Wie Deutsche der Welt und den Juden erklären, was Antisemitismus ist, oder: Warum Hannah Arendt den nach ihr benannten Preis heute nie bekommen würde. Im November 2018 veröffentlicht der Blog Ruhrbarone ein Schwarz-Weiß-Foto, es ist eine Totale von einem düsteren Ort unter dräuenden Wolken. Ausgeweidete Erde bis zum Horizont. Grabesdunkel, menschenleer. Über dieses Bild läuft in Großbuchstaben ein Befehl: „TRANSFORM GAZA TO GARZWEILER“. Das sei für ihn, so kommentiert Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, eine „explizite Vernichtungsfantasie“. Jetzt, sieben Jahre später, wo Gaza tatsächlich zur apokalyptischen Ruinenlandschaft geworden ist, sieht es aus, als wäre die notdürftig als Satire verkleidete Aufforderung zum Völkermord in die Tat umgesetzt worden. Von Rupert Koppold.
Der Blog Ruhrbarone wird dem antideutschen Spektrum zugerechnet, das sich selbst als links versteht, jedoch bedingungslose Solidarität mit Israel verlangt und, weil US-Regierungen Israel bedingungslos verteidigen, auch gegen sogenannten Anti-Amerikanismus ins Feld zieht. Kurz gesagt: Israel und die USA sind mit allem, was sie tun, immer im Recht. Aber muss man sich wirklich auseinandersetzen mit diesem extrem aggressiven und extrem einseitigen Blog? Ist das nicht bloß ein giftig-trübes Rinnsal am Rand des Mainstream und deshalb nicht weiter beachtenswert?
Das Problem: Dieser Blog wird beachtet. Und er erhält von entscheidenden Stellen die Macht zum Canceln. So brüsten sich die Ruhrbarone etwa damit, dass die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo Ende 2023 auf Blog-Intervention hin – sie hat bei „Artists for Palestine“ unterschrieben –, auf den Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum verzichtet. Otoo kommt damit der Bedenken äußernden Jury zuvor. Kurz darauf, im Januar 2024, wird auch die Performance-Künstlerin Laurie Anderson wegen ihrer Unterschrift für einen „Letter Against Apartheid“ dazu gedrängt, auf die ihr angetragene Pina Bausch Professur der Essener Folkwang Universität zu verzichten.
Erst einen Preis verleihen, dann an den Pranger stellen
Schon 2022, also noch vor den Massakern der Hamas und der israelischen Streitkräfte, denunzieren die Blogwarte erfolgreich die Autorin Caryl Churchill. Das Schauspiel Stuttgart hatte der Britin zunächst den „Europäischen Dramatiker:innenpreis“ verliehen, diese Ehrung aber „wegen Antisemitismus-Vorwürfen“ wieder zurückgenommen. Es ging um das Stück „Seven Jewish Children – A Play for Gaza“, das Churchill im Jahr 2009 als Reaktion auf israelische Militärschläge geschrieben hatte. Die Premiere am Londoner Royal Court Theatre wurde vom jüdischen Regisseur Dominic Cooke inszeniert, fast alle Schauspieler sind ebenfalls Juden, Antisemitismusvorwürfe gegen das Stück wurden etwa vom jüdischen Dramatiker Tony Kushner („Angels in America“) vehement zurückgewiesen.
Für die Stuttgarter Zeitung (5. November 2022) aber steht der Antisemitismus des Stücks fest, sie gibt sich empört, dass dieser nicht sofort erkannt wurde. Eine Redakteurin geht die an der Jury-Entscheidung beteiligte BW-Kunstministerin Petra Olschowski schon mit ihrer ersten Interview-Frage an: „Frau Olschowski, Thomas Wessel vom Internetblog Ruhrbarone sagt, nach drei Minuten Internetsuche könne man finden, wie sich Caryl Churchill zu Israel positioniert. Warum hat die Jury nicht auch gegoogelt?“ Die Ministerin antwortet defensiv, man sei tatsächlich von den Ruhrbaronen informiert worden, habe danach aber sofort reagiert. So also geht Kulturpolitik? So macht man aus einem kleinen Denunzianten-Blog eine große und richtungweisende Instanz!
Aber es sind natürlich nicht nur die Ruhrbarone, die den Antisemitismus-Begriff auf ihre Art auslegen. Es sind auch offizielle Antisemitismus-Beauftragte wie der für den Bund zuständige Felix Klein, der den verstärkten Einsatz des Verfassungsschutzes an deutschen Universitäten fordert (NZZ, 1. April 2025), oder der für Baden-Württemberg tätige und auch beim Fall Churchill beteiligte Michael Blume, die immer wieder „Fälle“ zum Canceln melden. In der Stuttgarter Zeitung (4. Januar 2024) sagt Blume, er „habe der Stadt Stuttgart in Gesprächen geraten, Israel- und generell demokratiefeindliche Verbände konsequent von der städtischen Homepage zu nehmen.“ Was sein eigenes Demokratieverständnis angeht: In seinen X-Kommentaren outet Blume sich nicht nur als Anhänger „großer Liberaler“ wie Friedrich August von Hayek, Idol der Neoliberalen, sondern auch von Ayn Rand, jener US-Autorin, die in ihren Werken eine Diktatur der Eliten fordert. Die bayerische Grünen-Chefin Katharina Schulze fordert übrigens eine bequemere Art des Denunzierens: „Wir brauchen weitere konkrete Maßnahmen, zum Beispiel eine virtuelle Polizeiwache, so dass jede Bürgerin, jeder Bürger, Hass, Hetze, Beleidigungen, Bedrohungen, Antisemitismus bequem und einfach von zu Hause aus, vom Sofa aus anzeigen kann.“
Auch Volker Beck meldet und meldet und meldet
Ein fleißiger Melder ist auch Volker Beck (Grüne), der laut Stuttgarter Zeitung (2. November 2022) den Parteifreund und BW-Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Sachen Caryl Churchill aufforderte, „die Schirmherrschaft für den ,Europäischen Dramatiker:innen Preis‘ zurückzugeben.“ Beck war Schwulenreferent der grünen Bundestagsfraktion und war oder ist religionspolitischer, migrationspolitischer, menschenrechtspolitischer und rechtspolitischer Sprecher seiner Partei. Er ist außerdem Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), und als solcher kritisiert er jetzt die Entscheidung der deutschen Regierung, nicht mehr für den Gaza-Krieg verwendbare Waffen an Israel zu liefern. Beck befürchtet auch, so zitiert ihn die Jüdische Allgemeine, israelische Gegenmaßnahmen: „Vor deutscher Hochnäsigkeit sei gewarnt. Wenn sich Israel bei Rüstungslieferungen nach Deutschland revanchieren sollte, sieht es um die Zukunft deutscher Luftsicherheit schlecht bestellt aus.“
Auf der Plattform X, auf der Beck mit Israel-Flagge, Ukraine-Flagge, Fisch und gelber Schleife firmiert, schreibt er am 9. August 2025: „Wer heute Israels Verteidigung schwächt, stärkt jene, die antisemitische Ressentiments längst pflegen – und gibt ihnen die Bühne, sie offen auszuleben. Ein solches Embargo ist kein Beitrag zum Frieden. Es ist ein Verrat an unseren eigenen Grundwerten.“ Weitere X-Äußerungen von Volker Beck: „Beten wir für #Israel.“, schreibt er am 1. Oktober 2024. „Die Welt muss sich gegen die grundlosen Angriffe auf ein Mitglied der Vereinten Nationen stellen. Israel darf in diesen Stunden nicht allein gelassen werden. Auch militärisch nicht.“ Und am 6. Oktober 2024 erkennt er: „Amnesty ist ein terrorverherrlichendes Hamas-Outlet geworden.“ Was Amnesty International verbrochen hat? Die Organisation spricht von Apartheid und Völkermord.
„Unsere vernichtenden Ergebnisse müssen ein Weckruf für die internationale Gemeinschaft sein: Dies ist Völkermord“, so sagt laut ZDF (5. Dezember 2024) die Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard tatsächlich. Und sie fordert: „Es muss jetzt aufhören.“ Anfang August 2025 schließt sich diesem Verdikt auch der israelische Schriftsteller David Grossman („Eine Frau flieht vor einer Nachricht“) an. Der mit dem Booker- und dem Heine-Preis sowie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Autor sagt, er tue dies „schweren Herzens“, es ließe sich aber nicht mehr vermeiden. Wenn so etwas passiert, dann gilt für manche wahrscheinlich der denkwürdige Satz, den der Zeit-Journalist Jens Jessen am 20. Dezember 2023 in die Welt entlassen hat: „Bestimmte Formen der Israelkritik müssen ein jüdisches Privileg bleiben. Deutsche sollen sie nur respektieren, nicht bejubeln.“
Deborah Feldman: „Jetzt sind vor allem die Juden Antisemiten“
Viele deutsche Politiker, Journalisten und Kulturschaffende aber respektieren auch jüdische Kritik an der israelischen Regierung nicht. Sie wollen sogar für Juden verbindlich festlegen, was Antisemitismus ist. Zum Beispiel nicht nur jede Sympathie für, sondern auch jede Diskussion über BDS. (Israel übt übrigens an der Seite der USA selbst staatlichen Boykott aus – gegen Kuba.) Die in Berlin lebende jüdische Autorin Deborah Feldman („Unorthodox“) konstatiert am 10. März 2024 laut Zeit, was auch andere Kritiker der israelischen Regierung – jüdische und nichtjüdische – konstatieren: „In Deutschland werde der Antisemitismus-Vorwurf gezielt eingesetzt, um Kritik an der israelischen Regierung zu ersticken.“ Seit dem Terrorangriff der Hamas habe sich das verschlimmert, inzwischen habe sie, Feldman, den Eindruck, es sei „fast eine Massenhysterie geworden. Jetzt ist alles Antisemitismus, jetzt sind vor allem die Juden Antisemiten.“
Ist das nicht falsch oder zumindest übertrieben? Nun, der jüdische Regisseur Brian Glazer wurde bei der Oscar-Verleihung 2024 für seinen Auschwitz-Film „The Zone of Interest“ zunächst geehrt und dann – vor allem von deutschsprachigen Medien – kritisiert. Er hatte in seiner Dankesrede erklärt, so die Zeit am 15. März 2024, „dass die Männer auf der Bühne sich dagegen verwehrten, wie ihre jüdische Identität und der Holocaust gekapert worden seien, um eine Besatzung zu rechtfertigen, die zahlreiche unschuldige Menschen zu Opfern eines Konflikts mache – am 7. Oktober des vergangenen Jahres in Israel sowie heute während der israelischen Angriffe im Gazastreifen.“ Für die Welt betrieb Glazer damit „Schuldumkehr“, für die NZZ machte er sich der „Hetze gegen Israel“ schuldig.
Nein, das ist eben kein Einzelfall. Israelkritische Juden werden in deutschen Medien oft ignoriert, so wie etwa 2023, als es zu jüdischen Massenprotesten an der New Yorker Freiheitsstatue (Guardian, 6. November 2023) oder der zeitweise lahmgelegten Union Station kam (The Times of Israel, 28. Oktober 2023), bei denen ein Waffenstillstand für Gaza gefordert wurde. „Wir müssen lauter schreien“, so die am Protest beteiligte Künstlerin Nan Goldin, „egal, wer auch immer versucht, uns zum Schweigen zu bringen.“ Zum Schweigen gebracht werden solche Stimmen bei uns jedoch immer wieder – und wenn das Ignorieren nicht hilft, dann durch aktives Canceln.
Das deutsche Canceln israelkritischer Juden
„Die Gedenkstätte Buchenwald lädt Omri Boehm als Redner aus – Israels Botschaft greift ihn an“, so titelt am 2. April 2025 die Berliner Zeitung und schreibt weiter: „Der deutsch-israelische Philosoph sollte zum 80. Jahrestag der Befreiung über Menschenrechte sprechen. Die israelische Botschaft äußert heftige Vorwürfe gegen ihn.“ Die Gedenkstätte bedauert natürlich, knickt aber sofort ein und lädt aus. Ganz reibungslos läuft die Veranstaltung trotzdem nicht. Als eine junge Rednerin bei der Buchenwald-Gedenkfeier von einem Genozid in Gaza spricht, passiert laut Welt vom 7. April 2025 dies: „Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens Christian Wagner, griff direkt ein: Es müsse um die unschuldig Getöteten dort getrauert werden können – aber von einem ,Genozid‘ zu sprechen, gerade an einem Ort wie Buchenwald gehöre sich nicht.“
Gleich mehrfach gecancelt wird die jüdisch-südafrikanische Künstlerin Candice Breitz. Ende 2022 geht es um ein internationales Symposium zur Erinnerungskultur, kuratiert von ihr und dem jüdischen Holocaustforscher Michael Rothberg. Ausrichten wollte dies zunächst die Berliner Akademie der Künste, nach deren Absage sprang die Bundeszentrale für politische Bildung ein, die das Symposion nach dem 7. Oktober 2023 aber ebenfalls absagte. „We still need to talk“, so lautete der Titel, es sollte um „die Rolle der Kunst und der künstlerischen Freiheit angesichts wachsenden Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie“ gehen.
Ende 2023 sagt dann das Saarlandmuseum Saarbrücken eine Breitz-Ausstellung ab: „Der Vorstand trifft diese Entscheidung nach reiflicher Überlegung in Anbetracht der medialen Berichterstattung über die Künstlerin im Zusammenhang mit ihren kontroversen Äußerungen im Kontext des Angriffskrieges der Hamas auf den Staat Israel. Die SSK möchte durch die Absage der Ausstellung deutlich zum Ausdruck bringen, dass sie vor diesem Hintergrund nicht bereit ist, Künstler*innen ein Podium zu bieten, die sich nicht klar gegen den Terror der Hamas positionieren.“
Die Instrumentalisierung des Holocaust
Der jüdische Architekt Eyal Weizman, der aus einer Familie von Holocaust-Überlebenden stammt, hält die Saarbrücker Begründung für irrsinnig („mind-boggling“), er fragt in bitterem Ton: „Wenn also eine jüdische Künstlerin den Hamas-Angriff nicht auf die gleiche Stufe stellt wie den Holocaust, dann kann sie ihre Werke in Deutschland nicht zeigen?“ Weizman ist Chef der Gruppe „Forensic Architecture“, die Fälle von staatlicher Gewalt und Menschenrechtsverletzungen untersucht. Er ist auch Fellow der Bosch-Stiftung und gehört laut dieser dem technologischen Beirat des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag an. Weizman hat sich in seinem Aufsatz „Abschotten und einhegen – der Masterplan und die Wirklichkeit“ auch mit Gaza beschäftigt.
Die jüdische Philosophieprofessorin Susan Neiman, Direktorin des Potsdamer Einstein Forums, schreibt am 14. Dezember 2023 im Freitag: „Die Unfähigkeit, die Instrumentalisierung des Holocausts durch die politische Rechte zu durchschauen, belastet auch die Erinnerungskultur von Menschen, die aus vollem Herzen die Solidarität mit Israel aufrechterhalten wollen. Viele schienen auch nicht zu merken, dass diese Instrumentalisierung von rechten israelischen Regierungen gefordert wird, um jede Kritik ihrer Politik zu delegitimieren … Während wir in Berlin über die deutsche Erinnerungskultur streiten, sterben zahllose Kinder in Gaza … “ Doch es wird weiter gecancelt. Im April 2024 widerruft die Universität Köln die Albertus-Magnus-Gastprofessur, die für die jüdische Philosophin Nancy Fraser vorgesehen war. Sie hatte am 1. November 2023 den Offenen Brief „Philosophy for Palestine“ unterzeichnet. Fraser reiht ihren Fall in das ein, was ihre Kollegin Susan Neiman als „philosemitischen McCarthyismus“ bezeichnet.
Neiman hat sich auch gegen die deutsche Anti-BDS-Kampagne und deren Verschärfung geäußert. Der Tagesspiegel schreibt am 29. November 2023: „Neiman verweist darauf, dass eine verstärkte Resolution Antisemitismus keinesfalls verhindern würde, sondern vielmehr einen Backlash auslösen würde. Die Folgen wären für das Kulturleben in Deutschland verheerend. Schon jetzt würden deutsche Stiftungen von geförderten Kulturinitiativen aus dem Ausland gebeten, dass man ihren Namen von der Website nähme, da sie Probleme fürchteten. Neiman betont außerdem, dass sowohl der Wissenschaftsdienst des Deutschen Bundestages als auch diverse Gerichte bereits die erste BDS-Resolution für nicht verfassungskonform erklärt hätten.“
„Was stimmt mit dieser Kulturbranche nicht?“
Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle spricht in einem Interview mit dem Guardian (16. Dezember 2024) davon, dass Filmemacher, deren Namen sie lieber nicht nennen wolle, Angst vor den Vorgaben des derzeitigen deutschen Kulturbetriebs hätten. „Die Menschen sind besorgt: Heißt das, dass ich nicht sprechen darf? Heißt das, dass ich keine Empathie oder Sympathie für die Opfer in Gaza ausdrücken darf? Heißt das, wenn ich dies sage, dann muss ich gleichzeitig auch dies sagen?“ Im Vorjahr hatte die Berlinale den Film „No other Land“, in dem unter anderem zu sehen ist, wie ein Siedler im Westjordanland aus nächster Nähe einen unbewaffneten Palästinenser niederschießt, mit dem Dokumentarfilm-Preis ausgezeichnet.
Als der palästinensische „No-other-Land“-Regisseur Basel Adra bei der Dankesrede Deutschland aufforderte, die Waffenlieferungen nach Israel einzustellen, sein israelischer Co-Regisseur Yuval Abraham das Wort Apartheid in den Mund nahm und diese Reden von einem internationalen Publikum beklatscht wurden, machten deutsche Politiker und Medien daraus einen Skandal. Der unvermeidliche Volker Beck erklärte, das sei „ein kultureller, intellektueller und ethischer Tiefpunkt“ der Berlinale gewesen, für die SZ war es „bizarres Israel-Bashing“, für den Stern (25. Februar 2024) „Israel-Hass auf offener Bühne“. Der Stern stellt dann die richtige, wenn auch anders gemeinte Frage: „Was stimmt mit dieser Kulturbranche nicht?“ Die grüne Kulturministerin Claudia Roth verkündete übrigens, nachdem sie beim Preisverleihungsklatschen „erwischt“ wurde, sie habe nur für den israelischen Regisseur geklatscht, nicht für den palästinensischen.
Im zum Polit-Propaganda-Forum verkommenen 3Sat-Magazin „Kulturzeit“ – das zum Beispiel am 8. Dezember 2023 Candice Breitz wegen ihrer Israel-Kritik ausgeladen hat – wurde Mariette Rissenbeek, damalige Co-Leiterin der Berlinale, von Cécile Schortmann zum „Skandal“, nein, nicht interviewt, man muss schon sagen: verhört. Der Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) spricht auf X (25. Februar 2024) von „Antisemitismus“ und droht: „Ich erwarte von der neuen Leitung der Berlinale, sicherzustellen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen.“ Diese neue Leitung, nämlich Tricia Tuttle, verteidigte „No other Land“ jedoch, als der Film Ende 2024 in die Kinos kam: „Ein Diskurs, der suggeriert, dieser Film oder seine Macher seien antisemitisch, ist für alle von ihnen gefährlich, innerhalb und außerhalb von Deutschland.“ Yuval Abraham erhielt Morddrohungen, Hamdan Ball, einer der vier Regisseure, wurde von Siedlern geschlagen und vom Militär inhaftiert, der ebenfalls am Film beteiligte Odeh Hadin, so melden es am 29. Juli 2025 der Rolling Stone und andere, in der Westbank von Siedlern getötet.
Für Masha Gessen ist Gaza ein Ghetto
Was Gaza betrifft, schreibt die jüdisch-amerikanische Autorin Masha Gessen im New Yorker: „Seit 17 Jahren ist Gaza ein übermäßig besiedeltes, verarmtes, eingemauertes Lager, das auch nur für kurze Zeit zu verlassen nur ein kleiner Teil der Bevölkerung das Recht hat – in anderen Worten, ein Ghetto“. Gessen präzisiert: Gaza sei „nicht wie ein jüdisches Ghetto in Venedig oder wie ein innerhalb einer Stadt gelegenes Ghetto in Amerika, sondern wie ein jüdisches Getto in einem von Nazi-Deutschland besetzten osteuropäischen Land“. Diese Aussagen prangert die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) in einem Offenen Brief an, sodass sich die Heinrich-Böll-Stiftung und der Bremer Senat Ende 2023 nicht mehr an der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen beteiligten. Gessen erklärt zu den Vorwürfen: „Kritik an Israel als antisemitisch zu bezeichnen, trivialisiert Antisemitismus und gefährdet Juden.“ Die FAZ kommentiert höhnisch: „Wie schön sie doch das Zensurtheater inszenieren“.
Die DIG vermutet bei Masha Gessen ein „tiefsitzendes und grundsätzliches negatives Vorurteil gegenüber dem jüdischen Staat“, ihre Äußerungen stünden auch „in deutlichem Gegensatz zum Denken Hannah Arendts.“ Die Britin Samantha Hill allerdings, die eine Arendt-Biografie geschrieben und deren Gedichte übersetzt und herausgegeben hat, sieht das anders. Die Überschrift ihres Textes (Guardian, 18. Dezember 2023), der als Reaktion auf den Fall Gessen geschrieben wurde, lautet: „Hannah Arendt would not qualify for the Hannah Arendt prize in Germany today“. Hill begründet das so: „Sie würde heute in Deutschland gecancelt werden wegen ihrer politischen Position in Bezug auf Israel und ihren Ansichten zum zeitgenössischen Zionismus, gegenüber dem sie von 1942 bis zu ihrem Tod 1975 kritisch blieb.“ Hill zitiert aus einem Brief, den Arendt 1955 in Jerusalem an ihren Mann Heinrich Blücher schrieb: „… sie behandeln die Araber, jene, die noch hier sind, auf eine Weise, dass schon dies Grund genug wäre, die ganze Welt gegen Israel aufzubringen“. Die jüdisch-kanadische Journalistin Naomi Klein, von der taz und anderen auch schon als „antisemitisch“ bezeichnet, sagt einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (5. Januar 2024): „Für Hannah Arendt war es in den 1950er-Jahren normal zu sagen, dass israelische Politiker sich wie Faschisten verhalten. Wenn Masha Gessen 2023 etwas Ähnliches sagt, heben Leute den Zeigefinger und sagen: ‚Wie können Sie es wagen?‘“
Arendt und Einstein protestierten gegen den Terroristen Begin
Schon im Dezember 1948 hat Hannah Arendt zusammen mit Albert Einstein und anderen einen Leserbrief an die New York Times geschrieben, der scharf gegen den Besuch des späteren israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin protestiert. Begin, vorher Mitglied der terroristischen Untergrundorganisation Irgun, war damals Führer der neuen „Cherut“-Partei. Er gründete dann 1973 die Likud-Partei, der auch Benjamin Netanjahu angehört. Und Begin war mitverantwortlich für das Massaker von Deir Yasin im April 1948, einem palästinensischen Dorf, dessen Bewohner sich aus dem Palästinakrieg heraushalten wollten, von der Irgun jedoch gnadenlos niedergemetzelt wurden. „Die Terroristen, weit entfernt davon, sich ihrer Taten zu schämen, waren stolz auf das Massaker“, schreiben Arendt, Einstein und Co. in ihrem Brief und fahren fort: Sie „machten es weithin bekannt und luden sämtliche Auslandskorrespondenten im Land ein, die Leichenberge und die allgemeine Zerstörung in Deir Yasin in Augenschein zu nehmen“. Begins Partei, so zieht der Brief ein Fazit, trage den Stempel einer „Faschistischen Partei“, ihr Ziel sei ein „Führerstaat“. Begin hat das Massaker immer für notwendig erklärt.
Mut sei die politische Tugend par excellence, habe Hannah Arendt geschrieben, so Samantha Hill, „weil er verlangt, seinen Ruf und sein Leben zu riskieren, um eine politische Meinung zu äußern“. Vermutlich fühlen sich nicht alle deutschen Politiker, Journalisten und Künstler im engen offiziellen Meinungskorridor wohl, aber sie haben Angst, dies zu äußern. Denn es lauern da schließlich jene, die sofort mit dem Finger zeigen, „Antisemitismus!“ rufen und damit berufliche und soziale Ächtung verlangen und oft auch bewirken. Waren zum Beispiel im Fall Caryl Churchill die fünf Juroren, die einer Dramatikerin zunächst einen Preis verliehen und sie dann an den Pranger stellten, wirklich vom Antisemitismus-Vorwurf überzeugt? Oder waren sie nur feige und beschädigten lieber den guten Ruf von Caryl Churchill als Gefahr zu laufen, den eigenen zu verlieren? In der Jury damals, im Jahr 2022: die Kultur-Journalisten Peter Kümmel und Peter Michalzik, die Intendanten Thomas Ostermeier und Barbara Engelhardt, die Kunstministerin Petra Olschowski. Gerne hätte man diese fünf gefragt, wie sie heute, vor dem Hintergrund eines völkermörderisch zerstörten Gaza, über ihre damalige Entscheidung denken.
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