Von dem Schweigen zur Sabotage der Nord-Stream-Pipelines bis zur wirtschaftlich und politisch ruinösen NATO-Aufrüstung: Viele Menschen in Deutschland fragen sich, warum unsere „Eliten“ in Medien und Politik so häufig die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der USA über die der eigenen Bevölkerung zu stellen scheinen. Unsere neue Gastautorin Nel Bonilla analysiert in einer Reihe von vier Artikeln die verborgene Architektur der transatlantischen Hegemonie und die Netzwerke hinter dem transatlantischen Wahnsinn. Ein Artikel von Nel Bonilla.
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Die biographische Fließbandproduktion: Konsens als Fabrikat
Ein Blick in die Lebensläufe des Kabinetts von Friedrich Merz zeigt ein Muster nicht nur aus Karrierestationen, sondern aus ideologischer Prägung durch drei aufeinanderfolgende Phasen der Elitenbildung: drei Stufen, die nacheinander den Konsens herstellen. Jakob Schrot und Lars Klingbeil verdeutlichen diesen Prozess aus zwei Blickwinkeln: der eine über eine akademische Schnellspur, der andere über eine Krisenerfahrung. Am Ende aber treten beide mit denselben atlantischen Reflexen hervor.
Erwerbsphase │ Ideologische Taufe
In dieser Phase werden Weltbilder allmählich verankert. Der Prozess beginnt mit US-finanzierten Programmen, die gezielt junge Menschen an beruflichen oder sogar persönlichen Wendepunkten ansprechen.
Jakob Schrot (Leiter des Kanzlerbüros im Bundeskanzleramt und Leiter des neu geschaffenen Nationalen Sicherheitsrats) – übernimmt die atlantische Orthodoxie über Studienprogramme:
- TransAtlantic Masters, 2013 – 2016: Ein gemeinsamer Master in transatlantischen Beziehungen, der ihn an die University of North Carolina in Chapel Hill, die Humboldt-Universität und die Freie Universität Berlin führte.
- Washington Semester, American University, 2012 – 2013: Ein Forschungsjahr im Washington-Semester-Programm der American University zur US-Außenpolitik brachte ihn mitten ins politische Herz der USA. Vormittags beim German Marshall Fund (einem NATO-nahen Thinktank), nachmittags als Praktikant im Kongress bei dem Abgeordneten Eliot Engel (Außenpolitischer Ausschuss), der später Hauptarchitekt des US-Sanktionsgesetzes CAATSA (Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act) wurde.
- Mit 25 Jahren NGO-Gründer (2014): Gründung der Initiative junger Transatlantiker; ein Jahr später bereits Vorsitzender der Federation of German-American Clubs (Dachverband von 30 Alumni-Gruppen).
Als Schrot mit 30 nach Berlin zurückkehrte, war sein Weltbild in Beton gegossen: NATO und Atlantizismus galten als einzig legitime Perspektive. US-Führung war für ihn eine moralische Tatsache bis hin zu der Auffassung, dass deutsche Interessen gleichbedeutend seien mit denen Washingtons.
Lars Klingbeil (Vizekanzler und Finanzminister) – geprägt durch Krisenerfahrungen und Sozialisation
- 9/11-Praktikum (2001, Manhattan): Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), das politische Fundament der SPD, vermittelte dem 23-jährigen Politikwissenschaftsstudenten ein Praktikum bei einer NGO in Manhattan. Ausgerechnet während der Terroranschläge vom 11. September 2001 befand sich Klingbeil dort. Dieses Erlebnis wurde für ihn zu einem emotionalen Schlüsselmoment, der sein atlantisches Weltbild prägte. Er beschreibt es rückblickend so:
„Danach habe ich mich sehr intensiv mit Außen- und Sicherheitspolitik beschäftigt. Später kehrte ich in die USA zurück, nach Washington, und habe dort meine Masterarbeit über die amerikanische Verteidigungspolitik geschrieben. Mein Verhältnis zur Bundeswehr und zu Militäreinsätzen hat sich durch diese schrecklichen Anschläge grundlegend verändert. Ohne 9/11 hätte ich vielleicht nie mein Interesse an Sicherheitspolitik entdeckt und wäre womöglich nie im Verteidigungsausschuss gelandet.“
- Georgetown-Programm und Praktikum am Capitol Hill (2002 – 2003): Ein Jahr später ging Klingbeil erneut in die USA. Über ein Austauschprogramm studierte er 2002 bis 2003 an der renommierten Georgetown University in Washington amerikanische Verteidigungspolitik. Diese Phase vermittelte ihm von Anfang an eine klar transatlantische Sichtweise, gewissermaßen eine sanfte Einbindung in amerikanisches strategisches Denken. Während dieser Zeit absolvierte er zudem ein Praktikum im Büro der Kongressabgeordneten Jane Harman. Harman gehörte damals dem Geheimdienstausschuss des Repräsentantenhauses an und war später Präsidentin des Woodrow-Wilson-Centers, eines Thinktanks mit engen Verbindungen zu den US-Geheimdiensten. Der Ausschuss, in dem sie saß, überwachte unter anderem die NSA-Programme zur Massenüberwachung und die Anti-Terror-Gesetzgebung nach 9/11.
Solche Aufenthalte sind für junge Politiker enorm prägend. Man taucht nicht nur in das politische Alltagsgeschäft in Washington ein, sondern wird auch direkt in die Denkweise der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik eingeführt. Viele spätere Spitzenpolitiker, nicht nur aus Deutschland, tragen diese frühe Sozialisation wie einen unsichtbaren Rucksack mit sich, der ihr politisches Handeln langfristig beeinflusst.
Konversionsphase │ Aufstieg durch Netzwerke
In dieser Phase gilt: Loyalität und Anpassung werden mit Zugehörigkeit belohnt.
Jacob Schrot kann man hier als einen unternehmerischen Netzwerker beschreiben. Wie bereits erwähnt, gründete er mit 25 Jahren, also noch während seines Studiums, die Jugendorganisation Initiative junger Transatlantiker. Zugleich übernahm er den Vorsitz der Federation of German-American Clubs, eines Dachverbands mit mehr als 30 Alumni-Vereinigungen. Anders als die meisten seiner Altersgenossen schuf Schrot damit transatlantische Strukturen nicht nur durch Teilnahme, sondern von innen heraus.
Im Gegensatz dazu schlug Lars Klingbeil in dieser Phase einen eher traditionellen Weg ein, den Aufstieg über Parteigremien, versehen mit einem leicht progressiven Anstrich, wie es seine SPD-Mitgliedschaft vermuten lässt. Zurück in Deutschland nutzte er die klassischen Karriereleitern und wurde Mitglied der Atlantik-Brücke. Bemerkenswert ist, dass Klingbeil in einem Bericht der Atlantik-Brücke aus dem Jahr 2018 gemeinsam mit der US-Botschafterin Amy Gutmann, Friedrich Merz (heute Bundeskanzler) und dem damaligen Chef von BlackRock Deutschland erscheint.
Zusammengefasst lässt sich sagen: Schrot baut elitäres Sozialkapital selbst auf, während Klingbeil es anzapft. Am Ende führt beides in denselben Zirkel von Gartenpartys, nur mit unterschiedlichen Eintrittskarten.
Verstärkungsphase │ Systemische Reproduktion
Die Absolventen werden selbst zu Gatekeepern, also zu denjenigen, die kontrollieren, wer Zugang zu den entscheidenden Posten erhält – der Kreis schließt sich.
Heute ist Jakob Schrot Kanzler Merz’ Chef des Stabes und Koordinator des Nationalen Sicherheitsrats. Er prüft die Kandidatenlisten für Beraterposten und entwirft sicherheitspolitische Memos. Damit kontrolliert Schrot inzwischen die Personalschleusen im Kanzleramt. Lars Klingbeil wiederum treibt einen 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsfonds im Rahmen der Zeitenwende voran und lässt erneut über eine Art TTIP-light-Handelsabkommen sprechen. Zudem nahm Klingbeil (wie zuvor schon Friedrich Merz 2024) an der Bilderberg-Konferenz 2025 teil, einem exklusiven Treffen, bei dem sich NATO-Generalsekretär, US-Generäle, Konzernchefs aus dem Tech-Bereich und hochrangige Politiker in einem informellen Planungszirkel austauschen.
Schrot entscheidet, wer die Lageeinschätzungen schreibt; Klingbeil legt fest, wofür die Gelder fließen. Gemeinsam verschweißen sie so das Räderwerk der deutschen Politik. Das Entscheidende dabei: Sie tun es nach den Spielregeln Washingtons. Mit solchen Biographien wäre es auch kaum anders möglich.
Neben diesen Anreizen gibt es noch eine andere Seite: den „Schröder-Effekt“. Abweichler vom transatlantischen Konsens riskieren den beruflichen Untergang. Das zeigte sich am ehemaligen Kanzler Gerhard Schröder. Sein Eintreten für Nord Stream 2 und seine Diplomatie gegenüber Moskau führten dazu, dass man ihm die üblichen Privilegien ehemaliger Kanzler aberkannte. Als Begründung diente sein Festhalten an geschäftlichen Verbindungen zu russischen Energiekonzernen, ein angeblicher Verstoß gegen die Pflichten des Amtes. In der Folge wurde Schröder aus dem öffentlichen Mediendiskurs nahezu ausgelöscht.
Das operative Ergebnis: ein geschlossenes Denk-Universum
Am Ende dieser Produktionskette entsteht nicht nur eine einheitliche Politikrichtung. Viel bedeutsamer ist: Es entsteht ein gemeinsamer Wahrnehmungsrahmen, der wie ein Gefängnis wirkt. Wenn die Mehrheit der deutschen, und auch der europäischen, politischen Eliten dieselben US-Programme durchlaufen, hat das drei zentrale Folgen:
- Die geistigen Grenzen verengen sich: Entspannungspolitik gilt plötzlich als „Appeasement“. Neutralität wird als „Kollaboration“ gebrandmarkt. Energiegeschäfte mit Russland erscheinen als „geopolitischer Verrat“.
- Die emotionalen Reaktionen werden konditioniert: Ein Stirnrunzeln eines Pentagon-Beamten löst mehr Angst aus als der Ärger der eigenen Wähler. Das Lob des Economist wiegt schwerer als jede Umfrage im Inland.
- Die politische Vorstellungskraft verkümmert: Alternative Modelle wie eine OSZE-basierte Sicherheitsarchitektur sind unvorstellbar. Der Aufstieg Chinas wird als bloße „vorübergehende Abweichung“ von der US-geführten Weltordnung abgetan.
Das Schlimmste daran: Die Betroffenen erleben diesen Prozess (möglicherweise) gar nicht als Zwang. Spätestens wenn sie ein Regierungsamt übernehmen, ist der Atlantizismus für sie längst politisches Allgemeingut, so selbstverständlich wie das Atmen.
Die eigentliche Tragödie liegt in dem, was verloren gegangen ist: Führungspersönlichkeiten wie Willy Brandt, dessen Jahre im Exil ihn lehrten, dass Souveränität mit dem Mut zum Widerspruch beginnt. Im heutigen Berlin hingegen gibt es kaum noch Raum für Politiker mit unorthodoxen Biographien. Die Förderketten bringen Kader hervor, die sich gar nicht mehr bewusst für Anpassung entscheiden müssen, weil sie sich nichts anderes mehr vorstellen können. Kein Wunder also, dass Vizekanzler Robert Habeck bei einem Besuch in Washington im Jahr 2022 erklären konnte, Deutschland sei bereit, eine „dienende Führungsrolle“ zu übernehmen. Eine Formulierung, die so sehr von ihrer eigenen Logik überzeugt war, dass niemand die naheliegenden Fragen stellte: Wem gegenüber führen? Und welchem Zweck dienen?
Den Griff lösen: realistische Ansatzpunkte
Was ist zu tun? Im Grunde ist dies eine Aufgabe sowohl für die Menschen in den westlichen Ländern, die in die transatlantischen Netzwerke eingebunden sind, als auch für die neu entstehende multipolare Weltordnung:
- Prestige-Konkurrenz: In einer frühen Phase könnte es z.B. ein EU-BRICS-Friedensstipendium geben (oder nur BRICS), mit demselben Stipendium und denselben öffentlichen Ehren wie beim Fulbright-Programm. So würden junge Studierende lernen, dass auch eine sicherheitspolitische Orientierung jenseits der NATO ihrer Karriere dienen kann und vielleicht sogar besser für die Welt.
- Verpflichtende multipolare Karrierestationen: Keine Beförderung in ein Regierungsamt ohne mindestens ein zwölfmonatiges Praktikum oder eine Rotation bei z.B. der OSZE in Wien, der Afrikanischen Union in Addis Abeba oder beim UN-Institut für Abrüstungsforschung (UNIDIR) in Genf.
- Register für ausländische Einflussnahme: Bundestagsabgeordnete müssen heute schon ihre Aktienanteile offenlegen. Ebenso sollten künftig alle von Stiftungen finanzierten Reisen, Aufsichtsratsposten und Einladungen zu Konferenzen wie Bilderberg veröffentlicht werden.
- Matching-Fonds für Thinktanks: Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags könnte so ausgestattet werden, dass er jede private Spende aus der Rüstungsindustrie an Forschungsinstitute mit derselben Summe aus öffentlichen Mitteln ausgleicht. Auf diese Weise würde der politische Einfluss der Rüstungsindustrie verwässert. Natürlich ließe sich an dieser Stelle noch mehr tun.
Solche Scharniere lassen sich oft nur öffnen, wenn äußere Schocks Druck ausüben: etwa ein US-Staatsbankrott, der die Ukraine-Finanzierung beendet, oder eine Protestwelle, die sich polizeilich nicht mehr einkesseln lässt. Doch selbst solche Ereignisse zerstören das bestehende Netzwerk nicht, sie spritzen lediglich ein Stück Pluralismus hinein.
Schlussbemerkung: Hegemonie oder Überleben
Die Spur, die sich durch Stiftungen, Thinktank-Karrieren und geschlossene Konklaven zieht, lässt kaum Zweifel: Das transatlantische Eliteprojekt ist auf Selbsterhaltung programmiert.
Seine kulturelle Hegemonie verpflichtet Europa dazu, ein US-zentriertes Imperium und die Eliten aller verbündeten Länder zu stützen, selbst dann, wenn dieses Imperium Europas eigene materiellen Interessen sabotiert. Hegemonien brechen selten aus moralischer Einsicht zusammen; sie weichen nur dann, wenn äußerer Druck oder innere Brüche die Gefolgschaft teurer machen als den Widerstand. Drei Faktoren (oder eine Kombination daraus) könnten diese Maschinerie ins Wanken bringen:
- Narrativbruch von unten: Organisierte Verweigerung, sei es durch Massenstreiks, Boykotte oder anhaltende Gegenkampagnen in den Medien, kann den Konsens der Kriegswirtschaft delegitimieren und die atlantische Treue politisch untragbar machen.
- Systemischer Schock von außen: Ein entscheidender Verlust der US-Finanz- oder Militärdominanz (etwa durch einen Bruch des Petrodollar-Systems bzw. die Koppelung des globalen Ölhandels an den US-Dollar oder einen gescheiterten Stellvertreterkrieg) würde die europäischen Eliten zwingen, ihre Loyalitäten neu zu bewerten.
- Rechenschaft von oben: Nürnberger Prozesse sind heute zwar kaum vorstellbar, bleiben aber historisch ein Instrument, das Elitenabenteuer tatsächlich eindämmt, indem es persönliches Risiko an strategische Torheit koppelt.
Jede Stufe ihrer Karriereleiter hat die nächste Eskalation normalisiert. Die heutigen europäischen Führungskräfte entscheiden sich nicht bewusst für den permanenten Krieg, sie erben und normalisieren ihn. Denn innerhalb eines Systems, das Atlantiktreue mit beruflicher Legitimität gleichsetzt, erscheint er ihnen als der sicherste Weg.
Ein Aufruf zu neuen Strukturen
Es reicht nicht, einfach nur Personen auszutauschen. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, das biographische Fließband zu demontieren, jenes, das mit von Stiftungen finanzierten Jugendaustauschprogrammen beginnt, über Thinktank-Stipendien verläuft und schließlich in Ministerämtern oder Vorstandsetagen endet. Solange dieses Fließband nicht unterbrochen oder zumindest über den atlantischen Echoraum hinaus diversifiziert wird, werden auch „neue Gesichter“ dieselben strategischen Reflexe reproduzieren.
Die Alternative ist klar: Entweder zusehen, wie das eigene Land im Dienste der Eliten eines anderen Imperiums blutet, oder die Fähigkeit zurückgewinnen, über die eigene Zukunft zu entscheiden.
Die Entscheidung lautet also nicht mehr Status quo oder Reform, sondern Hegemonie oder Überleben. Das Zeitfenster für eine friedliche Loslösung mag sich schließen, doch es ist noch nicht endgültig zugefallen. Aus der Geschichte zu lernen garantiert nichts, eröffnet aber Chancen, den Kreislauf zu unterbrechen.
Ende Teil 4
Dieser Artikel wurde zuerst im englischen Original auf Nel Bonillas Substack veröffentlicht und von der Autorin selbst ins Deutsche übersetzt.
Titelbild: US-Botschaft Berlin / Ambassador Emerson Gives Atlantik Brücke Farewell Speech