Die Clownswelt zerschlagen – Rainer Mausfelds „Hegemonie oder Untergang“

Die Clownswelt zerschlagen – Rainer Mausfelds „Hegemonie oder Untergang“

Die Clownswelt zerschlagen – Rainer Mausfelds „Hegemonie oder Untergang“

Maike Gosch
Ein Artikel von: Maike Gosch

Ein neuer Mausfeld ist immer ein willkommenes Ereignis. Seit seinem Vortrag „Warum schweigen die Lämmer?“ erfreut sich der emeritierte Professor für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung an der Universität Kiel einer treuen Fangemeinde. Ähnlich wie Noam Chomsky in den USA ist er Intellektueller, Wissenschaftler, politischer Analyst und unbestechliche moralische Instanz in einer Person. Sein neuestes Buch „Hegemonie oder Untergang – Die letzte Krise des Westens?“ widmet sich der „Krise des Westens“ und demontiert in gekonnter Manier die Begriffe und Diskurse, die Gewalt und Ungerechtigkeit des Westens rechtfertigen und kaschieren, anhand der aktuellen Ereignisse. Eine Rezension von Maike Gosch.

Das Eiswasser, das Mausfeld auf die überhitzten Nebelschwaden der modernen Diskurse wirft, ist erfrischend. Das ist schon keine „Delegitimierung des Staates“ mehr, das ist ein Filetieren der schwammigen und verbogenen Begrifflichkeiten und Narrative mit dem scharfen Skalpell seines Intellekts, um deren ursprüngliche Bedeutung wieder freizulegen und den Missbrauch der Begriffe durch die Mächtigen anzuprangern, wie zum Beispiel in dieser Passage zur aktuellen Demokratiekrise:

Es wäre jedoch nicht sinnvoll, die gegenwärtige gesellschaftliche Krise eine Krise der Demokratie zu nennen. Jedenfalls nicht im ursprünglichen Sinne der egalitären Leitidee von Demokratie als individueller und somit auch gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Für die Organisationsform des Staates beinhaltet diese zivilisatorische Leitidee eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft durch eine strikte vertikale Gewaltenteilung und eine Unterwerfung aller Staatsapparate unter die gesetzgebende Souveränität der gesellschaftlichen Basis. Da es Demokratie in diesem einzigen Sinn, der diese Bezeichnung verdient, in unserer Epoche nicht gibt, wäre die Behauptung ihrer Krise unsinnig. Die gegenwärtige schwere Krise des Westens kann also, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, keine Krise der Demokratie sein. Es gibt indessen gute Gründe anzunehmen, dass es sich um eine Krise handelt, deren Wurzeln gerade in der jahrhundertelangen Verhinderung von Demokratie zu finden sind.“ (Mausfeld, S. 11)

Nach einer fulminanten Einleitung (dazu unten mehr) holt Mausfeld erst einmal historisch aus und zeichnet nach, wie die Narrative des „Westens“ entstanden und was sie beinhalteten.

Was überhaupt ist »dieser Westen«? Auf den ersten Blick mag dieser Begriff danach klingen, als würde er natürliche Begebenheiten beschreiben. In seiner heutigen Bedeutung als eines Kulturraumes, der in besonderer Weise auf Vernunft, Wissenschaft und Freiheit basiere und dadurch einen gleichsam linearen gesellschaftlichen Fortschritt von »primitiven« zu »höheren« Gesellschaftszuständen ermögliche, ist er jedoch vergleichsweise jungen Ursprungs. (…)

Ein Selbstverständnis des »Westens« als eines gleichsam linearen gesellschaftlichen Fortschritts von »primitiven« zu »höheren« Gesellschaftszuständen entwickelte sich erst zusammen mit der westlichen Konstruktion seines Gegenpols des »Ostens« und des »Orients«, zwischen dem 17. Und 18. Jahrhundert. Bereits der historische Ursprung des »Westens« zeigt, dass er seine Identität seit jeher aus seiner Konstruktion der »Anderen« bezog, nämlich derjenigen, die er als seine »Feinde« betrachtete. Im Mittelalter und in der Zeit des Kolonialismus waren dies die »Unzivilisierten«, die »Barbaren«, die es zu zivilisieren, also zu »verwestlichen« galt. Wer jeweils als »unzivilisiert« zu betrachten sei, änderte sich je nach materiellen Interessen und Machtbedürfnissen des Westens.“ (Mausfeld, S. 16/17)

Damit zeigt Mausfeld die Kontinuitäten auf, in denen sich die Erzählungen des „Westens“ seit dem 17. Jahrhundert bis heute bewegen. Er zoomt damit erfolgreich aus der Gegenwart und auch dem aus 21. und 20. Jahrhundert heraus und führt uns als Leser aus den Gedankengebäuden heraus, in denen wir uns sonst oft befinden, ohne es überhaupt zu bemerken. Beim Lesen dieser Absätze wird sofort klar, dass sich ein Großteil der aktuellen politischen Kommunikation zu Russland, zur arabischen Welt, zu den Palästinensern, aber auch zu China innerhalb dieser Denk- und Argumentationsmuster bewegt. Man denke nur an Borrels berühmte Garten-versus-Dschungel-Metapher oder an die fortwährende Rhetorik israelischer Politiker (wenn sie nicht gleich offen genozidal ist) von der Verteidigung westlicher Zivilisation und Werte gegen die „Barbaren“ (womit hier die Palästinenser gemeint sind). Spätestens seit den Kreuzzügen steht diese Rahmenerzählung. Aber nicht mit Mausfeld:

Dieser Mythos des Westens einer sich aus seiner Sonderstellung in der Welt ergebenden zivilisatorischen Aufgabe – das Master-Narrativ des Westens – ist das Fundament für die westliche ideologische Pseudorealität, mit der der Westen seine organisierte Gewalt zu verschleiern sucht. Die globale Machtausdehnung des Westens beruhte keineswegs auf seiner höheren Sittlichkeit oder seiner »höheren Kultur«. Sie beruhte auf militärischer und technologischer Gewaltüberlegenheit. Sie beruhte auf Kolonialisierung, Sklavenhandel, imperialen Kriegen und wirtschaftlicher Erpressung. Der Ausdruck »zivilisatorische Mission« – ebenso wie seine modernen Varianten – ist ein moralistischer Mantel, mit dem die Kontinuität eines fünfhundert Jahre währenden Prozesses gewaltsamer ökonomischer Ausbeutung der Welt verdeckt werden soll.“ (Mausfeld, S. 91/92)

Nur das letzte Kapitel „Hat das emanzipatorische Projekt einer Zivilisierung von Gewalt heute noch eine Chance?“ blieb mir etwas zu abstrakt und theoretisch. Aber Mausfeld ist kein Aktivist, zivilgesellschaftlicher Organisator oder Politiker. Er bietet daher auch keine Handlungsanweisungen oder konkrete Lösungen an. Aber indem er die aktuellen politischen Ereignisse und Strukturen glasklar beschreibt, viele Lügen und Doppelmoral entlarvt, schafft er ein starkes intellektuelles Fundament, von dem aus Widerstand und Veränderung intellektuell aufgebaut werden können. Sätze wie die folgenden zeigen die Klarheit und Schärfe seiner Analyse:

Unsere Epoche muss somit als eine Epoche der schleichenden Entzivilisierung von Gewalt angesehen werden, die von den Starken beharrlich vollzogen wird. In anderen Worten: Wir leben in einer Zeit der radikalen Gegenaufklärung. Kein Ereignis in der westlichen Welt führt dies schonungsloser vor Augen als Israels Völkermord an den Palästinensern. Das epochale Verbrechen dieses Völkermords wird begleitet von dem Verbrechen des Schweigens der Öffentlichkeit westlicher Länder. Insbesondere des Schweigens nahezu der gesamten Schicht öffentlicher Intellektueller.“ (Mausfeld, S. 173/174

Das Buch enthält für Mausfeld-Leser einiges Vertraute, das sie schon aus früheren Büchern und Vorträgen kennen. Dank seiner intellektuellen Tiefe und Klarheit kann es aber sicher nicht schaden, einige seiner Gedanken mehrfach zu lesen, um sie wirklich zu durchdringen und zu internalisieren. In seiner grandiosen Einleitung („Erschütterungen“) schreibt Mausfeld:

Gegenwärtige Krisen und Kriege scheinen in einem engen inneren Zusammenhang zu stehen. Dies wird zunehmend deutlicher. Und das macht sie umso bedrohlicher. Die Determinanten geopolitischer Konflikte und deren historische Kontinuitäten und Kausalitäten sind intuitiv nur schwer erfassbar. Nur durch mühevolle kollektive Analysen können sie besser verstanden werden. Hingegen sind die gesellschaftlichen Krisen, da sie sich oft unmittelbar auf unseren gegenwärtigen Lebensalltag auswirken, leichter zu bemerken und in einigen Grundzügen intuitiv zu verstehen. Ein tieferes Verständnis ihrer Ursachen kann indes ebenfalls nur auf der Grundlage kollektiver Anstrengungen erreicht werden.“ (Mausfeld, S. 10)

Und genau da setzt das Buch – und Mausfelds gesamtes Werk – an: Er liefert Instrumente, Argumente und Interpretationen, um diese kollektiven Analysen anzustoßen und zu erleichtern. Relativ unabhängig davon, ob man alle seine Prämissen, Thesen und Wertungen teilt, wird der Diskurs dadurch im Niveau angehoben und klare Linien und Flächen entstehen. Eine sehr negative Rezension seines ersten Buches „Warum schweigen die Lämmer“ in der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2018 beschrieb es als ein Buch für „linke Wutbürger“ und bezichtigte den Autor der „kruden Besserwisserei“. Das wird Mausfelds Texten in keiner Weise gerecht – sie sind ein Aufruf zur Rückkehr zu einer rationalen Analyse, dazu, „sich seines eigenen Verstands“ zu bedienen, zu analysieren und zu verstehen. Mausfeld unterfordert seine Leser nicht, er schont sie nicht, aber er respektiert sie immer und spricht zu ihnen auf Augenhöhe. Das Buch ist durchaus polemisch und scharf, aber diese Empörung ist fundiert und basiert auf den Ergebnissen seiner historischen, politischen und psychologischen Analysen.

Das Buch hat seine größte Stärke nicht in Lösungsvorschlägen und Handlungsanweisungen. Auch die volkswirtschaftlichen Analysen mögen etwas einseitig und vielleicht teilweise zu undifferenziert sein, aber es brilliert dort, wo der Autor seine Kernkompetenz hat: Bei der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung. Mausfeld schaut sich Worte ganz genau an und zeichnet ihre ursprüngliche Bedeutung nach, ebenso wie ihre politische Instrumentalisierung und Verzerrung im Verlauf der Zeit. Dies wirft immer wieder interessante Schlaglichter auf Begriffe und gedankliche Konzepte wie „Demokratie“, „Der Westen“, „Freiheit“, „Fortschritt“, aber auch „Völkermord“, die zu wertvollen Erkenntnismomenten beim Lesen führen. Er analysiert Diskurse und Diskursverbote und beschreibt Propaganda und emotionale Beeinflussung im öffentlichen politischen Diskurs. Vieles, was man intuitiv so empfunden hat, findet man hier fachkundig und fundiert aufgeschlüsselt, beschrieben und erklärt.

Eine der stärksten Passagen, in einem an starken Passagen reichen Buch, sind seine Ausführungen über „Die gezielte Schaffung gesellschaftlicher Pseudorealitäten“. Hier schreibt er:

Die gegenwärtigen Machteliten haben zur Sicherung ihrer Macht ein derartiges ideologisches Gewölbe geschaffen. Dieses Phantasiegebilde ist das Produkt psychologischer Dynamiken, die durch die gegenwärtige Krise des Westens bei seinen Machteliten ausgelöst wurden. Hierzu gehören vor allem höchste, zumeist unbewusste Ängste um ihren privilegierten Status, Verleugnung ihrer eigenen Verantwortung, Projektion auf Schuldige durch Aufbau geeigneter Feindbilder, übersteigerte Selbstaffirmation und überzogene Phantasien ihrer eigenen Größe, mit denen sie ihre Gedanken, Gefühle oder Handlungsweisen so lenken, dass sie den von ihnen gewünschten Zielen entsprechen. Die Machteliten schafften sich mit all ihrer psychischen Kraft ein Scheinbild der Wirklichkeit, das ihre Wünsche, ihr Denken und Handeln wieder zu einem Sinnganzen macht. Und nutzen dann dieses Phantasiegebilde als Manipulationsinstrument, indem sie es mit den Megaphonen aller ihnen zur Verfügung stehenden medialen Kanäle in den Köpfen der Bevölkerung zu verankern suchen.“ (Mausfeld, S. 74/75)

In der westlichen Pseudorealität ist es kaum noch möglich, überhaupt einen Außenstandpunkt einnehmen zu können. Sie gleicht einem abgeschlossenen Gewölbe, zu dem kein Außerhalb mehr denkbar ist.“ (Mausfeld, S. 77)

Mausfeld beschreibt hier also das, was der rechte (und linke) Wutbürger gelegentlich als „Clownswelt“ beschreibt: die wachsenden Widersprüchlichkeiten der offiziellen Erzählung, die bei vielen, und vermutlich einer wachsenden Anzahl von Menschen, nicht nur zu einer kognitiven Dissonanz, sondern auch zu einem emotionalen Unwohlsein geführt hat, bis zu Aussagen wie: „Ich glaube, ich werde verrückt“ oder „Was ist noch der Unterschied zwischen Realität und Satire?“.

Der große Wert von Mausfelds Buch liegt darin, dass er gerade dieses „Außerhalb“ schafft – einen intellektuellen Standpunkt außerhalb der aktuell dominierenden Konzepte und Erzählungen im politischen Raum des Westens, der es uns erlaubt, diese von außen anzusehen, zu begutachten und zu korrigieren.

Rainer Mausfeld: Hegemonie oder Untergang – Die letzte Krise des Westens? Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, Taschenbuch kartoniert, 216 Seiten, ISBN 978-3987913341, 24 Euro

Titelbild: Westend Verlag

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