Zwischen Prävention und Aggression – Der Iran–Israel-Krieg als globaler Präzedenzfall

Zwischen Prävention und Aggression – Der Iran–Israel-Krieg als globaler Präzedenzfall

Zwischen Prävention und Aggression – Der Iran–Israel-Krieg als globaler Präzedenzfall

Detlef Koch
Ein Artikel von Detlef Koch

Der offene militärische Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran stellt eine Eskalation dar, die in ihrer Qualität weit über das hinausgeht, was bisher als „Stellvertreterkrieg“ oder regionale Spannung bezeichnet wurde. Dennoch bleibt die öffentliche Debatte – insbesondere in westlichen Medien – bemerkenswert einseitig. Sie folgt einem altbekannten Deutungsmuster: Israel „wehrt sich“, Iran ist „aggressiv“. Was in dieser Rahmung fehlt, ist eine differenzierte und völkerrechtlich fundierte Analyse der tatsächlichen Konfliktdynamik. Von Detlef Koch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

  1. Der selektive Blick auf das Gewaltverbot: Bruchstellen auf beiden Seiten
    Die Charta der Vereinten Nationen enthält ein klares Gewaltverbot in Artikel 2 Absatz 4 [1] – es untersagt die Androhung oder Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Dieses fundamentale Prinzip wurde im Kontext des Iran–Israel-Konflikts in den vergangenen Jahren systematisch unterlaufen – von beiden Seiten. Dennoch wird in der Berichterstattung häufig suggeriert, nur eine Seite verstoße gegen das internationale Recht.

    So haben israelische Streitkräfte in der Vergangenheit mehrfach auf fremdem Staatsgebiet agiert – etwa bei der gezielten Tötung iranischer Militärführer in Syrien oder durch Cyberangriffe auf iranische Nuklearanlagen. Der Stuxnet-Virus von 2010 gilt als Präzedenzfall für eine neue Form der „stillen“ Aggression. Auch die gezielte Tötung von IRGC-General Soleimani im Jahr 2020 auf irakischem Boden war ein klarer Verstoß gegen die Souveränität eines Drittstaates. Spätestens mit der Operation „Rising Lion“ im Juni 2025, die massive Luftschläge gegen iranisches Kernland beinhaltete, wurde die Schwelle zum offenen internationalen bewaffneten Konflikt überschritten.

    Doch auch der Iran hat völkerrechtliche Grenzen ignoriert: durch die strategische Unterstützung bewaffneter Milizen wie Hisbollah und Widerstandsgruppen wie Hamas, deren Angriffe auf Israel mit Kenntnis oder sogar Mitwirkung Teherans erfolgten, sowie durch direkte Raketenangriffe auf israelisches Territorium – etwa im April 2024 und erneut nach dem Schlag gegen Isfahan 2025. Diese Eskalation erfolgte nicht im luftleeren Raum, sondern als Teil einer jahrelangen Dynamik gegenseitiger Provokation und Eskalationsprozesse.

  2. Der Schattenkrieg vor dem Krieg: Eskalation mit Ansage
    Was medial untergeht, ist die langfristige strategische Aufladung des Konflikts. Beide Seiten haben über Jahre hinweg auf Eskalation hingearbeitet – mit Mitteln, die bewusst unterhalb der Schwelle eines offenen Kriegs angesiedelt waren. Israel flog über 400 Luftschläge gegen iranische Einheiten in Syrien zwischen 2013 und 2022. Der Iran wiederum baute systematisch ein Netz aus paramilitärischen Verbündeten in Libanon, Syrien, Irak, Jemen und Gaza auf – aus Sicht vieler Völkerrechtler eine Form „indirekter Kriegsführung“, die bei nachgewiesener „overall control“ als zwischenstaatlicher Konflikt (IAC) zu qualifizieren ist.

    Gleichzeitig entwickelte sich eine neue, schwer greifbare Kriegsform: der Cyberkrieg. Dieser wurde nicht nur technisch aufgerüstet, sondern politisch normalisiert – als Mittel ohne rechtliche Grauzone. Spätestens mit der Akzeptanz des Stuxnet-Virus als „chirurgisches Werkzeug“ war der Damm gebrochen. Die Kriegsführung im digitalen Raum wurde zur faktischen „erlaubten Ausnahme“ – ein gefährlicher Präzedenzfall für andere Staaten.

  3. Die Rolle der USA: Eine Kriegspartei im Schatten
    Ein weiterer blinder Fleck im westlichen Diskurs ist die Rolle der Vereinigten Staaten. Washington wird gemeinhin als „Vermittler“ oder „Stabilisator“ dargestellt – tatsächlich aber agiert die US-Regierung spätestens seit dem Angriff auf iranische Stellungen 2020 und der intensiven Militärkooperation mit Israel als faktische Kriegspartei. Die Unterstützung reicht von finanziellen Hilfen über Rüstungskooperationen (Iron Dome, F-35) bis zur logistischen Absicherung israelischer Militäraktionen im Nahen Osten.

    Dies wird insbesondere daran deutlich, dass amerikanische Frühwarnsysteme und Luftabwehrplattformen direkt in israelische Vergeltungsschläge eingebunden waren – so auch während der Operation „Rising Lion“. Die USA beanspruchen dabei die völkerrechtliche Grauzone einer „unterstützenden Partei“, die sich dennoch aus der Verantwortlichkeit heraushält. Dieses strategische Doppelspiel bleibt in der medialen Verarbeitung weitgehend unkommentiert – ein Schweigen mit geopolitischer Funktion.

    Die Gleichzeitigkeit von wechselseitigen Rechtsbrüchen, verdeckter Kriegsführung und stiller Komplizenschaft Dritter macht den Iran–Israel-Krieg zu einem Kristallisationspunkt globaler Ordnungsprobleme. Doch der öffentliche Diskurs bleibt in eingefahrenen Mustern stecken: Wer provoziert? Wer reagiert? Wer darf „präventiv“ handeln? Diese Fragen greifen zu kurz. Es geht nicht um moralische Hierarchien, sondern um die konsequente Anwendung eines Rechtsrahmens, der für alle gelten muss – oder für keinen mehr gilt.

    Kriege, so schrieb Carl von Clausewitz, sind „eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Doch diese „anderen Mittel“ fordern einen hohen Preis – meistens dort, wo keine Politik mehr gemacht werden kann: in den zerbombten Wohnvierteln, in den Krankenhäusern ohne Strom, in den Klassenzimmern, die zu Notunterkünften wurden. Der aktuelle Krieg zwischen Iran und Israel illustriert dies in brutaler Klarheit: Während politische Eliten in beiden Ländern von der Eskalation profitieren, zahlen Zivilist:innen den Preis – mit ihrem Leben, ihrer Freiheit, ihrer Zukunft. Und die internationale Diplomatie? Sie wird zum bloßen Zuschauer degradiert.

  4. Der Krieg als innenpolitischer Ausweg: Israel zwischen Krise und Konsolidierung
    Seit Monaten steht die israelische Regierung unter Druck. Die tiefgreifenden Justizreformen, die Premierminister Benjamin Netanjahu mit seiner rechtsnationalen Koalition durchzusetzen versucht, stoßen auf massiven Widerstand – nicht nur auf der Straße, sondern auch innerhalb der Militär- und Sicherheitsapparate. Gleichzeitig wächst der Unmut über die anhaltende wirtschaftliche Polarisierung und die Eskalation der Gewalt in den besetzten und belagerten palästinensischen Gebieten.

    Im Schatten dieser Krise kommt der offene Schlagabtausch mit dem Iran nicht ungelegen: Der „äußere Feind“ dient als Projektionsfläche nationaler Einheit, und die Regierung kann sich als Garant israelischer Sicherheit inszenieren. Der Angriff auf iranische Einrichtungen wird nicht nur als Selbstverteidigung deklariert, sondern als notwendiger Schlag gegen eine „existenzielle Bedrohung“. Innenpolitisch erlaubt dieses Narrativ eine Re-Politisierung des Militärs zugunsten der Regierung – wer jetzt Netanjahu kritisiert, riskiert, als unpatriotisch zu gelten.

    Wie schon in früheren Eskalationen zeigt sich: Der Krieg wird zur Legitimationsquelle für eine Politik, die ethno-demokratische Institutionen Israels aushöhlt. Die Opfer auf beiden Seiten, die Zerstörung ziviler Infrastruktur, die Aufhebung von Grundrechten – all das gerät in den Hintergrund einer Politik, die unter dem Banner „Sicherheit“ vor allem den Machterhalt sichert.

  5. Der iranische Sicherheitsstaat: Der äußere Feind als Klammer für die Kontrolle
    Auch im Iran nutzt das sicherheitspolitische Establishment den Krieg zur Festigung der eigenen Macht. Die Revolutionsgarden, deren Einfluss im politischen und wirtschaftlichen System in den letzten Jahren stetig gewachsen ist, können sich als Verteidiger des Vaterlandes profilieren. Der israelische Präventivschlag – insbesondere die Tötung hochrangiger IRGC-Offiziere [2] – wird zum Beweis einer permanenten Bedrohung stilisiert, die nationale Geschlossenheit und geopolitische Standhaftigkeit verlange.

    Diese Rhetorik dient einem klaren Zweck: der Delegitimierung der Reformbewegung und der oppositionellen Zivilgesellschaft. Wer nach Demokratie, Frauenrechten oder Pressefreiheit ruft, wird nun mit dem Vorwurf konfrontiert, der nationalen Sache zu schaden. Die gewaltsame Niederschlagung von Protesten kann unter Verweis auf den Kriegszustand verschärft werden; kritische Stimmen werden als „innere Kollaborateure“ des Feindes gebrandmarkt.

    Was in der westlichen Öffentlichkeit kaum beachtet wird: Auch im Iran gibt es eine vielstimmige Gesellschaft, die sich nach Öffnung und Frieden sehnt – und für die der Krieg nicht nur eine militärische Eskalation ist, sondern auch eine weitere Phase politischer Repression. Ihre Stimme wird im Kriegsrauschen übertönt.

  6. Zivilist:innen zwischen den Fronten: Die Logik der „legitimen Kollateralschäden“
    Während politische Akteure den Krieg nutzen, sterben auf beiden Seiten Zivilist:innen – in Teheran wie in Tel Aviv, in Isfahan wie in Haifa. Raketen treffen Wohngebäude, Drohnen legen Stromnetze lahm, Luftabwehrsysteme explodieren inmitten bewohnter Gebiete. Der Schutz der Zivilbevölkerung, den das humanitäre Völkerrecht verspricht, wird systematisch ausgehöhlt.

    Wie Eyal Benvenisti treffend analysiert, haben sich die Regeln des Kriegs in asymmetrischen Konflikten verschoben: Die klassische Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilpersonen verwischt, wenn Angriffe auf „militärische Infrastruktur“ ganze Stadtviertel betreffen. In diesem Kontext wird ziviler Schaden zum einkalkulierten Kollateral – legalisiert durch die Rhetorik der Verhältnismäßigkeit, entmenschlicht durch die Sprache der „Sekundärziele“.

    Die internationale Reaktion auf diese Erosion des Schutzes ist erschreckend schwach. Während UNO-Gremien zum „möglichst schnellen Waffenstillstand“ aufrufen, werden Waffenlieferungen forciert, diplomatische Protestnoten verschickt – und zugleich umformuliert, sobald es sich um einen „strategischen Partner“ handelt. Was bleibt, ist ein Eindruck: Das Recht des Stärkeren ersetzt das Recht des Völkerrechts. Und die Zivilbevölkerung steht schutzlos im Feuer.

  7. Marginalisierung der Diplomatie: Die UNO als Statist im Theater der Gewalt
    Sowohl Israel als auch der Iran ignorieren faktisch die Rolle des UN-Sicherheitsrats – entweder, weil dieser durch das Vetorecht blockiert ist, oder weil sie wissen: Die Konsequenzen sind gering. Resolutionen werden verabschiedet, aber weder umgesetzt noch kontrolliert. Ein effektives kollektives Sicherheitssystem existiert nicht mehr.

    Stattdessen sehen wir eine wachsende Toleranz gegenüber völkerrechtswidriger Gewalt – solange sie von den „richtigen“ Akteuren ausgeht. Die internationale Ordnung, wie sie nach 1945 formuliert wurde, steht vor dem Zerfall. Der Krieg zwischen Israel und dem Iran ist nur ein Symptom – aber ein besonders lautes.

  8. Fazit: Profiteure auf den Tribünen, Opfer auf dem Spielfeld
    Wenn Kriege nicht mehr verhindert, sondern politisch verwertet werden, wenn Völkerrecht nur noch selektiv gilt, wenn Diplomatie zur rhetorischen Geste verkommt – dann stellt sich nicht nur die Frage, wer nützt und wer leidet. Dann stellt sich die Frage, wie lange sich eine internationale Gemeinschaft noch so nennen darf, die beim Morden zuschaut, während ihre Regeln zynisch instrumentalisiert werden.

    Die Antwort auf diese Frage wird nicht auf Regierungsebene gegeben. Sie liegt bei den Menschen, die sich – in Israel, im Iran, in Europa – weigern, zwischen „guten“ und „schlechten“ Toten zu unterscheiden. Die das Recht auf Frieden nicht verächtlich machen lassen. Und die daran erinnern: Krieg nützt denen, die ihn befehlen – und schadet allen, die ihn führen müssen.

Titelbild: Andy.LIU / shutterstock.com


[«1] Art. 2 Abs.4: Alle Mitglieder unterlassen in ihren inter-nationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
[«2] Islamic Revolutionary Guard Corps

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