Jenseits der Schlagzeilen – Die Trümmer von Gaza und ein neokoloniales Projekt

Jenseits der Schlagzeilen – Die Trümmer von Gaza und ein neokoloniales Projekt

Jenseits der Schlagzeilen – Die Trümmer von Gaza und ein neokoloniales Projekt

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

Sie „blicken nach vorn“, sie sprechen vom „Wiederaufbau von Gaza“ – aber ohne die Palästinenser einzubeziehen. Die scheinbaren „Siegermächte“ hinter Trump und Netanyahu haben, wenn sie „nach vorn“ blicken, nicht nur die unerschlossenen Gasfelder vor den Küsten von Syrien, Libanon und Gaza im Blick. Das angebliche Engagement für die Menschen in Gaza zielt auch auf die Kontrolle und Plünderung der gesamten Region. Von Karin Leukefeld.

Seit dem 15. Oktober findet die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington statt. Deutschland ist durch Finanzminister Lars Klingbeil und Reem Alabali Radovan, Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), vertreten.

Alabali Radovan werde als „deutsche Gouverneurin der Weltbank“ an der Sitzung des Entwicklungsausschusses teilnehmen, „dem zentralen Gremium der Tagung“, hieß es in einer Terminvorschau des BMZ für die 42. Kalenderwoche. Die „inhaltlichen Schwerpunkte“ seien „die Themen Jobs und Privatsektormobilisierung“. Sie werde sich mit afrikanischen Partnern treffen, auch über die Unterstützung der Ukraine solle gesprochen werde. Schließlich gehe es um „die Perspektiven für Nahost und die Rolle der Weltbank mit Blick auf Gaza“.

Perspektiven für Nahost

Der Nahe Osten, genauer gesagt Israel, ist ein zentrales Anliegen der Bundesregierung. In einer Erklärung vom 9. Oktober begrüßte die Entwicklungshilfeministerin den „vereinbarten Waffenstillstand“ als „sehr gute Nachricht“. Die israelischen Gefangenen aus dem Gazastreifen „sollen endlich freigelassen werden“, sie freue sich für deren Familien. Uneingeschränkt könne man jetzt die notleidende Zivilbevölkerung versorgen, „das Hungern in Gaza wird endlich ein Ende haben“, so die Ministerin.

Für den Wiederaufbau Gazas stehe Deutschland bereit, die Bundesregierung arbeite „Hand in Hand mit Außenminister (Johann) Wadephul“. Die Ministerin selbst habe bereits zahlreiche Gespräche in Ägypten, in den palästinensischen Gebieten, Jordanien und Saudi-Arabien geführt. Viele „weitere Gespräche zur Steuerung und Finanzierung des Wiederaufbaus stehen an – auch bei der Weltbank-Jahrestagung in Washington“.

Deutschland bietet Unterstützung für die Versorgung mit Wasser und Energie, Anlagen für die Lebensmittelherstellung, medizinische Versorgung und vorübergehend Unterkünfte an. „Dabei müssen wir immer die Zweistaatenlösung als Ziel im Blick behalten“, so Alabali Radovan.

Die „Zweistaatenlösung“ lehnt die israelische Netanyahu-Regierung explizit ab. Die israelische Knesset verabschiedete mehrheitlich Mitte Juli eine Resolution, in der ebenfalls die „Zweistaatenlösung“ abgelehnt wird. Wenige Tage später wurde von der Knesset in einer nicht bindenden Resolution auch die Annexion des von Israel besetzten Westjordanlandes gefordert.

In dem 20-Punkte-Plan von USA und Israel ist die Rede von einem „Friedensrat“, einer Schutztruppe und einer Art „Palästina-Verwaltung“ nach britischem Mandatsvorbild. Erst in Punkt 19 heißt es im Konjunktiv, wenn alle zuvor beschriebenen Maßnahmen funktionierten, könnten die Voraussetzungen für palästinensische Selbstbestimmung und ein Staatenwesen erreicht sein, wie es sich das palästinensische Volk erhoffe.

Bis dahin ist der – von Tony Blair vorgelegte – Plan, die 1919 installierte britische Mandatsverwaltung für Palästina wieder auferstehen zu lassen. Unter dem Namen „Gaza International Transitional Administration Authority (GITA)“ soll ein Gremium aus bis zu zehn Staaten entstehen, das mit einer Resolution des UN-Sicherheitsrates ausgestattet für zunächst drei Jahre die Kontrolle übernehmen soll.

Der Blair-Plan basiert auf dem als „Friedensplan“ von Donald Trump bezeichneten 20-Punkte-Plan und einem von Benjamin Netanyahu erstellten Nachkriegsplan, den er im Februar 2024 seiner Regierung vorgelegt hatte. Für Gaza ist darin kein Staat vorgesehen, sondern eher eine Art „Reservat“, das von lokalen ausgewählten Beamten verwaltet werden soll. Prominent sollen arabische Staaten in das Gremium eingebunden werden, um zu bezahlen und um deren Politik den Interessen des Westens und Israels anzupassen.

Deutschland bereit, „mit anzupacken“

Entwicklungshilfeministerin Alabali Radovan geht auf die israelische Weigerung, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, nicht ein. Vielmehr sei nun die Zeit, „Weichen zu stellen für den Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges, um den schwierigen Prozess für Frieden und Zusammenarbeit im Nahen Osten zu unterstützen“, heißt es in einer Erklärung am 13. Oktober. Deutschland stehe bereit, „mit anzupacken“. Die „notleidenden Menschen in Gaza“ werde man „mit schneller Hilfe unterstützen“, Übergangsunterkünfte stünden in Ramallah bereit, „die schnell nach Gaza gebracht werden können, sobald wir von den verantwortlichen Behörden Grünes Licht bekommen”. Deutschland arbeite mit „Partnern in Nahost, Europa und Amerika mit Hochdruck an den Vorbereitungen für die Konferenz für den Wiederaufbau, die in Ägypten stattfinden“ werde.

Mit „verantwortlichen Behörden“ meint die Ministerin die israelische Militärbehörde COGAT, die der Netanyahu-Regierung untersteht.

Seit dem Waffenstillstand (10.10.2025) hat die israelische Regierung lediglich zwei der sieben Grenzübergänge in den Gazastreifen – die übrigens jeweils einen arabischen und einen hebräischen Namen tragen – für den Transport von Hilfsgütern geöffnet.

Journalisten dürfen noch immer nicht in das Gebiet, es sei denn, sie fahren „eingebettet“ mit der israelischen Armee. Die schikanöse, einem militärischen Protokoll folgende Inspektion der Hilfspakete auf den Lastwagen durch Israel gibt es noch immer. Hilfsorganisationen verweisen auch darauf, dass Israel keine Lastwagen in den Norden des Gazastreifens fahren lässt und lediglich zwei Grenzübergänge im Süden geöffnet hat. Ein Grenzübergang ist Kerem Shalom, so die hebräische Bezeichnung oder Karem Abu Salam, wie es in Arabisch heißt. Der zweite Grenzübergang ist Al Auda (Arabisch)/Sufa (Hebräisch). Die Lastwagen mit den Hilfsgütern müssen eine mühsame Route vom Süden in den Norden durchfahren, durch Trümmerwüsten und über zerstörte Straßen. Oft werden sie von hilfsbedürftigen Menschenmassen so sehr umringt, dass sie nicht weiterfahren können und die Ladung – unkontrolliert – von den Menschen abgeräumt wird.

Der Sprecher der UN-Organisation für Kinder (UNICEF), James Elder, sagte Journalisten, was Israel tun müsse, sei „ganz einfach“. Es müsse „fünf oder sechs Grenzübergänge öffnen“, sodass täglich bis zu 1.000 Lastwagen auf verschiedenen Routen in das Palästinensergebiet fahren könnten. Das UN-Hilfswerk für die Unterstützung der palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA) fordert, alle Grenzübergänge zu öffnen. Nur so könne eine stetige Lieferung von humanitärer Hilfe zu den 2,1 Millionen Menschen im Küstengebiet gelangen.

Korrespondenten der spanischen Tageszeitung El Pais berichteten am vergangenen Montag, dass noch immer lange Schlangen von Lastwagen mit Hilfsgütern in Ägypten vor dem von Israel zerstörten und besetzten Grenzübergang Rafah auf Durchfahrt warteten. 400 Lastwagen mit Hilfsgütern des ägyptischen Roten Halbmonds hätten am Freitag den Küstenstreifen erreicht, 50 weitere Lastwagen mit Benzin konnten ebenfalls am Freitag die Grenze passieren. Auch Fahrzeuge des Welternährungsprogramms (WFP) und anderer humanitärer Organisationen hätten Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen können.

Nach dem Abkommen sollen in der ersten Phase täglich (!) 600 Lastwagen mit Hilfsgütern und 50 Lastwagen mit Benzin nach Gaza fahren können. Danach soll die tägliche Lastwagenzahl erhöht werden. Doch humanitäre Helfer sind sich sicher, dass die Hilfsgüter nicht reichen werden. Die erklärte Hungersnot im Norden von Gaza und 2,1 Millionen Menschen, die in großer Armut leben, benötigen mehr als Milchpulver, Wasser, Reis und Linsen.

Wadephul: Dafür sorgen, dass Ordnung hineinkommt

Die Bundesregierung, die nach eigenen Angaben einen intensiven Gesprächskontakt zur Netanyahu-Regierung hat, könnte auf die israelische Regierung einwirken, um die dringend benötigte schnelle Hilfe zu beschleunigen. Allerdings stehen für das politische Berlin, für Entwicklungsministerin Alabali Radovan und Außenminister Johann Wadephul die Absprachen auf Konferenzen für den Wiederaufbau im Vordergrund.

Eine solche Konferenz solle mit Ägypten organisiert werden, so Wadephul im ARD-Fernsehen, man werde Geberländer einladen und „einfach ganz praktisch“ darüber reden, wie man das Land wieder aufbauen könne. „Wie kann man Häuser errichten, am Anfang natürlich Krankenhausinfrastruktur, Wasserleitungen, alles das, was man braucht, Elektrizität, um dort leben zu können.“ „Geberländer“ sind Staaten, die Finanzierung der geplanten Wiederaufbaumaßnahmen zusagen sollen. Aber dann müsse „der politische Prozess beginnen“, so der deutsche Außenminister weiter. „Wir müssen dafür sorgen, dass Ordnung hineinkommt, dass verwaltet wird und dass Sicherheit hergestellt wird.“

Wadephul fordert darüber hinaus eine UN-Sicherheitsratsresolution, in der es um die Schaffung eines rechtssicheren Raums für eine Schutztruppe für Gaza gehen müsse. China und Russland müssten zustimmen. Die Hamas müsse entwaffnet werden und dürfe keinen politischen Einfluss mehr haben, so Wadephul. Die Palästinenser müssten sich von der Organisation lossagen. Das kommt den Vorstellungen von Netanyahu, Trump und Blair geradezu wortgleich entgegen.

Erfolgreiche Wirtschaft weltweit

Für die Bundesregierung scheint die Entwicklung um den Gazastreifen eine großartige Gelegenheit zu sein, ihren „Aktionsplan für Wirtschaft und Entwicklung“ umzusetzen, der vom BMZ am 7. Oktober 2025 im Rahmen der Veranstaltung „Starke Partnerschaften für eine erfolgreiche Wirtschaft weltweit“ vorgestellt wurde.

Dort hatte Ministerin Alabali Radovan erklärt, ihr Ministerium wolle „die deutsche Wirtschaft enger“ in die entwicklungspolitische Arbeit einbinden. Gemeinsam sollten nachhaltiges Wachstum und faire Partnerschaften weltweit gefördert werden. Eingeladen waren Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, „um (über) die wirtschaftlichen Chancen und Herausforderungen von Partnerschaften mit Ländern des Globalen Südens zu diskutieren“. Deutschlands Stärke beruhe auf Handel und Export, die Wirtschaftsbeziehungen sollten „breiter aufgestellt“ werden. „Deutschland braucht starke Partner weltweit – und der Globale Süden braucht faire Chancen“, so die Ministerin. Tatsächlich kann Deutschland Erfahrungen und Kenntnis vorweisen, wie Kriege, Krisen und Fluchtbewegungen als „Chance“ gewendet werden können. Motto ist die „humanitäre Hilfe“ und die „Wahrung von Menschenrechten verletzlicher (vulnerabler) Bevölkerungsgruppen“. Man spricht auch vom Einsatz von „Soft Power“.

Dieses „humanitäre“ Engagement entspricht in keiner Weise dem außenpolitischen Verhalten bundesdeutscher Regierungen, die gegenüber eben jenen Ländern, in denen Krisen und Kriege Menschen vertreiben, den nötigen Dialog blockiert und Konflikte verschärft, Sanktionen verhängt oder regierungsfeindliche Bewegungen unterstützt. Jüngstes Beispiel ist der Krieg in Syrien für den Sturz der Regierung von Bashar al Assad, wo heute ein langjähriger Al-Qaida-Anführer von der „freien Welt“ zum Interimspräsidenten gekürt wurde.

Mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) versorgt Deutschland in der Türkei, Syrien, Irak, Jordanien und Libanon Menschen, die vor dem Syrien-Krieg und der Gewalt des „Islamischen Staates im Irak und in der Levante“ fliehen mussten. Finanziert werden staatliche und private Hilfsorganisationen in Flüchtlingslagern im türkisch-syrischen Grenzgebiet Idlib, Aleppo und auf türkischem Territorium bis heute.

Deutschland unterstützt den Wiederaufbau der nordirakischen Stadt Mossul.

In der jordanischen Wüste wurde (2012) das Flüchtlingslager Zaatari für syrische Flüchtlinge errichtet und mit Solarenergie und einer Wasseraufbereitungsanlage ausgestattet. Bis heute leben Syrer in dem Lager, das zu einer Kleinstadt geworden ist.

Die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ ist in Jordanien im Bereich der Müllentsorgung, Wasserwirtschaft, Bildung und Ausbildung aktiv.

Für die palästinensischen Gebiete (Ostjerusalem, Westjordanland, Gaza) stellte die Bundesregierung seit dem 7. Oktober 2023 mehr als 375 Millionen Euro zur Verfügung. Nach dem Waffenstillstand, der am 10. Oktober 2025 begann, kündigte die Bundesregierung zusätzliche 29 Millionen Euro für die Gaza-Hilfe an.

Beim Wiederaufbau in Gaza sind nicht die Palästinenser die „starken Partner“, sondern es sind die arabischen Golfstaaten, allen voran Katar, die finanziell erheblich zum Wiederaufbau beitragen sollen. Bundeskanzler Merz traf im ägyptischen Scharm al-Sheikh mit dem Emir von Katar zusammen, Einzelheiten des Treffens wurden nicht bekannt. Gegenüber der Presse erklärte Merz, Deutschland werde „seinen Beitrag leisten, und wir sehen vor allem die humanitäre Verpflichtung, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen alles tun, damit die Menschen, die dort immer noch leben, ausreichend mit medizinischer Versorgung ausgestattet werden und dass sie vor allen Dingen ein Dach über dem Kopf bekommen, dass sie Wasser bekommen, dass sie medizinische Hilfe bekommen, wo immer das möglich ist“.

„Die Bundesrepublik Deutschland und die Bundesregierung stehen an der Seite Israels“, so Merz weiter. „Das war immer so, und das wird auch immer so bleiben. Gerade deshalb bieten wir auch an, dabei mitzuhelfen, in der Region jetzt alle Voraussetzungen zu schaffen, damit es eine dauerhafte Friedenslösung geben kann.“

Die Kosten des Krieges

Kein Wort verlor Bundeskanzler Merz über die Mitverantwortung für den Krieg, der Gaza weitgehend dem Erdboden gleichmachte. Seit dem 7. Oktober 2023 lieferte Deutschland Waffen und Rüstungsgüter im Wert von knapp 500 Millionen Euro. Die Nachrichtenagentur dpa berichtete unter Berufung auf die Antwort des Außenministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, dass seit dem 7. Oktober 2023 bis zum 13. Mai 2025 konkret „Waffenexporte an Israel im Wert von 485,1 Millionen Euro“ genehmigt wurden. Es ist davon auszugehen, dass die Rüstungsgüter in allen sieben Kriegen Israels zum Einsatz kamen: Gaza, Westjordanland, Libanon, Jemen, Syrien, Irak und Iran. Nach Angaben der Parlamentsnachrichten des Deutschen Bundestages umfassten die Lieferungen „unter anderem Feuerwaffen, Munition, Waffenteile, spezielle Ausrüstung für Heer und Marine, elektronische Ausrüstung sowie Spezialpanzer“.

Bundeskanzler Merz hatte in Scharm al-Scheikh offenbar auch vergessen, dass er dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu vor laufender Kamera – im Juni 2025, während des israelischen Angriffs auf Iran – dafür dankte, dass dieser „die Drecksarbeit für uns alle erledigt“.

Am 1. Oktober wurde bekannt, dass die Bundesregierung die Lieferung von Rüstungsgütern an Israel – die teilweise am 8. August ausgesetzt worden war – wieder aufgenommen hatte. Das ging aus der Antwort einer Anfrage der Linksfraktion an die Bundesregierung hervor.

Auf palästinensischer Seite listen sich die Kosten des Krieges ebenfalls auf, wie UN-Statistiken und andere Quellen berichten. Mehr als 67.000 Menschen wurden getötet, mehr als 170.000 wurden verletzt. Tausende Leichen befinden sich noch unter den Trümmern, Zehntausende werden an den Folgen ihrer Verletzungen und an Krankheiten sterben. Durch israelische Bombardierung sind 92 Prozent aller Wohngebäude im Gazastreifen ganz oder teilweise zerstört. Mehr als 2.300 Bildungseinrichtungen, darunter 63 Universitätsgebäude, wurden zerstört. 658.000 Schulkinder und 87.000 Studierende konnten seit zwei Jahren nicht unterrichtet werden. Mindestens 780 Lehrer und Professoren wurden getötet.

125 Krankenhäuser und Kliniken wurden ganz oder teilweise zerstört, 1.722 Krankenpfleger und medizinisches Personal wurden getötet. Mindestens 2.600 Menschen wurden getötet bei dem Versuch, Nahrungsmittel für ihre Familien zu finden, mehr als 19.000 wurden dabei verletzt. 89 Prozent der Wasser- und Sanitäranlagen in Gaza wurden ganz oder teilweise zerstört. 88 Prozent aller Werkstätten und Geschäfte wurden zerstört. 62 Prozent der Bewohner des Gazastreifens haben ihre Besitzurkunden für Land und Häuser verloren.

Bis zu 270 Journalisten, Kameraleute und Medienpersonal wurden getötet. Am 12. Oktober wurde in Gaza Stadt der Journalist Saleh Aljafarawi gezielt von bewaffneten Milizen erschossen, die im Sold Israels standen. Aljafarawi hatte zuletzt Berichte und Bilder von Menschen geschickt, die in den Trümmern den Waffenstillstand feierten. Ein Foto zeigt ihn mit Kindern, die aus dem Wrack eines ausgebrannten Fahrzeugs lachen.

Krieg gegen die UNRWA

Die Scholz-Regierung hat die Zahlungen an das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) im Januar 2024 ausgesetzt. Angeblich sollten Mitarbeiter des Hilfswerks Kämpfer der Hamas gewesen sein, hatte die israelische Regierung behauptet.

Ende April 2024 nahm die Bundesregierung die Zahlungen an die UNRWA wieder auf, weil eine UN-Untersuchung ergeben hatte, dass sich die Vorwürfe nicht bestätigen ließen. Für die durch die Aussetzung der Zahlungen entstandene Behinderung der UNRWA-Arbeit im Gazastreifen sowie bei den tausenden UNRWA-Mitarbeitern, die von Israel unter Generalverdacht gestellt worden waren, entschuldigte sich niemand.

Die israelische Knesset erklärte die UNRWA zur „Terrororganisation“ und verwies sie des Landes. Das Hauptquartier der Organisation in Ostjerusalem wurde im Mai 2024 zwei Mal von bewaffneten Israelis in Brand gesetzt. Die UNRWA schloss daraufhin aus Sicherheitsgründen die Büroräume.

Die Verantwortung für den Krieg

Das in Sachen UNRWA Beschriebene ist nur ein Ausschnitt der israelischen Angriffe auf UN-Einrichtungen und der Tötung von UN-Personal im Zuge des jüngsten Gaza-Krieges.

Es ist erstaunlich, dass weder die politisch Verantwortlichen (nicht nur) in Deutschland noch die Medien die Frage nach der eigenen Mitverantwortung für die Verwüstung stellen, die nun wieder weggeräumt werden soll.

Die weitgehend übereinstimmende Darstellung (Neudeutsch: Narrativ) seit Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 ist, dass die Hamas und die palästinensischen Organisationen für den Krieg verantwortlich seien, weil sie mit dem Angriff am 7. Oktober 2023 „angefangen“ und den Krieg ausgelöst hätten. Israel bezeichnete seine Reaktion umgehend als „Selbstverteidigung“. Israel müsse sich „gegen den Terror der Hamas“ verteidigen, wie einst die USA nach dem 11. September 2001, so Netanyahu. Die westlichen Verbündeten Israels, auch die damalige Bundesregierung unter Olaf Scholz, stimmten zu, die Bundesregierung wurde – wie bereits beschrieben – zum zweitgrößten Waffenlieferanten an Israel nach den USA.

Als „Verteidigung“ kam der Krieg ohne Zweifel zu spät und Krieg gegen die Hamas führt Israel mindestens seit 2007. Damals hatte Israel die Hamas zur „Terrororganisation“ erklärt und riegelte den Gaza-Streifen, wo die Hamas nach den Wahlen 2006 die Regierung führte, hermetisch am Boden, aus der Luft und vom Meer her ab. Es folgten die Kriege 2008/09, 2012, 2014, 2021. Die Palästinenser reagierten auf die Abriegelung mit dem Bau von Tunneln, die als „Luftröhre“ ins Ausland führten und durch die Waren nach Gaza kamen – sogar Jungvieh –, um die Wirtschaft in dem Küstenstreifen aufrechtzuerhalten.

Die Waffenproduktion der Hamas wurde durch die Tunnel vermutlich genährt, vor allem aber nutzten die „Rüstungsschmieden“ im Gazastreifen alte Waffen, die aus vorherigen Kriegen von Israel zurückgeblieben waren. Es gab seitens westlicher Staaten keinerlei politische Anstrengung, das Oslo-Abkommen umzusetzen oder einen ernsthaften bilateralen Dialog einzuleiten und die Rechte der Palästinenser gegenüber der israelischen Besatzungsmacht einzufordern. Die Abriegelung des Gebiets seit 2007 bis heute verstößt gegen das internationale Recht.

Innerpalästinensische politische Differenzen wurden vom Ausland dadurch verschärft, dass auch in Europa und den USA die Hamas zur „Terrororganisation“ erklärt und durch Sanktionen isoliert und wirtschaftlich geschwächt wurde. Die palästinensische Autonomiebehörde wurde durch Geldzahlungen dazu gebracht, sich von der Hamas fernzuhalten. Europäische und internationale „Vermittler“ kritisierten den fortgesetzten illegalen Siedlungsbau Israels im besetzten Westjordanland. Doch niemand stellte die wirtschaftliche, politische und militärische Kooperation mit Israel infrage. Als „einzige Demokratie“ in der Region erhielt Israel selbst in Sport und Kultur eine Art EU-Status, herausragend war und ist die militärische Kooperation Israels mit den USA und der NATO. Das betrifft nicht nur die militärische Kooperation, sondern auch die Kooperation der Geheimdienste. Und, nicht zu vergessen, die Entwicklung neuer Waffen- und Überwachungssysteme im Rahmen von EU-Programmen.

EU-Staaten, auch Deutschland, kaufen von Israel Waffen wie Drohnen, Luftabwehrsysteme und Waffensysteme mit Künstlicher Intelligenz. Nicht zu vergessen Spionagesoftware wie Pegasus, die in Mobiltelefonen und digitaler Kommunikation eingesetzt wird. Alle israelischen Überwachungs-, Kontroll- und Waffensysteme tragen ein mörderisches Gütesiegel: getestet im Krieg gegen Palästinenser. So wirbt das israelische Rüstungsunternehmen Elbit Systems selber für seine Waffen.

All das und viel mehr meinte UN-Generalsekretär Antonio Guterres mit dem Satz, die Angriffe der Palästinenserorganisationen seien „nicht im luftleeren Raum erfolgt“. Seit 56 Jahren litten die Palästinenser unter „erstickender Besatzung“. Der israelische Außenminister Eli Cohen forderte daraufhin den Rücktritt des UN-Generalsekretärs.

Das neo-koloniale Projekt

Zwei Jahre später versammelt US-Präsident Donald Trump zahlreiche Regierungschefs um sich in Scharm al-Scheikh, um das „großartige Abkommen“ zu unterzeichnen, das – so Trump – einen „3000 Jahre währenden Krieg“ beendet habe. Trump, wie Netanyahu und vermutlich die meisten der Politiker, die sich zu dem bizarren „Familienfoto mit Dame“ – die Dame ist die EU-Außenbeauftrage Kaja Kallas – in dem ägyptischen Badeort aufgestellt haben, weisen jede Verantwortung für das Unrecht an den Palästinensern, für die Verwüstung des Gazastreifens, für die israelischen Angriffe auf das Westjordanland und auf den Libanon, Syrien, Jemen, Irak und Iran von sich.

Sie „blicken nach vorn“, sprechen vom „Wiederaufbau von Gaza“, ohne die Palästinenser einzubeziehen. Es geht um Geschäfte, die sich nur machen lassen, wenn man sich – im wahrsten Sinne des Wortes – hinter Trump und auch hinter Netanyahu stellt. Die scheinbaren „Siegermächte“ hinter Trump und Netanyahu haben, wenn sie „nach vorn“ blicken, nicht nur die unerschlossenen Gasfelder vor den Küsten von Syrien, Libanon und Gaza im Blick. Das scheinbare Engagement für die Menschen in Gaza richtet sich auf die Kontrolle und Plünderung der gesamten Region mit Hilfe einer Internationalen Übergangsbehörde, die mit einer UN-Sicherheitsratsresolution autorisiert werden soll.

Dieses neo-koloniale Projekt des politischen Westens basiert auf der britisch-französischen Aufteilung der Region durch Sykes-Picot (1916) und die britische Balfour-Deklaration (1917), die der zionistischen Bewegung die Gründung eines Staates zusagte. Die Förderung und Absicherung dieser „Jüdischen Heimstatt in Palästina“ wurde 1920 durch den Völkerbund autorisiert und der damaligen Mandatsmacht Großbritannien übertragen. Nach mehr als 100 Jahren Krieg gegen die ursprüngliche Bevölkerung der Region soll aus den Trümmern Palästinas nun „Groß-Israel“ erstehen.

Komplizen zur Rechenschaft ziehen

Weltweit weisen mutige Stimmen – trotz Diffamierung und Kriminalisierung – auf die Verantwortung hin, die Israel, die USA, NATO- und EU-Staaten – auch Deutschland – sowie internationale Unternehmen an dem Völkermord in Gaza tragen. An vielen Tagen haben sich Staaten und Unternehmen der westlichen Welt zu Komplizen des Vernichtungskrieges gemacht und müssen damit rechnen, neben Israel vor den Internationalen Strafgerichtshof geladen zu werden. Dort läuft ein von Südafrika angestrengtes Verfahren wegen des Verdachts auf Völkermord, das von mindestens zehn Staaten unterstützt wird. Die USA drohen Südafrika und dem Gericht und haben Sanktionen gegen Richter verhängt, die mit dem Fall befasst sind.

Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, veröffentlichte den Bericht „Von der Ökonomie der Besatzung zur Ökonomie des Völkermordes“, in dem internationale Großunternehmen gelistet werden, die von Besatzung und Krieg profitierten. Die USA setzte Albanese auf die Sanktionsliste.

30 Staaten haben sich in der „Haag Gruppe“ zusammengeschlossen, um dem internationalen Recht zum Durchbruch zu verhelfen und dafür zu sorgen, dass es nicht mehr als „optional“ gilt, sondern verpflichtend angewendet werden muss.

Ein Zusammenschluss von Rechtsanwälten aus Frankreich und Belgien hat Klage gegen die EU-Kommission und den EU-Rat eingereicht. Sie werfen den EU-Institutionen vor, „nichts gegen den Völkermord in Gaza“ unternommen zu haben.

Schließlich stellt auch die israelische Tageszeitung Haaretz die zentrale Frage, die mit dem Anfang des Krieges am 7. Oktober 2023 zu tun hat. Warum haben die israelische Regierung, Armee, Sicherheitsbehörden die Warnungen ihrer eigenen Aufklärungseinheiten am Sicherheitszaun entlang des östlichen Gazastreifens ignoriert, anstatt ihnen nachzugehen? Soldatinnen, die als „Späher“ dort eingesetzt waren, berichteten schon in der Nacht zum 7. Oktober – bevor die palästinensischen Kämpfer den Sicherheitszaun überwanden – über „ungewöhnliche Aktivitäten“ der Hamas in Gaza.

Titelbild: Andy.LIU / Shutterstock