Die Krise des Westens und der Kampf um das öffentliche Bewusstsein

Die Krise des Westens und der Kampf um das öffentliche Bewusstsein

Die Krise des Westens und der Kampf um das öffentliche Bewusstsein

Rainer Mausfeld
Ein Artikel von Rainer Mausfeld

In der letzten Woche erschien auf den NachDenkSeiten bereits eine Rezension des neuesten fulminanten Buches von Rainer Mausfeld, „Hegemonie oder Untergang – Die letzte Krise des Westens?“. Hier drucken wir mit freundlicher Genehmigung des Westend Verlags und des Autors einen längeren Auszug aus diesem Buch aus dem Kapitel „Die Krise des Westens und der Kampf um das öffentliche Bewusstsein“ ab, in dem der Autor gewohnt klar und scharf analysiert, wie der Westen zur Verteidigung seiner Macht mit nie zuvor bekanntem Aufwand versucht, „global die tatsächlichen Kausalitäten, auf denen seine Macht beruht, durch eine massenmedial vermittelte Manipulation und tiefgreifende Formung des öffentlichen Bewusstseins zu verschleiern“.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Im politischen Bereich dient die Erzeugung von ideologischen Scheinwelten dazu, tatsächliche gesellschaftliche und geopolitische Kausalitäten, also Ursachenverhältnisse, zu verschleiern. Diese sollen durch Scheinkausalitäten ersetzt werden, um auf diese Weise das eigentliche Fundament herrschender Machtverhältnisse für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen. Die Erzeugung von Pseudorealitäten dient darüber hinaus dazu, die wahrgenommene ideologische Scheinwelt in einer nicht mehr rational und damit nicht rational korrigierbaren Weise im gesamten psychischen Gefüge zu verankern. Dadurch findet auch das politische Fühlen, Denken und Handeln der Bürgerschaft weitgehend in einer Welt des Imaginären und einer durch sie geformten Affekt- und Bedürfnisstruktur statt, womit einem emanzipatorischen Handeln die Grundlage entzogen wird. Macht ist also zu ihrer Stabilisierung stets auch auf eine Erzeugung geeigneter gesellschaftlicher Trugbilder und Pseudorealitäten angewiesen.

Auch die Macht des Westens benötigt ideologische Stützpfeiler, auf denen sich eine zeitlich stabile und in sich geschlossene Scheinwelt und Pseudorealität errichten lässt. Die Grundelemente dafür sind bereits seit seinen historischen Anfängen im Selbstbild des Westens angelegt. Heute ist der Westen mehr denn je auf die Erzeugung einer solchen Pseudorealität angewiesen, um seine organisierte Gewalt moralistisch zu verbrämen und zugleich eine vorgebliche Alternativlosigkeit des parasitären westlichen Lebensmodells als zwangsläufig erscheinen zu lassen.

Mit den stark gewachsenen geopolitischen Widerständen gegen den westlichen Hegemonieanspruch werden gegenwärtig die inneren Widersprüche des Westens global so deutlich sichtbar wie kaum je zuvor. Zur Verteidigung seiner Macht muss der Westen daher mit nie zuvor bekanntem Aufwand versuchen, global die tatsächlichen Kausalitäten, auf denen seine Macht beruht, durch eine massenmedial vermittelte Manipulation und tiefgreifende Formung des öffentlichen Bewusstseins zu verschleiern. Dies ist ihm in den vergangenen Jahren in einzigartiger Weise gelungen.

In der westlichen Pseudorealität ist es kaum noch möglich, überhaupt einen Außenstandpunkt einnehmen zu können. Sie gleicht einem hermetisch abgeschlossenen Gewölbe, zu dem kein Außerhalb mehr denkbar ist. Innerhalb dieses ideologischen Gewölbes, in dem die Wahrheit selbst zur bloßen Inszenierung und die Politik zum Spektakel verkommen sind, ist der gesamte Rahmen der gesellschaftlichen Weltwahrnehmung verdreht und verrückt. Wenn aber das gesamte Fundament und die Grundpfeiler des Denkens und des moralischen Bewertens auf den Kopf gestellt sind, können auch die absurdesten ideologischen Behauptungen und die übelsten Ressentiments nicht mehr als das erkannt werden, was sie wirklich sind, nämlich als kollektive wahnhafte Phantasien. Sie werden vielmehr als zutreffende Beschreibungen der Realität angesehen. […]

In den vergangenen Jahren wurde der Schein des Realen dieser Pseudorealität wesentlich verstärkt durch ein zuvor unbekanntes Ausmaß ideologischer Homogenisierung aller großen Medien und eine ins Maßlose gesteigerte Bereitwilligkeit der meinungsbildenden journalistischen Klasse, sich faktischen Machtverhältnissen zu unterwerfen, indem sie sich autoritärer staatlicher Macht andient und sich vollends in den Dienst hegemonialer US-Interessen stellt. Der öffentliche Debattenraum wurde weitgehend auf Regierungspositionen geschrumpft. Kritische Intellektuelle sind in ihm, so es sie überhaupt noch gibt, nicht mehr sichtbar. Die Medienintellektuellen sind zu Claqueuren der militärischen Konfrontation oder gar zu deren Anheizern geworden. Dies hat zur Folge, dass immer und überall die gleichen Kernbotschaften in endlosen Wiederholungen die Nachrichtenkonsumenten überfluten. Bis in die Wortwahl und wie auf Knopfdruck aus allen Kanälen dieselben Phrasen, dieselben vorgestanzten Interpretationshülsen. Eine gigantische Echokammer, in der alle relevanten Personen im Grunde die gleiche Meinung zu Russland, zu China, zum Iran, zu Israel oder zur Ukraine haben und in der sie sich wechselseitig ideologisch radikalisieren. Wohl nie zuvor in der Mediengeschichte war die Kluft zwischen dem im gesamten Westen medial vermittelten Bild und den tatsächlichen gesellschaftlichen Realitäten so groß wie heute – eine der dunkelsten Zeiten der Mediengeschichte. Die Bürger können heute also nicht einmal mehr im Ansatz ein angemessenes Bild der gesellschaftlichen und politischen Realitäten gewinnen. Das durch alle großen Medien erfolgte ideologiekonforme Umschreiben der Geschichte hat das gewünschte Ziel so umfassend erreicht, dass bei ihnen fast durchweg geschichtsvergessene Unkenntnis herrscht.

Wenn aber das von den Medien vermittelte Bild der gesellschaftlichen und geopolitischen Realität durch die Interessen von Machtgruppieren verzerrt ist und somit Medien nicht mehr frei sind, kann, wie Hannah Arendt betonte, alles passieren:

„In dem Moment, in dem wir keine freie Presse mehr haben, kann alles passieren. […] Wenn man ständig belogen wird, ist die Folge nicht, dass man die Lügen glaubt, sondern dass niemand mehr irgendetwas glaubt. […] Und ein Volk, das nichts mehr glauben kann, kann sich auch nicht mehr entscheiden. Es ist nicht nur seiner Handlungsfähigkeit beraubt, sondern auch seiner Denk- und Urteilsfähigkeit. Und mit einem solchen Volk kann man dann machen, was man will.“

Um die Bürger unfähig zu machen, ein angemessenes Bild der gesellschaftlichen und politischen Realitäten zu gewinnen, werden die von den großen Medien jeweils berichteten Fakten – vor allem in Situationen, die für die Stabilität herrschender Machtverhältnisse von besonderer Bedeutung sind – bereits hochselektiv so ausgewählt und sofort interpretativ so kontextualisiert, dass sie die ideologischen Kernbotschaften zu unterstützen scheinen. Die in rigoroser ideologischer Gleichförmigkeit dargebotenen „Nachrichten“ bedienen sich schon in der Wortwahl der immergleichen ideologischen Worthülsen, die zudem in oft kaum bemerkbarer Weise gezielt affektiv aufgeladen sind. Dadurch werden alle Berichte über machtrelevante Ereignisse sofort mit hochgradig affektiv besetzten Markern versehen, damit die gewünschte Freund-Feind-Kategorisierung bereits vor jeder Möglichkeit zu einer Reflexion eindeutig feststeht. Es genügt, Sprache auf endlose Wiederholungen affektiver Appelle und Bewertungen zu reduzieren und sie argumentativer Zusammenhänge zu berauben, um Menschen daran zu gewöhnen, ideologische Vorurteile für Schlussfolgerungen zu halten. […]

Dazu reicht es, Menschen sozial und gedanklich zu fragmentieren und sie durch Konsumismus, Überflutung mit Nichtigkeit und durch billige Unterhaltung in einem permanenten gedanklichen Nebel der Verwirrung zu halten. Die Bedeutung der Methode, Menschen durch eine Überflutung mit Nichtigkeiten dazu zu bringen, ihre Knechtschaft hinzunehmen, wurde bereits von Aldous Huxley erkannt. Huxley schrieb 1958 in seinem Buch Brave New World Revisited (dt. Wiedersehen mit der schönen, neuen Welt), dass es in den „westlichen, kapitalistischen Demokratien“ nicht mehr einfach um Indoktrination mit wahren oder falschen Aussagen gehe, sondern um eine Überflutung mit dem Belanglosen, die den fast unersättlichen Drang des Menschen nach Ablenkung durch Nichtigkeiten bedient, „um die Leute davon abzuhalten, den Wirklichkeiten der sozialen und politischen Lage zu viel Aufmerksamkeit zu schenken“. Früher sei man, so Huxley, der Auffassung gewesen, bei der Bestimmung von Propaganda ginge es bloß um die Frage, ob eine Nachricht wahr oder falsch sei. Eine solche Auffassung ginge jedoch gänzlich an dem vorbei, was tatsächlich „in unseren kapitalistischen Demokratien“ passiert ist, nämlich „die Entwicklung einer riesigen Industrie der Massenmitteilung, welche sich der Hauptsache nach weder mit dem Wahren noch dem Falschen befasst, sondern mit dem Unwirklichen, dem mehr oder weniger Belanglosen“.

Dazu stellte schon vor vier Jahrzehnten der Medienwissenschaftler Neil Postman fest: „Orwell fürchtete diejenigen, die Bücher verbieten. Huxley fürchtete, dass es eines Tages keinen Grund mehr geben könnte, Bücher zu verbieten, weil keiner mehr da ist, der Bücher lesen will. Orwell fürchtete jene, die uns Informationen vorenthalten. Huxley fürchtete jene, die uns mit Informationen so sehr überhäufen, dass wir uns vor ihnen nur in Passivität und Selbstbespiegelung retten können. Orwell befürchtete, dass die Wahrheit vor uns verheimlicht werden könnte. Huxley fürchtete, dass die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeiten untergehen könnte.“

Postman beschließt seine Analysen mit Worten, die heute als Gegenwartsdiagnose wohl gültiger denn je sind: „Die Menschen in Schöne neue Welt leiden nicht daran, dass sie lachen, statt nachzudenken, sondern daran, dass sie nicht wissen, worüber sie lachen und warum sie aufgehört haben, nachzudenken.“

Dieser Nebel medial induzierter gedanklicher und affektiver Verwirrung macht Medienkonsumenten unfähig, einen gedanklichen Abstand zu dem medial Präsentierten gewinnen zu können. Erst recht gelingt es ihnen nicht, einen Außenstandpunkt zu dem ideologischen Gewölbe, in dem sie leben, einnehmen zu können. Das ideologische Gebäude wird dann, einer freiwilligen Knechtschaft gleich, von den Machtunterworfenen selbst getragen und erhalten.

Massenmedien als Instrumente zur Formung des öffentlichen Bewusstseins

Es bedarf der Massenmedien, um eine so tiefgehende Formung des Bewusstseins in der Breite der Bevölkerung zu erreichen. Seit jeher ist es die faktische politische Funktion der Massenmedien – schon ihren Besitzverhältnissen nach –, den Geist von Medienkonsumenten so zu formen, dass diese grundsätzlich nicht mehr in der Lage sind, die tatsächlichen Kausalitäten ihrer eigenen gesellschaftlichen Situation erfassen und analysieren zu können. Die Aufgabe von Massenmedien in „kapitalistischen Demokratien“ besteht, wie schon in ihren Anfängen ausdrücklich festgestellt wurde, gerade darin, bei den Bürgern eine Illusion der Informiertheit zu erzeugen und zugleich Gefühle der Unsicherheit, Angst und gesellschaftlichen Ohnmacht zu wecken, um sie auf diese Weise in einen Zustand politischer Apathie zu versetzen und sie zu politischen „Zuschauer-Konsumenten“ zu machen. Massenmedien zielen ihrer Beschaffenheit nach darauf, die Befähigung ihrer Konsumenten zu blockieren, überhaupt in rationaler Weise Überzeugungen bilden zu können und aus eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen und aus offenkundigen gesellschaftlichen Fakten angemessene Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Innerhalb eines hermetisch abgeschlossenen ideologischen Gewölbes, das von der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gar nicht mehr als solches erkennbar ist, genügen recht elementare Techniken der Machtausübung für eine nahezu totalitäre Bevölkerungskontrolle. Durch rigorose Einschränkungen des öffentlichen Debattenraumes lässt sich jedes Denken außerhalb des Gewölbes bereits an seinen Wurzeln ersticken und in seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit eng begrenzen. Mit einer massenmedial systematisch erzeugten Angst lassen sich das kollektive sowie das individuelle Bewusstsein extrem verengen und das Denken lähmen. Die tatsächlichen Kausalitäten für ein kollektives Unbehagen und für die gesellschaftlichen Veränderungsbedürfnisse können damit nicht mehr angemessen erkannt werden. Folglich lässt sich die Veränderungsenergie der Bevölkerung leicht auf geeignete Ablenkziele lenken, statt sie auf die eigentlich politisch Verantwortlichen zu richten. Ein Kreislauf der Massenerzeugung von Angst und Hysterie innerhalb eines hermetisch abgeschlossenen ideologischen Gewölbes, der die Gesellschaft zunehmend spaltet und sie zu zerstören droht. Damit wird einer Organisation von Widerstand grundsätzlich die Basis entzogen. Die Schaffung einer tief in der Kultur und in den psychischen Strukturen ihrer Mitglieder verankerten ideologischen Pseudorealität stellt das Fundament bereit, auf dem sich autoritäre Macht nahezu grenzenlos entfalten kann.

Rainer Mausfeld: Hegemonie oder Untergang – Die letzte Krise des Westens? Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, Taschenbuch kartoniert, 216 Seiten, ISBN 978-3987913341, 24 Euro