Mehrere Bundesländer, darunter Niedersachsen, Bremen und Nordrhein-Westfalen, haben sich in den vergangenen Wochen für die medizinische Aufnahme schwerverletzter Kinder aus Gaza eingesetzt. Die dafür nötigen medizinischen Kapazitäten stehen seit März 2024 bereit. Doch noch immer wehrt sich die Bundesregierung und insbesondere das zuständige Bundesinnenministerium (BMI) vehement gegen eine solche Aufnahme. In diesem Zusammenhang gab es mehrere Fragen auf der Regierungspressekonferenz nach den Gründen für diese Verweigerungshaltung. Das BMI tat sich sichtbar schwer, dies überzeugend zu begründen, und offenbarte zudem eklatante Wissenslücken. Von Florian Warweg.
Hintergrund
Seit März 2024 gibt es zahlreiche Initiativen, die vergeblich versuchen, schwerstverletzte palästinensische Kinder aus dem Gazastreifen für lebensrettende Maßnahmen nach Deutschland auszufliegen (die NachDenkSeiten berichteten hier und hier).
Doch egal ob SPD- oder CDU-geführt, das Bundesinnenministerium stoppt seit über anderthalb Jahren jeden dieser Versuche. Auch die aktuellste Initiative mehrerer Bundesländer, darunter Niedersachsen, Bremen und Nordrhein-Westfalen, hat sich in den vergangenen Wochen vergeblich für die medizinische Aufnahme schwerverletzter Kinder eingesetzt. In Niedersachsen wurde diese vom BMI hintertriebene Initiative auch von der dortigen jüdischen Gemeinde unterstützt.
Wie Hannovers Oberbürgermeister Belit Ona in einem Gastbeitrag für FOCUS am 30. Oktober 2025 darlegte, hatte die niedersächsische Landeshauptstadt alle organisatorischen und medizinischen Voraussetzungen geschaffen, um 20 schwerverletzte Kinder aus Gaza aufzunehmen. Auch die psychologische Betreuung traumatisierter Kinder war durch bereitgestellte spezialisierte Fachkräfte gewährleistet. Ebenso hatten sich schon Pflegefamilien bereiterklärt, die palästinensischen Kinder aufzunehmen „und ihnen in einer geschützten Umgebung ein Stück Geborgenheit zurückzugeben“, wie der OB weiter ausführte.
Doch die Bundesregierung gab auch dieser Initiative kein grünes Licht. Das Bundesinnenministerium begründet dies mit Verweis auf Sicherheitsbedenken, angebliche logistische Hürden und betont zudem, dass das Ziel bleibe, „dass die Hilfe vor Ort gestärkt und unterstützt wird“. Wer weiß, wie es aktuell nach der israelischen Kriegsführung um die medizinische Infrastruktur in Gaza für schwerverletzte Kinder bestellt ist, kann bei so einer Antwort nur mit dem Kopf schütteln.
UN-Angaben mit Stand 29. Oktober zufolge sind im Gazastreifen 22 von insgesamt 36 Krankhäuser nicht mehr funktionsfähig. Im Gouvernement Rafah (rund 200.000 Einwohner) gibt es laut den Vereinten Nationen kein einziges funktionierendes Krankenhaus mehr. Um sich eine Vorstellung des gigantischen Ausmaßes an Zerstörung machen zu können, sei auf die UN-verifizierte Zahl von 518 zerstörten Schulen verwiesen, das entspricht 91,6 Prozent aller im Gastreifen vor Kriegsbeginn registrierten Schulen. Die Zahl der verletzten Zivilisten beträgt nach aktuellem Stand 170.655 – darunter im Vergleich zu anderen Kriegsgebieten überproportional viele Kinder:
Déjà-Vu …
Bereits Anfang 2024 hatte die Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, Kerstin van Ark, innerhalb weniger Wochen Klinikbetten für schwerverletzte Kinder aus Gaza organisiert. 40 Chefärzte und Chirurgen in ganz Deutschland hatten sich bis März 2024 bereiterklärt, insgesamt 40 Kinder aufzunehmen und kostenlos zu behandeln. Für alle Kinder war ein Platz in einem deutschen Krankenhaus und die Kostenübernahme für Behandlung und Flug garantiert.
Die für die Rettungsflüge nach Deutschland ausgesuchten Kinder hatten, wie unter anderem die SZ im April 2024 berichtete, „so gravierende Verletzungen, dass es primär um lebensrettende Maßnahmen geht, etwa bei Verletzungen des Zwerchfells oder der Eingeweide“. Ein Großteil der Verletzungen war nach Darstellung von van Ark durch Explosionen entstanden, die sowohl zu Verbrennungswunden als auch zu ausgeprägten Schäden an Weichteilgeweben, inneren Organen oder zu Verletzungen der Gliedmaßen führen, bei denen nur noch bei zeitnaher Behandlung außerhalb von Gaza Arme und Beine gerettet werden könnten. Doch auch hier hatte die damalige Ampel-Regierung eine Aufnahme verhindert.
Viele andere europäische Länder nehmen schwerverletzte Kinder aus Gaza auf
Im Gegensatz zur deutschen Verweigerungshaltung hat die Schweiz erst kürzlich 20 schwerverletzte Kinder aus Gaza aufgenommen, die in Krankenhäusern in sechs Kantonen medizinisch versorgt werden. Diese humanitäre Aktion wurde in enger Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Schweizer Rettungsflugwacht Rega durchgeführt. Wie unter anderem die Berliner Zeitung berichtet, haben auch mehrere EU-Staaten wie Italien, Spanien und Frankreich wiederholt medizinische Evakuierungen durchgeführt und kriegsverletzte Minderjährige aus Gaza behandelt. Auch Norwegen und Großbritannien haben in den letzten Wochen schwerverletzte palästinensische Kinder einfliegen lassen.
Die sich sonst gegenüber der WHO so willfährig zeigende Bundesregierung ignoriert in diesem Zusammenhang auch den Appell der Weltgesundheitsorganisation, die angesichts der dramatischen medizinischen Lage im Gazastreifen an die Mitgliedsländer appelliert, weitere medizinische Aufnahmen von Kindern zu ermöglichen.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 29. Oktober 2025
Frage Eckstein (ARD-Hauptstadtstudio)
Jetzt kommt aus Nordrhein-Westfalen ein neuer Vorstoß, schwer verletzte Kinder auch aus Gaza aufzunehmen, um sie in Deutschland zu behandeln. Das kam dieses Mal vom Europaminister Herrn Liminski. Ich würde dazu gerne einmal nachfragen: Wie bewertet denn die Bundesregierung diesen Vorstoß aus Nordrhein-Westfalen? Da hieß es auch, man sei auf mögliche Behandlungen gut vorbereitet. Sehen Sie denn, dass es die Möglichkeit gäbe, jetzt Kinder aufzunehmen, auch angesichts der Waffenruhe, die fragil ist, aber immerhin doch noch besteht?
Vorsitzende Wefers
Ich schaue ein bisschen in die Runde, weil das so viele Ministerien sind.
Bowinkelmann (BMI)
Ich kann gerne anfangen. – Wir hatten das Thema „Aufnahme von Kindern aus Gaza zwecks medizinischer Behandlung“ schon vor dem erneuten Vorstoß jetzt aus NRW, vor allen Dingen aus Hannover. Unser Ziel bleibt zunächst, dass die Hilfe vor Ort gestärkt und unterstützt wird. Alle weiteren Maßnahmen, die angesprochen worden sind, hängen sehr von einer Lagebeurteilung vor Ort ab. Wie wir just gesehen haben, ist die Lage dort noch sehr fragil.
Wir haben alle möglichen Schritte geprüft, die gegebenenfalls eine Aufnahme von Kindern zur Behandlung hier ermöglichen. Wir haben in der Antwort an Hannover klar dargestellt, dass wir so weit wie möglich Hilfe leisten, dies vorrangig vor Ort, aber aufgrund der Lagebeurteilung und weiterer Komplexität des Themas derzeit nicht eine Aufnahme von Kindern vorsehen, wie gewünscht.
Zusatzfrage Eckstein
Das heißt, auch perspektivisch ist da jetzt erst einmal nichts angedacht, sondern Stand jetzt sagt die Bundesregierung: „Wir würden ein solches Begehren auch aus den Ländern nicht unterstützen“?
Bowinkelmann (BMI)
Stand jetzt ist der, den ich gerade genannt habe. Die Hilfe vor Ort wird gestärkt und erfolgt. Es ist natürlich immer eine Abwägung, inwieweit die direkte Hilfe vor Ort ermöglicht und geleistet wird, im Gegensatz zu einem sehr komplexen und aufwendigen Verfahren, das nötig wäre, um gegebenenfalls eine Hilfe über den Transport von Personen nach Deutschland und wieder zurück zu ermöglichen.
Frage Jung
Ich habe noch nicht ganz verstanden, warum man Kindern nicht helfen kann.
Bowinkelmann (BMI)
Das habe ich in keiner Weise gesagt, Herr Jung. Es wird vor allen Dingen vor Ort geholfen.
Frage Warweg
Herr Bowinkelmann, Sie haben jetzt mehrmals betont, dass man keine schwer verletzten palästinensischen Kinder nach Deutschland einfliegen will, mit Verweis darauf, dass der Fokus darauf liegt, das vor Ort zu machen. Auch Ihnen werden die Zahlen vorliegen, wie massiv der israelische Angriff in Gaza gerade auch die medizinische Infrastruktur plattgemacht hat, gerade was die Versorgung Schwerverletzter angeht. Deswegen würde mich interessieren, wie da der Informationsstand des BMI ist. Wie gut ist die Grundversorgung von schwer verletzten Kindern in Gaza noch machbar?
Bowinkelmann (BMI)
Ich habe versucht, deutlich zu machen, dass der Fokus nicht auf einer Versorgung direkt in Gaza vor Ort liegt – ich kann Ihnen seitens des BMI keine Beurteilung der medizinischen Versorgung zur Verfügung stellen -, sondern dass dies vor allen Dingen in Zusammenarbeit mit den Anrainerstaaten, den arabischen Staaten erfolgen muss. Dabei ist insbesondere auch die ägyptische Seite gefragt. In den Staaten um den Gazastreifen herum gibt es natürlich eine medizinische Versorgung, die wir auch unterstützen und aufbauen können. Diese Unterstützung wird gerade vorangetrieben und hochgefahren.
Zusatzfrage Warweg
Dieses Thema haben wir jetzt schon seit mehreren Monaten. Das BMI hat das bisher immer verweigert. Gleichzeitig haben das mehrere EU-Staaten ohne größere Probleme durchgeführt. Ich denke, es wird weiterhin der Fall sein, dass wir von Kindern sprechen, die begleitet werden müssen, und dass sich das BMI nicht gegen den Kindertransport an sich wehrt, sondern dagegen, dass Kinder durch Familienangehörige begleitet werden. Die Frage ist: Ist weiterhin der argumentative Hauptgrund, keine schwer verletzten Kinder aus Gaza einfliegen zu lassen, weil man befürchtet, dass die begleitenden Familienangehörigen irgendeinen der Bundesregierung nicht genehmen politischen Hintergrund haben?
Bowinkelmann (BMI)
Diese Unterstellung, die Ihre Frage, sofern es denn eine Frage war, –
Zusatz Warweg
Es war eine.
Bowinkelmann (BMI)
– beinhaltet, weise ich zurück.
Ich habe gerade auf die Komplexität einer möglichen Aufnahme hingewiesen. Ja, Kinder brauchen eine Begleitung. Die muss organisiert und geprüft werden. Überhaupt muss der Kontakt zu den Personen hergestellt werden. Es muss sichergestellt werden, dass der Transport sicher erfolgt. Das muss bei verletzten Personen natürlich auch zeitnah und schnell erfolgen. All das sind gegebenenfalls größere Hindernisse als eine medizinische Versorgung im direkten Umfeld der Betroffenen. Diese steht zur Abwägung. Das ist die Grundlage dieser Entscheidung.
Frage Jung
Herr Bowinkelmann, bezieht sich die Sicherheitsüberprüfung auf die Eltern der Kinder?
Bowinkelmann (BMI)
Es müssen nicht zwangsläufig Eltern sein, aber natürlich brauchen Kinder eine Begleitung. Gegebenenfalls muss diese Begleitung auch sicherheitsüberprüft werden.
Zusatzfrage Jung
Können Sie mal den Unterschied zu den Kindern aus der Ukraine erklären, die schwer verletzt aus ukrainischen Kriegsgebieten nach Deutschland gebracht wurden und hier behandelt werden konnten? Gab es da auch eine Sicherheitsüberprüfung für die Angehörigen, die die begleitet haben?
Bowinkelmann (BMI)
Das kann ich Ihnen jetzt im Detail nicht sagen.
Zusatz Jung
Das können Sie nachreichen.
Bowinkelmann (BMI)
Wenn es dazu etwas nachzureichen gibt, reiche ich das gerne nach. – Natürlich muss klargestellt werden, welche Personen begleiten. Das ist eine der notwendigen Maßnahmen für den hypothetischen Fall, den wir jetzt diskutieren, dass ein Transport von Kindern erfolgt.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 29.10.2025
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