Erwerbstätig und obdachlos: Alltag einer unsichtbaren Minderheit

Erwerbstätig und obdachlos: Alltag einer unsichtbaren Minderheit

Erwerbstätig und obdachlos: Alltag einer unsichtbaren Minderheit

Detlef Koch
Ein Artikel von Detlef Koch

Trotz Vollzeitjob abends in der Notunterkunft oder gar auf der Straße schlafen – was nach einem unvorstellbaren Widerspruch klingt, ist in Deutschland längst Realität: Tausende Menschen finden trotz Erwerbsarbeit keine eigene Wohnung. Diese Menschen führen ein Leben im permanenten Ausnahmezustand – sichtbar vielleicht für Sozialarbeiter vor Ort, im politischen Berlin jedoch weitgehend unsichtbar. Von Detlef Koch.

Die gängigen Klischees von Obdachlosigkeit (Faulheit, Sucht, „selbst schuld“) greifen hier nicht: Diese Betroffenen gehen einer Arbeit nach und gehören dennoch zum wachsenden Phänomen der sogenannten „Working Poor ohne Wohnsitz“ (Working Poor = Menschen, die arm sind, obwohl sie arbeiten). Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat sich der Anteil erwerbstätiger Wohnungsloser in Deutschland innerhalb eines Jahrzehnts nahezu verdoppelt. 2009 hatten rund 6 Prozent der Wohnungslosen einen Job, 2019 waren es bereits 11,7 Prozent – also jeder Neunte. In Großstädten und Ballungsräumen sprechen Sozialarbeiter inzwischen von einem festen Personenkreis, der tagsüber in niedrig entlohnten Jobs arbeitet und abends mangels Wohnung in Notquartieren, Wohnheimen oder improvisierten Schlafplätzen unterkommt.

Aktuelle Zahlen unterstreichen die Dramatik noch: Offiziell waren Ende Januar 2024 547.200 Menschen in Deutschland obdach- oder wohnungslos. Darin eingerechnet sind zwar auch Geflüchtete ohne eigene Bleibe – doch selbst abzüglich dieser Gruppe bleibt eine historisch hohe Zahl von Einheimischen ohne Wohnung. Unter ihnen befindet sich eine wachsende „neue Unterschicht“ aus Erwerbstätigen, die trotz regelmäßigen Einkommens durchs Raster des Wohnungsmarkts fallen. Ihr Alltag ist von ständiger Unsicherheit geprägt: Sie pendeln zwischen Arbeitsstelle und Notunterkunft, lagern Habseligkeiten in Spinden oder bei Freunden, kämpfen mit bürokratischen Hürden (ohne feste Meldeadresse) und stehen unter enormen psychischem Druck, Job und Wohnungslosigkeit zugleich zu bewältigen. Viele schämen sich, Hilfe in Anspruch zu nehmen, da sie sich trotz eigener Arbeit als „nicht bedürftig genug“ für klassische Obdachlosenhilfe empfinden. Kurz: Diese Menschen führen ein Leben im permanenten Ausnahmezustand – sichtbar vielleicht für Sozialarbeiter vor Ort, im politischen Berlin jedoch weitgehend unsichtbar.

Wer wird gehört?

Demokratietheoretisch gilt „politische Responsivität“ als Gradmesser dafür, inwieweit Regierende auf die Anliegen und Wünsche aller Bevölkerungsgruppen eingehen. In der idealen Demokratie sollte politische Gleichheit herrschen – das heißt, kein Anliegen einer sozialen Gruppe wird systematisch überhört. Die Realität jedoch weicht von diesem Ideal ab. Studien zeigen, dass in modernen Demokratien vor allem die Anliegen einkommensschwacher und an den Rand gedrängter Gruppen häufig unberücksichtigt bleiben. So fand die Politikwissenschaftlerin Lea Elsässer für Deutschland eine „starke soziale Schieflage in der politischen Repräsentation“: Entscheidungen fielen deutlich zugunsten der oberen Berufsgruppen aus, während die politischen Anliegen der unteren Schichten von keiner Regierungspartei aufgegriffen wurden. Anders formuliert: Wer arm oder ohne Einfluss ist, dessen Stimme verhallt oft im politischen Prozess. Wenn ganze Gruppen – etwa Geringverdienende, prekär Beschäftigte oder gar Erwerbstätige ohne eigene Wohnung – kaum Chancen haben, mit ihren Interessen durchzudringen, wird das demokratische Versprechen der Gleichheit verletzt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie repräsentativ die Politik des Bundestages tatsächlich ist – und wer systematisch außen vor bleibt.

Ungleiches Gehör im Bundestag

Die politische Aufmerksamkeitsskala im Bundestag ist deutlich verschoben. Ein Blick auf die Interessenvertretung verschiedener Gruppen zeigt, wer Gehör findet – und wer nicht. Organisierte Wirtschafts- und Kapitalinteressen genießen dabei ein ungleich größeres Gewicht als die Belange verletzlicher sozialer Gruppen. So traf sich die Bundesregierung der Ampel-Koalition im Jahr 2022 zu 142 persönlichen Gesprächen mit Lobbyist:innen der Immobilienwirtschaft, aber nur 50-mal mit Mieterorganisationen. Unternehmen wie Vonovia oder Branchenverbände hatten nahezu dreimal so häufig Zugang zu Ministerien wie der Deutsche Mieterbund. Während Wirtschaftsminister und Vizekanzler Habeck (Grüne) etwa zehnmal den Vorstand des Wohnungskonzerns Vonovia zum Austausch empfing, fand im gleichen Zeitraum kein einziges Treffen mit dem Mieterbund statt.

Dieses krasse Ungleichgewicht illustriert, wessen Anliegen auf höchster Ebene Priorität genießen – nämlich die der großen Akteure des Wohnungsmarkts. Die Interessen von Mietern, geschweige denn von wohnungslosen Erwerbstätigen, sind dagegen personell und organisatorisch weit weniger präsent. Im Parlament selbst spiegeln Debatten und Vorstöße diese Asymmetrie wider. Anfragen oder Gesetzentwürfe zur spezifischen Situation erwerbstätiger Obdachloser sucht man im Bundestag bislang vergeblich. Zwar wird Wohnungslosigkeit als allgemeines Problem gelegentlich diskutiert – etwa im Rahmen des „Nationalen Aktionsplans Wohnungslosigkeit 2024“. Doch selbst dort bleiben working homeless als eigene Gruppe unerwähnt. Eine öffentliche Anhörung zur Wohnungslosigkeit im Bundestag im Jahr 2023 musste von Betroffenenvertretern gar kritisiert werden, weil wohnungslose Menschen selbst nicht angehört wurden. Die Schwächsten bleiben stumm – und das Parlament bleibt meist stumm über sie.

Diese parlamentarische Blindstelle korrespondiert mit den politischen Kräfteverhältnissen. Einflussreiche Verbände der Bau- und Immobilienbranche, genauso wie Eigentümer- und Vermieter-Lobbys, üben erheblichen Druck auf die Gesetzgebung aus – sei es bei Mietrechtsreformen, bei steuerlichen Rahmenbedingungen oder Förderprogrammen. Forderungen nach strengerem Mieterschutz oder einer sozialen Wohnraumoffensive stoßen dabei oft auf gebremstes Interesse, wenn sie mächtigen Interessen zuwiderlaufen. Im Ergebnis setzt sich eine selektive Responsivität fort: Durchsetzungsstark sind Anliegen, die von wirtschaftlich potenten Akteuren vorgebracht werden (etwa Steuererleichterungen für Investoren oder Abbau von Bauvorschriften). Schweres politisches Gehör finden hingegen jene Probleme, für die es keine einflussreiche Lobby gibt – wie eben das Schicksal von Menschen, die trotz Arbeit ohne Wohnung dastehen.

Die Politik der Regierung Merz – Prioritäten und Folgen

Unter der Regierung Friedrich Merz haben sich diese Schieflagen deutlich verschärft. Die neue schwarz-rote Koalition (CDU/CSU und SPD) verfolgt in der Sozial- und Wohnungspolitik einen Kurs, der primär auf wirtschaftliche Anreize und Haushaltsdisziplin setzt – und weniger auf den Schutz der finanziell Schwächsten. Konkrete Beispiele verdeutlichen dies: Gleich zu Beginn kündigte Kanzler Merz an, das im Jahr 2023 eingeführte Bürgergeld grundlegend zu überarbeiten. Tatsächlich wird nun das Bürgergeld zur neuen „Grundsicherung“ mit härteren Regeln umgebaut – inklusive strengerer Auflagen für Erwerbslose und Sanktionen bis hin zum vollständigen Leistungsentzug bei mehrfacher Stellenablehnung.

Diese Verschärfung der Sozialhilfe – von Merz’ Generalsekretär Carsten Linnemann als „wichtigste Sozialreform seit Agenda 2010“ gepriesen – sendet ein klares Signal: Der Fokus liegt darauf, Leistungsbeziehende schneller in Arbeit zu drängen, notfalls mit Druck. Für jene jedoch, die trotz Arbeit arm sind, bedeutet dieser Kurs keinerlei Verbesserung – im Gegenteil. Wer etwa aufgrund prekärer Jobs auf ergänzende Leistungen angewiesen ist oder bei Jobverlust auf das Bürgergeld zurückfällt, sieht sich künftig strengeren Bedingungen ausgesetzt. Strukturelle Armutsprävention (z. B. durch höhere Mindestlöhne oder Ausbau von Hilfen) steht erkennbar nicht im Vordergrund.

Auch in der Wohnungs- und Steuerpolitik setzt die Merz-Regierung Akzente, die vor allem Vermögenden und Investoren zugutekommen. Im Wahlprogramm der Union lag der Schwerpunkt beim Thema Wohnen darauf, durch Neubau-Offensiven, Deregulierung und Steuersenkungen das Angebot zu erhöhen. So sollen vereinfachte Bauvorschriften, beschleunigte Genehmigungsverfahren und steuerliche Entlastungen für private Wohnungsbauinvestoren den Wohnungsmarkt beleben. Gegen mehr Angebot ist zwar grundsätzlich nichts einzuwenden – doch handelt es sich vorwiegend um Angebote des freien Marktes, nicht um gezielte Hilfe für Geringverdiener.

Tatsächlich fehlen im Programm von CDU/CSU jegliche konkreten Maßnahmen zum Mieterschutz. Die Union stellt lediglich allgemein fest, man stehe „für einen wirksamen und angemessenen Mieterschutz – dazu gehören auch Regeln zur Miethöhe“. Auf gut Deutsch: Man will Vermieterinteressen nicht allzu sehr beschneiden. Folgerichtig wurde die Mietpreisbremse – ohnehin ein eher mildes Instrument – von der neuen Koalition nicht verlängert, sondern stillschweigend auslaufen gelassen (ein Kurs, den bereits die FDP in der Vorgängerregierung propagiert hatte). Mietendeckel oder umfassende Mietstopps – wie von sozialen Verbänden gefordert – sind mit Merz’ CDU/CSU völlig vom Tisch.

Im sozialen Wohnungsbau zeichnen sich ähnliche Prioritäten ab. Die Ampel-Regierung hatte vollmundig 100.000 neue Sozialwohnungen jährlich versprochen, dieses Ziel aber krachend verfehlt (2022 wurden z.B. nur rund 22.500 Sozialwohnungen neu gebaut, während zugleich 36.500 aus der Bindung fielen). Nun setzt die Merz-Regierung zwar verbal auf eine „solide Förderung“ des sozialen Wohnungsbaus, bleibt aber vage. Konkrete zusätzliche Milliarden für kommunalen und gemeinnützigen Wohnungsbau – wie sie Fachleute fordern – sind im Koalitionsvertrag nicht festgeschrieben. Stattdessen konzentriert man sich darauf, Privatinvestitionen durch Steueranreize zu stimulieren.

Entsprechend begrüßt die Immobilienwirtschaft die geplanten Sonderabschreibungen und steuerlichen Vergünstigungen, die Renditeanreize erhöhen sollen. Leistbare Wohnungen für niedrige Einkommen entstehen dadurch jedoch nicht automatisch. Im Gegenteil: Ohne staatliche Vorgaben fließt Kapital bevorzugt in lukrative Neubauprojekte im höheren Preissegment, während günstiger Wohnraum in Ballungszentren knapp bleibt. Kurzum: Die Regierung Merz verstärkt marktorientierte Rezepte und zieht sich an mancher Stelle aus der sozialen Verantwortung zurück – mit der Konsequenz, dass strukturelle Ungleichheiten eher zunehmen.

Hinzu kommt ein merklicher Klimawandel im politischen Diskurs: Sozialstaatliche Instrumente und Hilfen stehen unter Rechtfertigungsdruck, während Eigentum und Investition als schützenswerte Güter betont werden. Steuerpläne der Koalition – wie die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags für Spitzenverdiener oder großzügige Freibeträge bei Erbschaft- und Vermögenssteuern – begünstigen eindeutig Wohlhabende. Die Finanzierungsspielräume für Sozialausgaben und Wohnprogramme werden damit tendenziell enger. Insgesamt entsteht so das Bild einer Politik, die überwiegend jene fördert, die bereits haben, während neu entstandene Notlagen – wie die der obdachlosen Erwerbstätigen – keinen vergleichbaren Stellenwert genießen.

SPD: Anspruch und Wirklichkeit eines sozialen Gewissens

Besonders kritisch fällt in diesem Zusammenhang der Blick auf die SPD aus. Als traditionelle Arbeiterpartei und selbsternanntes soziales Gewissen der Koalition müsste die SPD eigentlich Anwältin der Working Poor und Wohnungslosen sein. Die Realität jedoch offenbart ein eklatantes Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zwar betonen SPD-Politiker immer wieder ihre historische Verantwortung, „niemanden zurückzulassen“. Im aktuellen Regierungsbündnis blieben die Sozialdemokraten jedoch erstaunlich zahm, wenn es um die Verteidigung sozialer Schutzmechanismen ging.

Beispiel Mieterschutz: Hier rühmte sich die SPD, noch in der Ampel gemeinsam mit den Grünen eine große Mietrechtsreform geplant zu haben – inklusive Verschärfung der Mietpreisbremse und Kappungsgrenzen. Umgesetzt wurde dies bis 2025 nicht. Die SPD gibt der Blockadehaltung des kleineren Koalitionspartners FDP eine Mitschuld: „In der Vergangenheit ist besserer Mieterschutz aufgrund der Blockadehaltung insbesondere der FDP leider nicht gelungen“, beklagte etwa Brian Nickholz, der SPD-Beauftragte für Wohnungslosenhilfe. Dennoch bleibt festzuhalten: Als Seniorpartner der letzten Regierung hätte die SPD stärker Druck machen können, anstatt die Reform scheitern zu lassen.

Beispiel „Housing First“

Dieses fortschrittliche Konzept der Wohnungslosenhilfe – obdachlosen Menschen sofort Wohnraum zur Verfügung zu stellen, ohne Vorbedingungen – wird von Experten seit Jahren empfohlen. Im Koalitionsvertrag 2021 hatte die SPD das Ziel verankert, Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden, und „Housing First“ flächendeckend zu etablieren. Doch konkrete Schritte blieben zaghaft. Bis Anfang 2025 existierten nur einige Modellprojekte in wenigen Städten; ein Bund-Länder-Fonds, der Housing-First-Programme massiv finanziert, wurde nicht aufgelegt. Die SPD beklagt zwar öffentlich den Mangel an Finanzierung und schiebt erneut anderen die Schuld zu – doch dieses Zaudern kostet Zeit, die viele Betroffene nicht haben.

Auch im sozialen Wohnungsbau zeigte die SPD ein Paradox: Einerseits warb sie im Wahlkampf 2021 mit ehrgeizigen Zahlen (400.000 neue Wohnungen pro Jahr, davon 100.000 Sozialwohnungen). Andererseits sank in ihrer Regierungszeit die Zahl der Sozialwohnungen auf einen historischen Tiefstand von gut 1,07 Millionen Ende 2023 – trotz Wohnungsnot wurden also unter dem Strich weiter Wohnungen aus der Bindung verloren. Der „Deutschlandfonds“ für gemeinnützigen Wohnungsbau, den die SPD nun in ihrem Programm vorsieht, kommt reichlich spät und mit ungewisser Finanzausstattung.

Die Ursachen dieses Versagens liegen tiefer. Die SPD hat sich – wie Elsässer konstatiert – in den letzten Jahrzehnten verstärkt an der Mittelklasse orientiert. Ihre „alte Kernwählerschaft“ – Industriearbeiter, Geringqualifizierte, heute auch prekär Beschäftigte – wird programmatisch zwar beschworen, aber praktisch kaum noch priorisiert.

Das Ergebnis: Weder in der Großen Koalition noch zuvor in der Ampel konnte oder wollte die SPD die Anliegen der unteren sozialen Schichten systematisch mobilisieren. Im Gegenteil trug sie in der Vergangenheit selbst Reformen mit, die die soziale Absicherung schwächten (Stichwort Agenda 2010). Dies hat das Vertrauen vieler Betroffener in die Sozialdemokratie untergraben – und erklärt mit, warum neue soziale Probleme wie das Phänomen der „arbeitenden Wohnungslosen“ politisch unterbelichtet bleiben. Wenn die SPD als eigentlich prädestinierte Interessenvertreterin dieser Gruppe ausfällt, klafft eine Repräsentationslücke, die bisher keine andere Kraft füllt. Zwar versucht die Linkspartei, das Thema Obdachlosigkeit aufzugreifen, fordert etwa einen Mietendeckel und ein Verbot von Zwangsräumungen. Doch ihr politischer Einfluss ist begrenzt. Somit bleibt die Interessenvertretung der Working Poor diffus – und gerade das ermöglicht erst ihre chronische Übergehung im parlamentarischen Raum.

Eine Grundsatzfrage an die demokratische Architektur

Der beschriebene Missstand wirft letztlich eine beunruhigende Grundsatzfrage auf: Was sagt es über die politische Architektur der Bundesrepublik aus, wenn selbst erwerbstätige Menschen – diejenigen also, die Leistungsbereitschaft zeigen und „alles richtig machen“ – kein Dach über dem Kopf haben und dennoch im parlamentarischen Diskurs nicht vorkommen? Die Antwort fällt ernüchternd aus. Es offenbart sich ein Strukturproblem unserer Demokratie, eine Verzerrung zugunsten der Privilegierten. Selektive Responsivität – das Muster, wonach Politik stärker auf die Wohlhabenden hört – ist nicht nur eine theoretische Figur, sondern hier konkret spürbar. Die Schicksale der „arbeitenden Obdachlosen“ sind zum Prüfstein geworden, an dem sich zeigt, wie weit sozioökonomische Ungleichheit bereits in politische Ungleichheit umgeschlagen ist.

Die Nüchternheit, mit der dieser Befund formuliert werden muss, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Kern des demokratischen Versprechens berührt. Eine Demokratie, die es hinnimmt, dass Menschen mit Vollzeitjob in Notunterkünften schlafen, während Kapitalanleger mit steuerlichen Vergünstigungen hofiert werden, muss sich fragen lassen, wessen Interessen sie priorisiert. Wenn das Parlament die einen – etwa große Immobilienkonzerne – mit rotem Teppich empfängt, die anderen aber – wie die neuen städtischen Armen – über Jahre ignoriert, gerät der Leitsatz „Dem Deutschen Volke“ über dem Reichstagsportal zum Spottvers auf einen wichtigen Teil des Volkes.

Die Antwort kann keine moralische Empörung allein sein, sondern eine Rückbesinnung auf die Gleichheitsgrundsätze der Demokratie. Es geht nicht um Almosen oder symbolische Debatten, sondern um vertretende Politik im Wortsinn: darum, dass auch jene ohne Lobby eine Stimme erhalten. Der Befund mag kühl formuliert werden – doch er zwingt zu einer wärmeren Politik, die den Menschen wieder über den Markt stellt. Denn letztlich wird der Zustand einer Demokratie daran gemessen, wie sie mit ihren verwundbarsten Mitgliedern umgeht.

Dass in einer der reichsten Volkswirtschaften der Welt Menschen trotz Arbeit im Freien übernachten müssen und politisch kaum Erwähnung finden, ist ein Alarmsignal. Es signalisiert, dass politische Responsivität kein abstraktes Ideal ist, sondern eine täglich neu zu verteidigende Errungenschaft – und dass diese Errungenschaft in Gefahr ist, wenn wir die leisen Stimmen am Rande überhören. Jeder Paragraf, jede Entscheidung im Bundestag sollte sich daran messen lassen, ob sie der Realität auf der Straße gerecht wird. Im Fall der obdachlosen Erwerbstätigen besteht hier dringender Nachholbedarf – für alle demokratischen Parteien, insbesondere aber für jene, die das Soziale im Namen tragen.

Titelbild: Dikushin Dmitry / Shutterstock