Als russische Truppen in die Ukraine einmarschierten, sprachen deutsche Medien und die deutsche Regierung sofort von einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Man müsse sich mit dem Überfallenen solidarisieren, der Aggressor dürfe für den Völkerrechtsbruch nicht belohnt werden. So weit, so gut. Seit Freitag bombardiert Israel den Iran – ein glasklarer Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta, ein Völkerrechtsbruch, ein Angriffskrieg, der jedoch weder von den deutschen Medien noch von der deutschen Regierung so benannt wird. Nun fordern sie, Deutschland müsse sich nicht mit dem Überfallenen, sondern mit dem Aggressor solidarisieren. Das sind doppelte Standards in ihrer skurrilsten Form. Wer den russischen Völkerrechtsbruch anprangert, darf zum israelischen Völkerrechtsbruch nicht schweigen. Ein Kommentar von Jens Berger.
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Russland hat die Invasion der Ukraine mit einem Präventivschlag begründet. Man sah die eigenen Sicherheitsinteressen durch die Stationierung westlicher Waffensysteme und die drohende NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gefährdet. Dies mag aus russischer Sicht begründet gewesen sein, es war jedoch ein klarer Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta. Russland selbst spricht nicht von einem Krieg, sondern von einer „Spezialoperation“.
Israel begründet seinen Luftkrieg gegen den Iran ebenfalls mit einem Präventivschlag. Auch Israel sah die eigenen Sicherheitsinteressen durch das iranische Atomwaffenprogramm gefährdet. Auch hier kann man sagen, dass dies aus israelischer Sicht vielleicht durchaus begründet gewesen sein kann, dies jedoch ebenfalls einen klaren Verstoß gegen das Gewaltverbot der UN-Charta darstellt. Auch Israel spricht übrigens nicht von einem Krieg, sondern von einer „gezielten Militäroperation“.
Sicher, man kann die beiden Kriege natürlich nicht eins zu eins zu vergleichen oder gar gleichsetzen; zu unterschiedlich sind sie in ihrer Entstehung, ihren Ursachen und ihrer Dynamik. Was man aber durchaus gleichsetzen kann, ist die völkerrechtliche Bewertung beider Kriege. Das Völkerrecht kennt hier keine Ausnahmen und Sonderregelungen, sondern ist bei dem Gewaltverbot sehr eindeutig. Weder Russland noch Israel haben durch einen Präventivschlag einen unmittelbar bevorstehenden Angriff verhindert und weder Russland noch Israel hatten für ihre Militärschläge ein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Punkt.
Nun könnte man sich in Rechtsnihilismus und Rechtsverachtung auslassen und beklagen, dass das Völkerrecht in seiner Bedeutung ohnehin ständig mit den Füßen getreten wird und de facto stattdessen das Recht des Stärkeren gilt. Alternativ könnte man das Völkerrecht auch glorifizieren und von einer Renaissance einer regelbasierten Weltordnung träumen. Beides gleichzeitig geht jedoch nicht. Doch genau dies scheint die deutsche und auch die europäische Linie in den beiden Großkonflikten zu sein.
So hat beispielsweise das Auswärtige Amt in einer ersten Reaktion auf Israels Angriffe sehr neutral von „gezielten Angriffen auf Irans Nuklearanlagen“ gesprochen und wurde daraufhin von niemand anderem als Mohamed el-Baradei, seines Zeichens ehemaliger Generaldirektor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) und Friedensnobelpreisträger, darauf hingewiesen, dass die Genfer Konventionen, die selbstverständlich auch Deutschland ratifiziert habe, derartige Angriffe explizit verbietet. El-Baradei rät dem Auswärtigen Amt lakonisch, sich doch besser einmal mit den Grundlagen des Völkerrechts vertraut zu machen. Recht hat er.
Aber es ist ja nicht nur das Auswärtige Amt. Bundeskanzler Merz höchstpersönlich hatte auch nichts Besseres zu tun, als Israel in einem ersten Statement via X „das Recht zuzusprechen“, „seine Existenz und die Sicherheit seiner Bürger zu verteidigen“. Auch EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen spricht nahezu wortgleich von Israels Recht auf Verteidigung und betreibt damit wie Merz eine lupenreine Täter-Opfer-Umkehr – wir kennen auch diesen Vorwurf aus der Ukrainekrieg-Debatte von der anderen Seite. Israel hat diesen Krieg aber begonnen. Es verteidigt sich nicht, es greift an.
Würden Merz, von der Leyen und Co. also ihrer im Ukrainekrieg überstrapazierten Linie treu bleiben, müssten sie nicht Israel, sondern Iran das Recht auf Verteidigung zugestehen. Israel müssten sie im Umkehrschluss dann als Aggressor verurteilen und mit Sanktionen belegen. Sie müssten nicht Israel, sondern dem Iran Waffen liefern. Eine absurde Idee? Ja, natürlich. Aber zu solch absurden Schlüssen kommt man nun einmal, wenn man das Gerede der Genannten in der Ukrainekrieg-Thematik mal für einen Moment ernstnimmt.
Doch wahrscheinlich ist ja genau das der Fehler. Man kann und sollte das Gerede einfach nicht ernstnehmen. Deutschland betreibt keine wertegeleitete oder gar regelbasierte Außen- und Sicherheitspolitik, sondern dreht sich die Werte und die Regeln gerade so, wie es ihm beliebt. Man könnte auch von Eigeninteresse – oder zumindest das, was Merz, von der Leyen und Co. dafür halten – oder gar Willkür sprechen.
Das kann man machen. Die Idee, dass Außen- und Sicherheitspolitik etwas anderem als dem Eigeninteresse oder der Willkür der Herrschenden folgen könnte, ist ja recht neu und scheint sich auch nicht wirklich durchgesetzt zu haben. Aber dann sollte man doch bitte aufhören, von Werten oder dem Völkerrecht zu schwadronieren.
Ein Grundsatz der europäischen Rechtsphilosophie und mithin des demokratischen Rechtssystems ist der Gleichheitssatz. Vor dem Recht sind alle gleich. Punkt. Vor dem Völkerrecht sind aber – zumindest nach Auffassung der deutschen Regierung und der EU – nicht alle gleich. De facto sind wir also auf völkerrechtlicher Ebene bereits im Rechtsnihilismus und der Rechtsverachtung versunken. Wenn dies der Wille unserer Regierungen ist, dann sei dem so. Aber dann schweigt doch bitte, bitte endlich zum Völkerrecht. Solange man das Völkerrecht rein instrumental, interessengeleitet und selektiv heranzieht, hat es keine Bedeutung mehr. Solange man den Begriff inflationär gegen Russland beim Ukrainekrieg ins Spiel bringt, aber weder beim israelischen Völkermord in Gaza noch beim israelischen Angriffskrieg gegen den Iran, will ich nie wieder das Wort „Völkerrecht“ hören. Nie wieder!
Titelbild: ruskpp/shutterstock.com