Für das „Gemeinwesen“ müssten unter Umständen deutsche Eltern bereit sein, ihre Söhne und Töchter in den Krieg zu schicken und zu opfern – das sagt der Historiker Egon Flaig in einem Beitrag von 3sat „Kulturzeit“. Anschlussfähig an die Realität sind diese Aussagen nicht. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
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„Sofort (!) die Wehrpflicht wieder einführen und warum nicht das tun, was man jetzt in Polen tut, (…) in den oberen Klassen in Polen (…) werden Schießübungen (…) in den Unterricht aufgenommen – ich halte das für richtig.“ Das sagt der Historiker Egon Flaig in einem Beitrag von 3sat „Kulturzeit“. Flaig lässt sich über die „Unwilligkeit von Eltern, ihre Kinder als Soldaten zu sehen“, aus. Von der Stimme aus dem Off ist paraphrasierend zu hören: „Eltern müssten bereit sein, ihre Kinder zu geben.“
Flaig: „Die Unwilligkeit von Eltern, ihre Kinder als Soldaten zu sehen, das heißt: Als Mitglieder des Gemeinwesens, die eventuell geopfert werden für das Gemeinwesen, die geopfert werden für die Aufrechterhaltung unseres Lebens, so wie wir es weiter leben wollen – dieser Wille, dieses Opfer auch bringen zu wollen, ist ein schmerzliches (…).“
Die Stimme aus dem Off sagt:
„Doch am Opfermut bei Eltern und ihren Kindern fehle es. Schuld daran sei ein jahrzehntelanger Pazifismus.“
Schießübungen für Schüler? Eltern, die ihre Kinder für ein Gemeinwesen opfern sollen? Die Aufrechterhaltung unseres Lebens?
Eine zentrale Frage schließt sich an: Wovon redet der Historiker? Zur Realität fehlt den Aussagen wie den zitierten schlicht die Anschlussfähigkeit. Aus welchem Grund sollten Kinder an Schulen das Schießen lernen? Warum sollten Eltern bereit sein, ihre Kinder zu opfern?
Die falsche Annahme von Flaig, dass Russland Krieg mit der NATO will, ist das eine. Das andere ist: Seine Aussagen sind auch völlig losgelöst von politischen Grundannahmen eine Zumutung für Humanität und zivilisatorische Errungenschaften. Kinder werden zur Verfügungsmasse eines wie auch immer gearteten „Gemeinwesens“ degradiert, die als Soldaten bereit zu sein haben, in den Tod zu ziehen. Liebende Eltern, die ihre Kinder nicht in den Kriegstod schicken möchten, werden als etwas für das „Gemeinwesen“ Negatives verstanden.
Das ist, um es geradeaus zu sagen, unmenschlich! Selbst unter der Prämisse, dass „da draußen“ ein böser Feind wäre, der einen Staat angreifen und vernichten wollte, dürfte kein demokratisches Gemeinwesen auf dieser Welt von Bürgern verlangen, dass sie ihr Leben für andere opfern. Das eigene Leben für andere zu opfern, kann nur auf der freien Entscheidung und dem freien Willen eines jeden einzelnen Bürgers beruhen. Vorstellungen, die im Hinblick auf Krieg und Soldatentum den Einzelnen zum Objekt eines größeren Ganzen machen, stellen den Menschen mit seinem freien Willen auf die Stufe einer Insektenkolonie.
Ein Staat überlebt in einer Kriegssituation, wenn genügend Bürger bereit sind, für den Staat, ihr Land und die darin lebenden Menschen zu kämpfen. Ist dies nicht der Fall, wird der Staat vielleicht zerfallen. Im Einzelfall mag das tragisch, schlimm, falsch oder vielleicht sogar richtig sein – wie auch immer am Ende aber Historiker die Verhältnisse einordnen werden, eines sollten sie verstehen: Eine Pflicht zum Kampf kann und darf keine Demokratie veranschlagen.
Dem interessierten Leser sei an dieser Stelle Flaigs Beitrag in der FAZ empfohlen, der unter der Überschrift „Kann die Demokratie ohne Opferbereitschaft überleben?“ erschienen ist und im Zeichen des politischen Großvorhabens Kriegstüchtigkeit zu verstehen ist.
Kant, von Clausewitz, Habermas, die Griechen, die Römer und ein französischer General kommen darin vor. Von „Fahnenflucht“ und von dem Menschen als „Ressource“ ist die Rede. Ein „pazifistisches Klima“ lauge die „wertemäßige Verbundenheit mit dem Gemeinwesen“ aus, meint Flaig. Und „maßgeblich“ sei, „wie wertvoll“ den Bürgern ihre „Zugehörigkeit zu ihrer Nation ist“.
Wie so oft: Worte wie „Werte“ und „Nation“ werden dann reaktiviert, wenn sie im Sinne eines Feindbildes der vorherrschenden Politik dienlich sind.
24-mal kommt in dem Beitrag zudem das Wort „Opfer“ vor. Begriffe wie „Stellvertreterkrieg“ oder „Tiefenpolitik“ finden sich darin nicht – eine Bankrotterklärung für eine historische Analyse.
In Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ heißt es:
„Wir waren 18 Jahre und begannen, die Welt und das Dasein zu lieben; wir mussten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz.“
Das brauchen wir nicht noch einmal – auch nicht unter intellektuellen Verrenkungen aus dem Munde eines Historikers, der vom gemütlichen Arbeitszimmer aus von der Opferung unserer Kinder spricht. Flaigs Ansichten entstammen aus der Mottenkiste der Weltkriege. Dort gehören sie hinein und nie mehr rausgelassen – im Sinne der Humanität und des Friedens.
Titelbild: Screenshot 3sat