Der öffentlich-rechtliche Deutschlandfunk erscheint kritischen Hörern entgegen seines Auftrags (Rundfunkstaatsvertrag) wie ein Regierungssender, ein Verbreitungsmedium genehmer Nachrichten, Meinungen und „Einordnungen“: „Da geht es lang, liebe Mitbürger“, tönen DLF-Wortmeldungen oft. Da wütet in Gaza eine gemachte Katastrophe, die zum Monstrum der Unmenschlichkeit für die Ewigkeit auswuchert. Dennoch kommen zahlreiche Berichte und Nachrichten des DLF (und vieler anderer Medien) bislang im kühlen Stil daher, als braucht es Sachlichkeit und regierungsfreundliche Kunst, Böses zu relativieren, um sich so wegzuducken. Nun hörte ich einen Kommentar, der mich aufhorchen ließ, weil der kritisierte, dass „Gaza“ möglich gemacht (!) wurde durch Rhetorik, Wegsehen, Doppelmoral und Schweigen. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
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Vorab: Die Sätze der Kommentatorin des Deutschlandfunks sind an sich beeindruckend. Allein sie kommen viel zu spät, schieben nichts an und ändern auch nichts (mehr). Sie lösen bei potenziellen Adressaten (Politiker der Regierung) keinen oder kaum Handlungsdruck aus. Das Schweigen, das Nichtstun bleibt, das Agieren für die Katastrophe setzt sich fort. Tag für Tag. Diese Katastrophe, das Unrecht, das Verbrechen in Gaza setzt sich fort – bis zur kompletten Vollendung, die sich Mensch nicht ausmalen kann und will. Der DLF-Kommentar endet zumindest zaghaft, dass das Schweigen die Idee, dass es so etwas wie universelle Menschenrechte je gegeben hat, zerstört. Richtiger muss es heißen: schon lange zerstört hat.
Wir haben uns daran gewöhnt? Nein, die, die immer wegschauen, wenn es unbequem wird
Vielleicht kennen Sie das Gefühl, wenn beim Medienkonsum ein (seltener) Lichtblick zutage tritt. Ich erlebte jüngst beim regelmäßigen wie anstrengenden Hören des Deutschlandfunks einen solchen, als ich den hier nachfolgend aufgeschriebenen Text (Kommentar) vernahm. Immer und immer wieder hörte ich beim Notieren die Sätze der Kommentatorin und spürte ein heftiges Hin und Her der Gefühle: Schön, dass es so einen Kommentar gibt – schlimm, dass das so lange braucht, bis sich jemand vom Lager der öffentlich-rechtlichen Einordner, Erklärer, Regierungsversteher usw. aus der Deckung wagt, dachte ich. Die Katastrophe Gaza ist ohnehin im Gang, der Kommentar nahm sich dieser wenigstens an – und doch zu spät. Ich nahm ihr ihre Worte folglich auch nicht wirklich ab, schon gar nicht akzeptierte ich, dass die Kommentatorin im „Wir“-Modus sprach. Ihr Kommentar:
Welche Farce und Verhöhnung – eine „humanitäre Stadt“, und doch findet es statt
Israels Militär soll jetzt konkret planen, wie mindestens 600.000 Palästinenser aus Gaza in eine sogenannte „humanitäre Stadt“ zwangsvertrieben werden können. Ein Lager auf den Ruinen Rafahs, in dem Palästinenser eingesperrt und auf ihre Ausreise vorbereitet werden sollen. Das hat Verteidigungsminister Katz Journalisten am Montag vertraulich mitgeteilt. Der Begriff „humanitäre Stadt“ – eine Farce, eine Verhöhnung, der Gipfel einer bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Reinterpretation des Völkerrechts. Er steht exemplarisch für eine Strategie, in der Schutz zur Kontrolle und Hilfe zur Internierung wird.
Und der Aufschrei? Bleibt aus. Wir haben uns an diese Rhetorik gewöhnt. Wir zucken kaum noch, wenn Israels Verteidigungsminister so eine Ankündigung macht, auch weil die Idee nicht neu ist. Sie wurde monatelang angekündigt, sprachlich getestet, ihre Umsetzung dadurch vorbereitet. Seit bald zwei Jahren hört man von Hardlinern wie dem rechtsextremen Finanzminister Smotrich, die Bevölkerung Gazas solle konzentriert und zur (Zitat) „freiwilligen Ausreise gedrängt werden“. Je öfter man diese Rhetorik hört, desto sagbarer wird das Unsagbare, desto mehr stumpft man ab. Und das Unvorstellbare wird Realität. Und es funktioniert.
Der Plan soll jetzt umgesetzt werden, weil die internationale Gemeinschaft dem nie mit der nötigen Empörung und Konsequenz entgegengetreten ist. Konsequenz hieße etwa, keine Waffenlieferungen mehr und keine Statements, die mit „Wir sind besorgt“ beginnen und mit der immer gleichen Formel vom Selbstverteidigungsrecht enden. Die Solidarität nach den Schrecken des 7. Oktober war richtig, doch längst ist die Verhältnismäßigkeit überschritten, das Unvorstellbare wird zur Routine, weil wir nicht nur tatenlos zuschauen, sondern weil Politiker wie Friedrich Merz die Sprache dieser Gewalt akzeptieren. Sie sprechen von Solidarität – und meinen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Palästinenser. Sie sprechen von Israels Sicherheit und schweigen über eine Regierung, die ethnische Vertreibung forciert und weiterplant.
Der bedeutungsschwangere Begriff „humanitäre Verantwortung“ verkommt zur Floskel. Er bedeutet nichts mehr, wenn wir heute zulassen, dass Menschen in Lager gesperrt werden unter dem Etikett „humanitär“, wenn wir hinnehmen, dass das Völkerrecht nicht mehr zählt, solange es der richtige Bündnispartner ist, der es bricht.
Was in Gaza passiert ist, war nicht plötzlich da, es wurde möglich gemacht, durch Rhetorik, durch Wegsehen, durch Doppelmoral, durch Schweigen. Und wer jetzt noch schweigt, der darf sich nicht wundern, dass am Ende nicht nur eine Region zerstört ist, sondern auch die Idee, dass es so etwas wie universelle Menschenrechte je gegeben hat. (Hanna Resch, Kommentar Deutschlandfunk)
(Quelle: DLF)
Nicht wundern? Am Ende eine Region zerstört? Wenn wir zulassen?
Die Sätze lassen mich mehr und mehr betroffen und wütend zurück. Die an und für sich offene, ungeschönt wirkende Wortmeldung sehe ich eher als einen Beleg der Ohnmacht und Folgsamkeit. Keine Konsequenzen werden gefordert, das Unheil wird kritisiert, aber hingenommen, das Handeln der Verantwortlichen ebenso. Die Sätze mit all diesen „Wenn“ klingen, als sind sie jetzt schnell noch formuliert worden, um sagen zu können: Das ist aber auch schlimm, habe ich ja schon immer so gedacht. Ich finde das bequem und wenig mutig, weil der Kommentar in einem zeitlichen Verlauf, in dem sowieso schon alles kaputt ist, in die Öffentlichkeit gelang. Warum gab es nicht schon ab Oktober 2023 derartige Kommentare, Worte, Mahnungen, Forderungen, Appelle aufzuhören, innezuhalten mit dem Wahnsinn der Rache, der Vergeltung, den Angriffen, die in ihrer Wucht und perspektivischen Ausrichtung genau zum Ziel hatten, was im DLF-Kommentar nun bilanziert wird?
Ich lese: „Wenn wir hinnehmen, dass das Völkerrecht nicht mehr zählt, solange es der richtige Bündnispartner ist, der es bricht. Was in Gaza passiert ist, war nicht plötzlich da. Es wurde möglich gemacht, durch Rhetorik, durch Wegsehen, durch Doppelmoral, durch Schweigen.“ Nicht wenn, sondern weil „wir“ hinnehmen, passiert das, denke ich. Das „Wir“ personifiziere ich nicht mit den vielen Menschen in unserem Land und überall um uns herum, die nicht „hinnehmen“. Doch da gibt es ein Problem. Was nützt es der einfachen Bevölkerung hier und sonst wo, für Frieden, Verständigung, Miteinander, Solidarität und Fairness einzustehen, all dieses zu verlangen und auch zu verdienen, wenn ihr mächtiges Führungspersonal und deren Gefolgschaften ihre unheilvolle Politik und deren „Verkauf“ unbeeindruckt umsetzen?
Die „Verkäufer“ – etablierte Medien, die mitmachen und sich manchmal humanistisch geben
Dem Fußvolk wird tatsächlich offeriert, was fern von Frieden, Verständigung usw. richtig ist. Alle die spielen mit, die etabliert und weich gepolstert arbeiten können und „dazugehören“. Ich höre DLF, ich lese Zeitungen wie die Süddeutsche – stets schwingt das Gefühl des Unwohlseins mit und die Frage: Warum reden, schreiben die so, warum protestieren sie nicht, warum schreien sie nicht auf, warum machen sie keinen Rabatz?
Sie machen das halt lieber so: Ein Verbrechen anzukündigen, zu planen und zu realisieren, heißt dann „erwägt“?
Israels Regierung erwägt, im Süden des Gazastreifens ein Lager für 600.000 Menschen zu errichten. Premier Netanjahu sagt, er suche auch nach Ländern, die bereit seien, die Palästinenser aufzunehmen.
(Quelle: Süddeutsche)
Das Ende ist da, das nächste Ende schließt sich an – welches wohl?
Von den so genannten Leitmedien, eher Leid-Medien, erwarte ich im jetzigen Zustand nichts. Ich sehe nur deren Nicht-Agieren und ihr tatenloses Zuschauen, das scheinbare Reagieren der Profis in Wort, Bild und Ton, wenn es denn mal gar nicht anders geht. Doch das erste Ende ist schon längst da – in Nahost zum Beispiel ganz konkret und bitter. Ich habe die Worte von NachDenkSeiten-Chefredakteur Jens Berger vor mir und seinen Artikel:
Nach 21 Monaten israelischer Bombardements, Bodenoffensiven und Besatzung hat der Gazastreifen sein Gesicht verändert. Wo noch 2023 dicht besiedelte Wohngebiete, Sportanlagen, Souks, Schulen und kleinere Gewerbegebiete waren, ist heute eine dystopische Trümmerlandschaft. Wo einst Strand, Freiflächen und kleine Parks waren, stehen heute unzählige Reihen von Zelten und provisorischen Verschlägen, die den Flüchtlingen rudimentären Schutz bieten. Mit Googles Dienst Google Earth können Sie sich dank der Zeitleiste, mit der sie Satellitenbilder unterschiedlicher Jahre für den gewählten Bildausschnitt betrachten können, selbst ein Bild von der Zerstörung machen – eine schreckliche Erfahrung, die einen wütend und hilflos zurücklässt. (Quelle: NachDenkSeiten)
Zerstörung. Menschen, Gebäude, Heimat. Das war die Heimat von Menschen. Es könnte die eigene Heimat sein.
Ich schrieb anfangs, dass der DLF-Kommentar zumindest zaghaft endet, dass Schweigen die Idee, dass es so etwas wie universelle Menschenrechte je gegeben hat, zerstört; und dass es richtiger heißen muss: schon lange zerstört hat.
Offensichtlich ist das, was in den nächsten Monaten, Jahren folgen wird, weil die Politik nicht einlenken wird: viele weitere Tote in Gaza und im Nahen Osten, eine komplette Besetzung, die Vertreibung, ja das Verjagen der verbliebenen Palästinenser, eine weitere Fluchtbewegung zum Beispiel Richtung Europa. Tatsachen werden geschaffen. Nachdem in Gaza alles kaputt ist, bekommen die Menschen dort „erstmals“ den Flüchtlingsstatus zuerkannt. Zynismus pur. Herr Macron, ist das ein bisschen von der Idee, dass es so etwas wie universelle Menschenrechte je gegeben hat?
Gaza-Bewohner können in Frankreich aufgrund „israelischer Verfolgung“ Flüchtlingsstatus erhalten, urteilt ein Gericht. Dies ist das erste Mal in Frankreich, dass Staatsangehörigen des Gazastreifens vom Nationalen Asylgerichtshof (CNDA) der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde.
(Quelle: The Jerusalem Post)