russland vor einer Entscheidung steht. Wie schätzen Sie die Möglichkeiten ein, die militärischen Herausforderungen des Krieges mit den bisher eingesetzten Mitteln und in dem bisherigen Umfang zu bewältigen?
Im Krieg ändert sich ständig alles. Der aktuelle Konflikt erfordert nicht nur ständig verbesserte Formen und Methoden der Kriegsführung, sondern auch völlig neue Lösungen als Antwort auf die wachsenden Herausforderungen. Wir haben gerade eine massive Eskalation des Krieges durch Kiew und seine Verbündeten erlebt. Auf diese Herausforderung muss eine Antwort gefunden werden.
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