Empathie als Schulfach

Empathie als Schulfach

Empathie als Schulfach

Oskar Lafontaine
Ein Artikel von Oskar Lafontaine

Es ist höchste Zeit. Von Oskar Lafontaine.

Wenn Politiker „wir“ sagen, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Meinen sie wirklich nicht nur andere, sondern auch sich selbst, also beispielsweise Friedrich Merz mit seinem Mantra: „Wir können uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten“? Bei Politikern wie dem Bundeskanzler oder dem Autor dieses Beitrages oder allen beamteten Staatsdienern, zu denen auch Professoren gehören, die man Wirtschaftsweise, Rentenexperten oder Gesundheitsexperten nennt, ist die Frage schnell beantwortet. Sie sind von Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung oder der Rentenversicherung nicht betroffen. Zwar finanzieren sie über ihre Steuern die Zuschüsse zu den oben genannten Versicherungen mit, aber die Sozialversicherungsbeiträge zahlen die Beschäftigten, auch die sogenannten Arbeitgeberbeiträge, weil sie Lohnbestandteile sind, wie bereits die Ordoliberalen wussten.

Adam Smith und Sankt-Florian-Prinzip

Vor allem Ludwig Erhards Staatssekretär Alfred Müller-Armack betonte, dass die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung nicht als zusätzliche Belastung für die Unternehmen, sondern als integraler Bestandteil des Arbeitslohns zu verstehen seien und daher in die Lohnpolitik einbezogen werden müssten. Wenn die heutigen CDU-„Wirtschaftsexperten“ um Friedrich Merz eine Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge, also Lohnsenkung, fordern, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, zeigen sie, dass sie diese wichtige Lehre der sozialen Marktwirtschaft vergessen haben.

Wenn über Kürzungen bei den oben genannten Versicherungen in erster Linie Leute reden, die von den Kürzungen nicht betroffen sind, dann ist das zwar ein weitverbreitetes, aber dennoch unmoralisches Verhalten. In vielen Gesellschaften und Kulturen gilt die goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu“. So gesehen wären die oben genannten Sozialkürzer gehalten, zuallererst über die Kürzung von Ministergehältern, Diäten, Beamtengehältern oder Beamtenpensionen zu reden, wenn sie darüber schwadronieren, was „wir“ uns alles nicht mehr leisten können.

Nach dem Sankt-Florian-Prinzip: „Heiliger Florian, verschon’ mein Haus, zünd andre an“, verhalten sich auch andere privilegierte gesellschaftliche Gruppen. Ob es um Steuern oder soziale Leistungen geht, die Verbände und Organisationen der Wirtschaft und der Wohlhabenden unterstützen fast ausnahmslos Vorschläge, die die Besitzenden schonen und die Menschen mit geringem Einkommen zusätzlich belasten.

Für sie sind Löhne, Renten, soziale Leistungen und Steuern immer zu hoch. Daher werben sie dafür, Löhne, Renten und soziale Leistungen zu kürzen, und fordern die Senkung just der Steuern, die ihren Geldbeutel schmälern. Und da die Medien im Besitz der „Reichen“ sind, kommentieren die meisten Journalisten nach der Melodie: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“.

In seinem Buch „Theorie der ethischen Gefühle“ schrieb Adam Smith: „Wie selbstsüchtig man den Menschen auch annimmt, es gibt offenkundig einige Prinzipien in seiner Natur, die ihn für das Schicksal anderer interessieren und ihm das Glück dieser anderen notwendig machen, auch wenn er daraus nichts gewinnt außer dem Vergnügen, es zu sehen.“ Bei der Verteilung des Sozialproduktes ist von den Prinzipien der menschlichen Natur, die der schottische Moralphilosoph beobachtet hat, wenig zu sehen.

Noch schmerzhafter ist dieser Mangel an Mitgefühl zu erleben, wenn Staatenlenker Menschen in den Krieg schicken oder Waffen liefern. Ob Trump oder Putin, Selenskyj oder Netanjahu, Merz oder Macron und viele andere, die zu nennen wären: Sie sind, wenn sie Menschen in den Tod schicken, nicht betroffen. Und wenn man sie reden hört, spürt man, dass sie nicht empfinden, wie es Menschen geht, denen man befohlen hat, einander umzubringen.

Die Führungsriege der CDU, die sich auf christliche Werte beruft, allerdings zurzeit am stärksten zum Kriege hetzt, hat offensichtlich von der Nächstenliebe oder gar der Feindesliebe noch nie etwas gehört. Die Strukturen unserer Gesellschaft führen zur Vereinzelung und zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer.

Wie Willy Brandt einst in seiner berühmten Regierungserklärung forderte: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, so müsste heute ein Bundeskanzler eine Regierungserklärung unter das Motto stellen „Wir wollen mehr Empathie lernen“. Dänemark und Frankreich gehen mit gutem Beispiel voran. In Dänemark ist Empathie seit 1993 verpflichtendes Schulfach für alle Kinder von sechs bis sechzehn Jahren. Ziel ist es, soziale Kompetenzen wie Toleranz und Respekt zu vermitteln und Hilfsbereitschaft zu wecken. Auf diese Weise sollen Mobbing und Konflikte in der Schule reduziert werden. Frankreich hat 2024 das Schulfach Empathie in 1.200 Schulen als Pilotprojekt eingeführt. Erste Auswertungen beweisen positive Effekte dieses neuen Schulfachs, Mobbing und Aggressionsverhalten sind nachweislich zurückgegangen.

Goldene Regeln

Die immer mehr auseinanderdriftende Gesellschaft der Bundesrepublik wäre gut beraten, dem Beispiel der europäischen Nachbarn zu folgen und Empathie als Schulfach einzuführen. Nachsitzen in diesem Fach müssten eigentlich vor allem die derzeit verantwortlichen Politiker, die die Gesellschaft weiter spalten und uns mit ihrem verantwortungslosen Gerede in einen großen Krieg hineintreiben könnten. Dann bestünde Hoffnung, dass sie sich wieder an der goldenen Regel – „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg auch keinem andern zu“ – orientieren und sich bewusst machen, dass man im Atomzeitalter nur gemeinsam untergehen oder gemeinsam Sicherheit finden kann.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Weltwoche Nr. 42.25.

Titelbild: Jack_the_sparow/shutterstock.com

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